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Es war eine gewaltige Herde, die nach Kansas zu den Verladebahnhöfen aufbrach. Die Herde füllte fast die gesamte Ebene aus. Sie war so groß, dass man nur auf einer großen Anhöhe die Tiere überblicken konnte. Es waren fast siebzig Maverickjäger notwendig, um solch eine Herde zu führen. Nur eine kleine Notbesatzung sowie Stella Slater waren auf der Blue-Lodge-Ranch zurückgeblieben. Dreißig Mann hatte Jeremy Slater zusätzlich von benachbarten Farmen angeheuert. Wenn sie die Verladebahnhöfe erreichten, dann wäre der Besitzer der Blue-Lodge-Ranch einer der reichsten Männer auf dem Kontinent. Er hatte die Zeichen der Zeit erkannt und auf das richtige Pferd gesetzt. Angetrieben wurde die Herde von mehreren mächtigen Leittieren. Es waren Longhorns, denen die Tiere besonders willig folgten. Mit ihren gewaltigen Schädeln und langen Hörnern führten sie die Herde voran. Slaters Longhorns waren fast so groß wie ein ausgewachsener Büffel. Man musste höllisch aufpassen, dass die Tiere nicht in eine Stampede versetzt wurden.

Der Cowboy ritt mit seinen Gefährten neben der Herde, immer darauf bedacht, dass keines der Tiere ausbrach. Die Reittiere waren gut ausgebildete Rinderpferde, mit denen man die harte Herden- und Lassoarbeit verrichten konnte. Die Tiere waren an Rinder gewöhnt und würden auch nicht vor einem wilden Stier zurückweichen. Die Zeit verging wie im Flug. Das Treiben war harte Arbeit und erforderte viel Aufmerksamkeit und Fingerspitzengefühl. Man musste förmlich eins werden mit der großen Herde.

Sie machten auf ihrem Weg nach Kansas nur wenig Halt. Es zog Jeremy Slater wie ein Magnet, der sein passendes Gegenstück sucht, in die Großstadt. Er wollte unbedingt das Geschäft seines Lebens machen. Beim Mittagessen trafen er und der Cowboy kurz aufeinander – mit siebzig Mann konnte man schon fast von einem eigenen Heereslager sprechen.

»Irgendwelche Spuren von dem großen Wolf?«, erkundigte sich der Cowboy, während sie ihre Essensschalen an einem kleinen Creek wuschen.

Slater spie seinen Kautabak ins Wasser. »Nein. Morgan Elroy hat nichts Außergewöhnliches entdeckt.«

»Mmmh …«

»Vielleicht lässt sie uns in Ruhe. Ich glaube kaum, dass sie es mit siebzig gut bewaffneten Männern aufnehmen würde.«

»Ich traue dieser Xanthippe nicht! Vielleicht ist das hier nur die Ruhe vor dem Sturm.«

»Ich mache drei Kreuze, wenn wir in Kansas sind«, erwiderte Slater und erhob sich vom Boden.

»Yeah!«

Dann waren sie schon wieder unterwegs. Eines der Longhorns hob wie auf Befehl seinen gewaltigen Schädel und brüllte in den Himmel – so, als ob es das Zeichen wäre, weiterzumarschieren.

Die nächsten Tage waren für den Cowboy eine der anstrengendsten Zeiten seines Lebens. Von morgens bis abends trieben sie die Herde an. Alles andere wurde zur Nebensache. Die Herde musste nach Kansas! Die meiste Zeit des Tages, mehr als zehn Stunden, verbrachte er im Sattel. Sein Hintern hatte mittlerweile so viel Hornhaut entwickelt, dass er die Schmerzen nur noch als eine Art dumpfes Drücken wahrnahm. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Hinterteil förmlich mit dem Sattel verwachsen.

Die Landschaft rauschte langsam an ihm vorbei, ohne dass er wirklich Notiz davon nahm. Sie durchquerten enge Canyons, sodass die Herde sich in die Länge zog wie eine Schlange, als sie den tunnelartigen Durchgang passierten.

Am vierten Tag ihrer Reise nach Kansas schlugen sie ihr Lager im Schatten einiger Hickorybäume auf. Die Sonne versank als rote Scheibe am Horizont. Die Schatten der Bäume waren lang gezogene Schemen, die eine verheißungsvolle Abkühlung von der gleißenden Tageshitze versprachen.

Der Koch der Blue-Lodge-Ranch bereitete eine warme Mahlzeit am Küchenwagen vor, während er lautstark ein mexikanisches Lied anstimmte. Einige Männer stammten aus Mexiko und grölten lautstark bei einigen Strophen. Das Lied war allem Anschein nach nicht jugendfrei und eher von versauter Natur. Innerhalb kürzester Zeit stieg das saftige Aroma von gebratenem Fleisch in die Luft und ließ den Mund des Cowboys wässrig werden. Er konnte langsam aber sicher die staubtrockenen Biskuits nicht mehr essen, die sie rationsweise bekamen. Ein Mann wie er brauchte Fleisch, um nicht von den Knochen zu fallen.

Der Cowboy spürte einen Druck auf der Blase und sah sich nach einem geeigneten Fleck um, wo er sich erleichtern konnte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie auch Morgan Elroy zwischen den Bäumen verschwand – höchstwahrscheinlich, um die nähere Umgebung auszukundschaften. Der Cowboy stimmte in Anlehnung an den Koch ein eigenes versautes Lied an und stiefelte Richtung der Bäume.

Und die Beate, die mag Bananen,

für was, das konnte keiner ahnen.

Und in einem feuchten Traume

steckt sie das Teil in ihre feuchte Pflaume.

»Was ist das für eine Sprache?«, wollte einer der Männer wissen, der ihm aus dem Wald entgegenkam. Anscheinend war er nicht der Einzige, dem die Blase drückte.

»Das kommt aus meiner Heimat. Ich bin ein Allemann!«

»Das klingt echt unheimlich! Du machst einem Angst.«

»Hehehe … du hast mich noch nicht fluchen gehört, Kumpel!« Mit einem Grinsen im Gesicht betrat der Cowboy das Waldstück. Ein Pfad, der von schweren Wagenrädern zerfurcht war, führte wie eine Schneise durch die Bäume und nahm dem Cowboy die Illusion von einem Stück unberührter Natur. Sie waren offensichtlich nicht die ersten Reisenden, die hierher gekommen waren. Wahrscheinlich befand sich dort ein Dorf hinter den Wäldern. Der Cowboy erleichterte sich fröhlich singend an einem alten Baumstamm. Die Rinde knisterte unter dem Strahl des Westmannes.

Sein Blick folgte dem Pfad, der in nördliche Richtung führte. Der Wald war nicht groß, denn er konnte in der Ferne die Prärie zwischen den Baumstämmen sehen. Bis zum Essen würde es noch gut und gerne eine halbe Stunde dauern. Es würde nicht schaden, sich bis dahin ein wenig die Beine zu vertreten und Gefühl in sein Hinterteil zu bekommen. Er überlegte, ob es eine gute Idee wäre – schließlich könnte hinter jeder Ecke ein großer weißer Wolf lauern, der mit ihm noch eine Rechnung offen hatte. Da er aber gesehen hatte, dass der Pawnee denselben Weg benutzte, was bedeutete, dass es hier draußen relativ sicher war, folgte er ihm.

Nach etwa zehn Minuten lichteten sich die Bäume und machten einem Canyon Platz, den man außerhalb des Waldes gar nicht gesehen oder vermutet hätte. Zu beiden Seiten erhoben sich Felsen in die Höhe und bildeten eine natürliche Passage. Die Hänge der Hügel waren mit saftig grünen Wiesen bewachsen, die einen starken Kontrast zur öden Kansas-Prärie bildeten. Der Grund dafür war ein Bachlauf, der über das Gestein floss und kopfüber in den Canyon stürzte. Das Land war hier sehr fruchtbar. Der Wind im Canyon war angenehm kühl, sodass der Cowboy seinen Hut abnahm. Sein Haar war feucht und fettig. Es tat gut, sich des Hutes zu entledigen und den Wind in den Haaren zu spüren. Er schloss die Augen, während er tief einatmete. Die Luft war geschwängert von würzigem Mulch- und Wiesenduft. Für einen kurzen Augenblick zog er in Erwägung, sich gegen einen Felsen zu lehnen, die Stiefel auszuziehen und ein kleines Nickerchen zu machen. Die Versuchung war groß. Doch sein Magen erinnerte ihn daran, dass es bald Essen gab und die Männer ihn suchen würden, wenn er nicht rechtzeitig ins Camp zurückkehrte.

»Ein paar Minuten habe ich noch«, sagte er zu sich selbst, schritt durch den Canyon und ließ die Landschaft auf sich wirken. Die Passage war nicht lang und schon nach fünf Minuten war er am anderen Ende der Schlucht angelangt. Vor ihm stoben einige Vögel in die Höhe.

Der Canyon führte in ein kleines Tal, das zu beiden Seiten von Hickory-Bäumen zugewuchert war. Eine Wiese, in demselben saftigen Grünton wie die Hänge der Schlucht, erstreckte sich wie ein ausgebreitetes Tuch bis zur Waldgrenze. Doch die Aufmerksamkeit des Cowboys war auf das Gebäude gerichtet, das sich inmitten des Tales erhob.

»Fuck!«, entfuhr es ihm, denn das, was er sah, entbehrte jeglicher Logik.

»Was ist das?«, fragte eine Stimme hinter ihm. Erschrocken wirbelte er herum. Instinktiv fuhr seine Hand zum Kolben seines Revolvers. Rechts neben dem Canyonschlund löste sich ein Schatten aus dem Felsen. Es war Morgan Elroy.

»O Mann, hast du mich erschreckt!«, rief der Cowboy und fasste sich theatralisch an die Seite seines Herzens. »Puuuhh!«

Die Haut des Pawnees war von einem dünnen Schweißfilm überzogen; an den Schulterblättern schälte sie sich in kleinen Fetzen. Der Indianer nickte in Richtung des Tempels. »So etwas habe ich noch nie gesehen!«, staunte er.

»Ich auch nicht … äääh, doch, ich meine schon, aber nicht hier im Wilden Westen«, erwiderte der Cowboy und setzte seinen Hut auf. »Das ist ja schräg!«

Vor ihnen im Tal lag ein griechischer Tempel. Jedenfalls war das die erste Assoziation, die der Cowboy hatte, als er das Gebäude betrachtete. Der Kalkstein leuchtete blutrot im letzten Licht der Abendsonne. »Das gibt es doch gar nicht!«, raunte der Cowboy. Ohne auf den Pawnee zu achten, lief er auf die antike Anlage zu.

Der Tempel war auf einem viereckigen Fundament errichtet. Treppenstufen führten zu einem Vorbau, dessen Flachdach von sechs grazilen Säulen gestützt wurde. Die Säulen waren allesamt mit kunstvollen Reliefarbeiten verziert. Von seiner jetzigen Position aus konnte der Cowboy keine Einzelheiten erkennen, er vermutete aber, dass entweder Tiergesichter oder das Antlitz irgendwelcher mythischen Geschöpfe in dem Stein verewigt waren. Die Überreste einer eingestürzten Mauer liefen um das Gebäude herum. Das Mauerwerk war an vielen Stellen eingestürzt, sodass große Löcher klafften, die im Laufe der Zeit von Büschen überwuchert worden waren.

Der Tempel war groß – jetzt, wo der Cowboy davorstand, spürte er das Bauwerk über sich aufragen wie ein steinernes Ungetüm. Und aus der Nähe bestätigte sich seine Vermutung. Von den Säulen grinsten lachende Dämonenfratzen mit herausgestreckten Zungen auf ihn herunter.

»Dieser Ort … ist böse!«, flüsterte der Pawnee und nahm seinen Langbogen von den Schultern. »Spürst du es, Allemann?«

Der Cowboy nickte. Sein Blick glitt über die Stufen, die fein säuberlich in perfekter Symmetrie aus Kalkstein gehauen waren, hinauf zu den Säulen, hinter denen sich der Eingangsbereich des Tempels befand.

Was machte ein Bauwerk, das seinen Ursprung offensichtlich in der Antike hatte, hier im Wilden Westen? Waren sie auf Hekates geheimen Rückzugsort gestoßen? Irgendwie machte das keinen Sinn – Hekate war schwer verletzt auf diese Welt geflüchtet. Sie war nicht aus freiem Willen hierher gegangen. Dieses Bauwerk war alt, verdammt alt. Den Cowboy hätte es nicht gewundert, wenn es zu einer Zeit entstanden war, als dieser Homer seine Odyssee geschrieben hatte. Ein Buch, von dem er ein paar Seiten gelesen und es dann weggeworfen hatte.

»Willst du da wirklich rein?«, fragte Morgan Elroy, als der Cowboy die Stufen zum Vorbau emporschritt.

»Ja, ich will mir das näher anschauen«, erwiderte er. »Dieser Tempel gehört hier nicht hin.«

»Ein Tempel?«, echote der Indianer.

»Sieht jedenfalls so aus.« Ohne den Pawnee weiter zu beachten, bestieg der Cowboy die Stufen. Er löste den Revolver aus seinem Halfter und spannte den Hahn durch. Er wollte kein Risiko eingehen. Wenn ihm gleich ein großer weißer Wolf mit acht Augen entgegenstürzte, dann wollte er ihm wenigstens ein schönes Stück Blei zur Begrüßung verpassen.

Zwischen den Säulen herrschte ein seltsames Dämmerlicht. Es war, als würde man die Schwelle in ein Reich übertreten, in dem andere Gesetzmäßigkeiten herrschten. Das Licht wurde hier anders gebrochen, ein Großteil des Abendrots wurde einfach von den Säulen geschluckt und in einem trüberen Farbton wiedergegeben. Die Stiefel des Cowboys knirschten, als er über den Kalksteinboden lief, seltsam verzerrt und irgendwie langsam und schwerfällig drang das Geräusch an sein Ohr. Morgan Elroy schien es auch aufzufallen, denn sein Gesicht wirkte ernster und besorgter. Sein ganzer Körper war angespannt. Ein Pfeil lag auf dem Bogen jederzeit bereit, sich in einen potentiellen Angreifer zu bohren.

Sie schritten durch den überdachten Vorbau, der zu einem bogenförmigen Portal führte. Die Türen standen offen. Der Cowboy bemerkte, dass die Türen wohl schon längere Zeit nicht mehr geschlossen worden waren, denn Sand, abgestorbene Büsche, die man im Wilden Westen allgemein als tumbleweed bezeichnete und verlassene Vogelnester besprenkelten den Boden des Tempelinneren.

Die beiden Männer betraten mit angehaltenem Atem das Portal. Während die Stiefel des Cowboys lautstark knirschten, verursachten die geschmeidigen Ledermokassins des Pawnees keinerlei Geräusche auf der sandigen Oberfläche des Kalksteinbodens. Der Cowboy beneidete den Indianer um dessen lautloses Gehen.

Ein Gang führte in ein mit Säulen geschmücktes Atrium, das nach oben hin offen war. In der Mitte des Innenhofes befand sich ein großer Springbrunnen; Wasser plätscherte aus einem Bronzerohr, das aus dem Maul eines steinernen Fabelwesens ragte. Vorsichtig näherte sich der Cowboy dem Brunnen, immer den Blick auf die Figur gerichtet. Es war eine Kreatur mit dem Körper eines Löwen und einem langen reptilienhaften Schwanz, der in einen spitzen Stachel mündete. Der Bildhauer, der die Skulptur erschaffen hatte, musste ein wahrer Meister seines Faches gewesen sein. Die Kreatur sah in der einbrechenden Dunkelheit täuschend echt aus. Jede einzelne Schuppe des Drachenschwanzes war mit Hammer und Meißel so aufwendig bearbeitet, dass ein kunstvolles Schuppengeflecht entstanden war. Durch das Wasser glitzerten die Schuppen wie echte Echsenhaut.

Der Cowboy umrundete zusammen mit dem Pawnee den Springbrunnen. Im hinteren Teil des Atriums gab es eine Pforte, die offensichtlich ins Heiligtum des Tempels führte. Kunstvolle Reliefs waren in die Türen eingelassen und mit Blattgold veredelt. Eine Tafel mit griechischen Buchstaben war über dem Bogen angebracht. Aus dem dahinterliegenden Raum drang ein schwaches Leuchten. Morgan Elroy bedeutete dem Cowboy, dass sie gemeinsam durch das Portal in den Hauptraum, der sich dem Atrium anschloss, gehen sollten.

Der Raum war groß, weitaus größer als die Tempelanlage von außen vermuten ließ. Zu beiden Seiten erhoben sich Säulen, die die Last der Decke stützten. Eine dicke Staubschicht zeugte davon, dass dieser Raum schon lange nicht mehr von einer sterblichen Seele betreten worden war. Der Ort war mit Spinnweben überzogen. Staub und tote Fliegen klebten in den Netzen, die wie vergammelte Zuckerwatte aussahen.

Doch die Aufmerksamkeit der beiden Männer richtete sich auf den hinteren Teil des Raumes. Ein riesiges Fresko zierte die Wand. Darauf zu sehen war das wutentbrannte Gesicht eines Mannes mit feuerroter Haut. Die Rottöne mussten früher einmal viel intensiver gewesen sein, denn jetzt wirkten sie blass und verwaschen. An vielen Stellen waren die Farbe und der darunterliegende Putz abgeblättert. Ein Glorienschein umrahmte den Mann wie eine aufgehende Sonne. Je länger der Cowboy auf das Fresko starrte, desto widersprüchlicher erschien es ihm. Es war ein Dämon und ein Heiliger in einer Person. Das Gesicht wirkte teuflisch, der Heiligenschein dagegen würdig und erhaben. Der Cowboy runzelte die Stirn. Dieser Mann kam ihm bekannt vor. Es weckte vage Erinnerungen an etwas, das in den Tiefen seines Gedächtnisses begraben war und langsam aber sicher wieder zum Vorschein kam, wenn man nur angestrengt danach suchte. Die Vergangenheit war an diesem Ort nicht einfach tot, sondern irgendetwas hatte hier über die Jahrhunderte hinweg existiert.

Vor der antiken Wandmalerei ruhte ein gläserner Sarg. Jemand (oder etwas?) lag darin. Jedenfalls sah es von Weitem so aus, denn der Sarg war auch mit einer dicken Staubschicht überzogen. Aber er war eindeutig gläsern. Das Glas hatte im Laufe der Zeit seinen Weißstich verloren, war nun matt und stumpf geworden.

Auch Morgan Elroy wurde jetzt auf den Glaskasten aufmerksam. Unruhig blickte er den Cowboy an. Auf seinem gespannten Bogen lag noch immer der gefiederte Pfeil. Dieser Ort behagte dem Pawnee nicht. Er mochte zwar einen Großteil seines Lebens unter Weißen verbracht haben, aber das Blut seiner Vorfahren rauschte durch seine Adern. Und dieser Tempel war böse!

Langsam näherte sich der Cowboy dem aufgebahrten Sarg. Er spürte förmlich den Blick des Fremden auf dem Wandfresko, als würden dessen Augen ihm folgen und jeden seiner Schritte beobachten. Mehr als einmal wanderte sein Blick zu dem Fresko. Je näher er dem Sarg kam, umso deutlicher zeichneten sich die Umrisse einer Person darin ab.

Der Cowboy spuckte in die Hand und wischte über die schmutzige Oberfläche des Sarges. Der Staub blieb in einem schmierigen Film an seinen Händen kleben. Das Glas fühlte sich eiskalt an – als herrschten im Inneren arktische Temperaturen. Diese Vermutung war wahrscheinlich richtig, denn hinter dem Glas hatten sich an einigen Stellen Eiskristalle gebildet.

»Wow!«, raunte der Cowboy. In dem Sarg lag ein Mann, derjenige, der auf dem Fresko abgebildet war! Sein Blick glitt zwischen dem Sarg und dem Wandfresko hin und her. Es war eindeutig der Mann auf dem Wandbild! Schläft der Mann in dem Sarg? Nein, seine Brust bewegt sich nicht. Wo habe ich ihn schon einmal gesehen?, fragte sich der Cowboy. Etwas Vertrautes ging von dem Toten aus. Doch an so einen Menschen (wenn es denn überhaupt ein Mensch war) hätte er sich mit Sicherheit erinnert: Die Haut war vollkommen rot, als habe man ihn geschminkt. Doch dafür war der Farbton zu eben und gleichförmig. Es gab keine Schattierungen oder Nuancen. Es war einfach ein leuchtendes Rot, das von blauschwarzen Haaren umrahmt wurde.

Der Primus!, schoss es dem Cowboy durch den Kopf. Leonhard Hoyer hatte dieselbe Haarfarbe. Gab es eine Verbindung zwischen den beiden?

»Schöner Anzug!«, bemerkte der Cowboy, während seine Augen über das schwarze Jackett und die Stoffhose fuhren. Der Anzug war bestimmt maßgeschneidert und passte dem Toten wie eine zweite Haut. Die Kleidung irritierte ihn. Es war kein Anzug wie ihn die Männer im Wilden Westen trugen. Es war ein klassischer Tweed-Anzug der Moderne, dem Stoff nach zu urteilen ein englisches Fabrikat von einem renommierten Schneider. Solche Kleidungsstücke waren den Männern des 20. Jahrhunderts vorbehalten gewesen.

»Was ist das?«, hauchte Morgan Elroy ehrfürchtig, als er neben den Sarg trat. »Ein Dämon?«

»Bei den Göttern, nein!«, erklang eine amüsierte Stimme hinter ihnen. Beide Männer fuhren erschrocken herum … und schauten in das grinsende Gesicht des Mannes, den sie beide im Sarg liegen sahen. Der Krieger in Morgan Elroy erwachte und richtete instinktiv den Bogen auf die Gestalt vor ihnen. Er war es nicht gewohnt, dass sich jemand unbemerkt an ihn heranschlich. Der Cowboy blickte unsicher zwischen dem Sarg und dem Fremden hin und her, als wolle er sich überzeugen, dass der Fremde sich nicht aus dem gläsernen Sarg herausteleportiert hatte.

»Ruhig, ruhig!«, sagte der Cowboy und legte beschwichtigend eine Hand auf die Schulter des Pawnees. Er wusste, dass sie beide tot wären, wenn der Indianer die angespannte Bogensehne losließe. Etwas Übernatürliches ging von dem Mann aus. Ein Gefühl absoluter Macht. In Gegenwart dieses Fremden waren die beiden Weggefährten nur winzige Insekten, die der Fremde, ohne mit der Wimper zu zucken, mit seinem Absatz zermalmen könnte.

Der Cowboy richtete seinen Finger auf den Mann. »Du! Ich kenne dich …!«

Dessen Grinsen wurde breiter, strahlend weiße Zähne wurden sichtbar. »Ganz recht, Rainer Mehnert! Wir kennen uns!«

Der Cowboy fuhr zusammen, als der Mann ihn mit seinem Namen ansprach.

»Aber woher?«, flüsterte er.

»Erinnerst du dich an jene Nacht?«

»An welche?«

»An die Nacht, in der deine Frau dich betrogen hat?«, erwiderte der Mann mit der feuerroten Haut und sein Grinsen war innerhalb eines Wimpernschlages verschwunden. Er wurde ernst.

Der Cowboy trat vor den Fremden; sie standen sich jetzt direkt gegenüber. Der Blick des Fremden war von solcher Intensität, dass eine geradezu hypnotische Wirkung von ihm ausging. Der Cowboy musste mehrere Male blinzeln, weil er glaubte, der Boden risse ihm unter seinen Füßen weg. Die Augen schienen die Farbe zu wechseln. Mal waren sie kristallklar wie das Schmelzwasser in den Bergen und dann wieder so dunkel wie der tiefe Grund eines stillen Sees.

»Hab keine Angst, Rainer Mehnert!«, sagte der Mann. »Ich zeige dir, wer ich bin!« Und noch ehe er etwas sagen, geschweige denn reagieren konnte, schlossen sich die beiden Hände des Fremden um seinen Kopf und die Zeigefinger schienen mit seinen Schläfen zu verschmelzen. Der Druck auf seinen Kopf nahm zu – wie bei einem kochenden Teekessel, den keiner von der glühenden Herdplatte nimmt. Jedenfalls fühlte es sich so an. Wie flüssige Butter drangen die Finger immer weiter in seinen Kopf hinein, tauchten durch die Gehirnwindungen bis sie auf jene Teile stießen, die den Kern seiner Persönlichkeit ausmachten und sein Erfahrungswissen beinhalteten. Und dann explodierte alles um ihn herum in einem bunten Regenbogen.

Es begann von Neuem. Ein ewiger Kreislauf. Die Szene war dem Cowboy wohlbekannt. In diesem Leben war er Rainer Mehnert und noch kein Westmann.

Gedämpfte Stimmen drangen an sein Ohr und er verstummte schlagartig. Die Decke über ihm knarrte leise. Jemand war im zweiten Stock. Angestrengt lauschte er, doch er vernahm nur das einschläfernde Ticken der alten Wanduhr. Langsam drehte Rainer Mehnert sich um und marschierte zurück in den Flur. Sein Blick glitt zu der Holztreppe, die nach oben in den zweiten Stock des Hauses führte. Eine unheilvolle Vorahnung packte ihn. Er wusste, dass da oben etwas war, was er auf gar keinen Fall sehen wollte. Er durfte jetzt nicht hochgehen. Nicht noch einmal!

Erneut hörte er die Frau im Obergeschoss lachen. Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Das Ticken der Wanduhr benebelte seine Sinne, ließ ihn wegdriften … weg von diesem Ort, der sein Schicksal für immer verändert hatte.

Er atmete tief die abgestandene Luft im Flur ein. Als er die Augen wieder öffnete, hatte er bereits mit der rechten Hand das Geländer umfasst.

»Ich will weg von hier!« Sehnsuchtsvoll blickte er zu der verschlossenen Haustür. Doch er stieg die Treppen hinauf, setzte einen Fuß vor den anderen. Eine unbekannte Macht schien ihn nach oben zu ziehen und er konnte sich nicht dagegen wehren.

Die Stufen waren alt, doch sie gaben keinen einzigen Laut von sich, als sie sein Gewicht trugen. Oben angekommen, bemerkte er als Erstes den Lichtstrahl, der aus der halb geöffneten Tür des Schlafzimmers drang.

»Es ist noch nicht zu spät, die Beine in die Hand zu nehmen und davonzulaufen. Tu dir das nicht an!«, dachte Rainer Mehnert verzweifelt. Er wollte die Treppe wieder hinunter, doch sein Körper schien ihm nicht zu gehorchen. Wie in Trance näherte er sich der Schlafzimmertür.

Er stieß die Tür auf und hielt den Atem an. Vor ihm räkelten sich zwei Menschen in einem wilden Wust aus Bettlaken. Ihre nackten Körper glänzten schweißüberströmt.

Durch einen Tränenschleier sah er, wie die Frau den Mann an sich zog, ihren Unterleib gegen ihn presste. Sie schrie voller Verzückung auf und begann, sich im Rhythmus zu seinen Hüften zu bewegen.

Jemand trat neben Rainer Mehnert und legte ihm die Hand auf die Schulter. Es war der fremde Junge mit den langen pechschwarzen Haaren. Leonhard Hoyer, der Primus, der nun lächelnd auf die zuckenden Körper schaute.

»Was hat das zu bedeuten? Warum zeigst du mir das?«, schrie Rainer Mehnert fassungslos.

»Sieh hin und verstehe!«, forderte ihn der Primus auf.

»Dieser Scheißkerl vögelt meine Frau. Was gibt es daran nicht zu verstehen?«

»Was siehst du noch?«

»Ich sehe eine verdammte Hure …«

»Das ist nicht alles!«

»Was um Himmels willen soll ich denn noch sehen?«

Der junge Mann lächelte. Seine stahlblauen Augen wirkten auf einmal unheimlich und gespenstisch.

»Du willst wissen, was du da siehst?«

»Ja!«

»Du siehst den Tod von Rainer Mehnert.«

»Was?«

»In dieser Nacht ist Rainer Mehnert gestorben.«

Entsetzt wich Rainer Mehnert zurück. Der Primus lachte laut auf, ein Lachen, das nichts Menschliches mehr an sich hatte. Es klang, als ob der Fürst der Finsternis persönlich in dessen drahtige Gestalt geschlüpft sei und über einen schmutzigen Witz lache.

Rainer Mehnert torkelte aus der Tür. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und das dämonische Gelächter verstummte.

Für einen kurzen Moment lüftete sich der Schleier und der Cowboy kehrte in das Hier und Jetzt zurück: der Wilde Westen, der griechische Tempel, das Heiligtum im Herzen des Gebäudes. Verschwommen nahm er die Umrisse des Glassarges wahr. Neben ihm schien Morgan Elroy etwas zu sagen, doch die Worte waren verzerrt und undeutlich, als zöge jemand die Schallwellen mit einem Dirigentenstab in die Länge. Vor ihm leuchteten die teuflischen Augen des Fremden.

»Warum zeigst du mir das? Ich habe dich nicht gesehen!«, sagte der Cowboy und seine Stimme klang ebenfalls seltsam verzerrt. Er hatte das Gefühl, im Zeitlupentempo zu sprechen.

»Sieh genauer hin!«, erwiderte das feuerrote Gesicht vor ihm. Die Stimme war klar und deutlich. »Sieh genauer hin, Rainer Mehnert!«

Rainer Mehnert rannte die Treppenstufen hinab und um ein Haar wäre er die letzten Stufen hinuntergestürzt. Tränen rannen unaufhaltsam über seine Wangen. Sein Gesichtsfeld schien sich zu verdichten, die Ränder wurden schwarz ausgeblendet. Ihm war, als habe ihm jemand eine Scheuklappe über den Kopfgezogen. Er rannte aus der Wohnung hinaus in die Nacht. Tränen liefen ungehindert über seine Wangen, schmeckten salzig auf den Lippen. Er hatte eine so große Wut im Bauch. Sie schien ihm förmlich die Luft zum Atmen zu nehmen. Diese Wut! Dieser unglaubliche Hass! Draußen im Freien lief er auf die Straße und sank schluchzend auf die Knie. Die Wut schien ihn zu übermannen. Er hatte das Gefühl, dass er jeden Augenblick explodieren musste. Verzweifelt schrie er seinen ganzen Hass, seine ganze negativ aufgestaute Energie in den Nachthimmel. Der verzweifelte Schrei eines gebrochenen Mannes. Sie hatte ihn betrogen. Die eigene Frau! Er schrie und schrie, bis ihm die Stimme versagte und nur noch krächzende Laute über seine Lippen kamen. In diesem Augenblick trat jemand neben ihn. Zuerst gewahrte er nur die blitzblanken Schnürschuhe aus glattem Leder, die sich in sein Sichtfeld schoben. Sein Blick wanderte nach oben. Ein Mann in einem feinen schwarzen Anzug stand vor ihm. Es war dunkel draußen, doch die Haut schien in einem rötlichen Licht zu leuchten.

»Du scheinst dich gar nicht zu wundern!«, sagte der Fremde in Anspielung auf seine Hautfarbe.

»Meine Frau fickt gerade einen anderen Kerl. Mich wundert im Moment gar nichts mehr …«

Der seltsame Mann nickte verständnisvoll.

»Ja, ich verstehe.«

»Einen Scheiß tust du …«

»O nein, Rainer Mehnert, ich verstehe dich sehr gut. Ich kann das Blut in deinen Adern singen hören. Dein Hass ist deutlich zu spüren. Ein Gedicht für jemanden wie mich, der ein wahrer Connoisseur negativer Emotionen ist.«

Rainer Mehnert sackte zusammen und schluchzte hilflos. Eine Hand klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern.

»Mein Name ist Kelvin Smith«, stellte sich der Mann vor.

»Ist mir egal, Arschloch!«, jammerte Rainer Mehnert am Boden zerstört.

»Hör auf, ich kann dir helfen!«

»Ich will meine Frau zurück … hörst du? ICH WILL MEINE SCHEISSFRAUZURÜCK!«

Rainer Mehnert blickte wimmernd auf. Schlagartig verstummte er, als er die Augen seines Gegenübers sah. Er hatte das Gefühl, dass es ihm schwindlig werden würde.

»So eine Frau willst du nicht mehr. Du bist für Größeres geschaffen. Ich gebe dir etwas viel Besseres.«

»Und das wäre?«, fragte der gebrochene Mann vor ihm.

»Ich gebe dir Rache!« Kelvin Smith entblößte zwei Reihen perfekter Zähne.

»Was heißt das?«

»Du wirst deine Rache bekommen«, meinte er und deutete auf das Wohnhaus. »Du kannst dir sicher sein, wir werden deiner Frau und ihrem Liebhaber eine ganz spezielle Überraschung bieten!«

Unsicher blickte Rainer Mehnert zu seinem Haus. Im Schlafzimmer war es stockdunkel. Hinter den schweren Vorhängen konnte man nichts erkennen. Es wunderte ihn, dass die Nachbarn wegen seines Geschreis noch keine Polizei gerufen hatten.

»Und was muss ich dafür tun?«

»Darüber reden wir später, mein Freund!«

»Ich will es dieser Schlampe heimzahlen! Und ihrem Scheißstecher auch! Die Fotze soll verrecken!«, schrie Rainer Mehnert und die unbändige Wut stieg wieder in ihm auf. Sie drohte, ihn zu übermannen und wie eine gewaltige Tsunamiwelle fortzuspülen.

»Dann haben wir einen Deal?« Und wieder zeigte er dieses Grinsen mit den perlweißen Zähnen.

»Deal!«, schrie Rainer Mehnert.

Kelvin Smith streckte ihm die Hand hin. Und er schüttelte sie. Die Hand fühlte sich eigenartig warm an, als stünde der Mann unter Fieber.

»Halt einen Moment still!«, forderte ihn Smith auf.

»Warum?«

»Weil ich dir jetzt eine Essenz von mir gebe!«

»Eine was?«

»Einen Teil von mir!«, erwiderte Smith und seine Stimme fühlte sich auf einmal sehr liebkosend an. Die roten Hände ergriffen seinen Kopf, um ihn zu fixieren.

»Was hast du vor?«, fragte Rainer Mehnert ängstlich. Der Griff von Smith war fest.

»Öffne den Mund!«

»Lass mich los!«

»ÖFFNE DEINEN MUND!«

Automatisch machte er den Mund auf. Seine Augen weiteten sich, als er sah, dass Kelvin Smith ebenfalls den Mund öffnete. Er atmete tief aus. Sein Odem war wie eine blau glitzernde Wolke. Ganz sanft drang sie in den offenen Mund von Rainer Mehnert ein, als würde er den nebelartigen Odem seines Gegenübers aufsaugen. Er spürte Feuchtigkeit in seinem Mund. Dann veränderte sich etwas in seinem Körper. Er wusste nicht, was es war, aber etwas war plötzlich anders. Etwas in der Tiefe seiner Seele …

Er kehrte in die Gegenwart zurück. Zunächst war alles verschwommen und undeutlich, dann kristallklar, als würde man die Auflösung in seiner Netzhaut hochfahren.

»Ich … ich erinnere mich wieder!«, stammelte der Cowboy sichtlich überwältigt. Tränen benetzten seine staubige Haut. »Du bist Kelvin Smith!«

»Ja, genau. Schön, dass du dich wieder erinnerst, Cowboy!«

Kelvin Smiths Blick wanderte zu dem Pawnee, der immer noch in einiger Entfernung mit auf ihn gerichtetem Pfeil und Bogen stand. »Na, wenn das keine Rothaut ist«, sagte er und musste über seinen eigenen Witz lachen. Morgan Elroys Gesicht war zu Stein erstarrt.

»Tu mir den Gefallen und lass mich mit diesem ehrenwerten Gentleman für einen Augenblick allein. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen und es gibt viel zu erzählen!«

»Du existierst zweimal!«, stellte Morgan Elroy mit Blick auf den Sarg fest. »Wie kann das sein? Bist du ein Geist?«

»Ein Geist? Ach, wie einfach gestrickt ihr Rothäute doch seid!«

»Allemann, alles in Ordnung mit dir? Was soll ich tun?«, richtete der Pawnee das Wort an den Cowboy.

»Lass uns alleine«, sagte der Cowboy nach einem Moment der Stille. »Es ist alles okay. Wir sind nicht in Gefahr!«

Langsam ließ Morgan Elroy den Bogen sinken.

»Kehre am besten ins Lager zurück. Sag Jeremy Slater, dass ich nachkommen werde. Ich habe … ich habe einen alten Freund wiedergetroffen!«

»Soll ich im Hof auf dich warten?«

»Nein, alles gut! Geh ins Lager zurück! Sie werden sonst noch nach uns suchen!«

Der Pawnee nickte wortlos und verschwand lautlos wie ein Schatten.

Nach einem Moment des Schweigens trat Kelvin Smith vor den gläsernen Sarg und betrachtete den Toten, der eine identische Kopie von ihm war.

»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte der Cowboy und gesellte sich zu ihm.

»Du willst Antworten?«

Der Cowboy nickte. »Ja … es gibt so viele Sachen, an die ich mich nicht mehr erinnere. Mein Gehirn fühlt sich wie ein matschiges Etwas an.« Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass da Erinnerungen sind, aber ich kann sie nicht fassen.«

Kelvin Smith schwieg und starrte weiterhin in den Sarg.

»Was ist passiert in jener Nacht?«, wollte der Cowboy wissen. »Sag es mir! Du bist mir eine Antwort schuldig!«

»Hast du Epimetheus mittlerweile getroffen?«, fragte Kelvin Smith aus dem Nichts heraus.

»Du meinst den Primus? Leonhard Hoyer?«

»Du trägst seinen Geruch. Dein ganzer Körper stinkt nach dieser widerwärtigen Kreatur!«

»Ich dachte eigentlich, dass ich nach Schweiß, Pferd und ungewaschenem Hodensack stinke! Aber wenn du meinst, ich trage sein Eau de Cologne, dann nehme ich das einfach mal als Kompliment auf.«

»Wie bist du auf diese Welt gekommen?«

»Hekate hat ein Portal geöffnet, das mich hierher gebracht hat.«

»Ich spüre ihre Präsenz!« Kelvin Smith schloss für einen Moment die Augen und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. »O ja, o ja … diese Wut kenne ich. Sie scheint noch eine Rechnung mit dir offen zu haben.«

»Kann man wohl sagen! Aber, wer ist das?«, fragte der Cowboy mit Blick auf den Toten in dem Glassarg.

»Das bin ich!« Kelvin Smith kämpfte zum ersten Mal um seine Beherrschung. Für einen ganz kurzen Augenblick war sein Gesicht vor Wut entstellt. Eine dämonische Fratze, die einen so starken Hass ausströmte, dass er fast stofflich spürbar war.

»Wie ist das möglich? Der Kerl in der Kiste sieht tot aus!«

»Er ist es aber nicht …«, sagte Kelvin Smith langsam.

»Das verstehe ich nicht.«

»Hast du eine Ahnung, wer ich bin?«

»Ein Olympioi?«

»Ich sehe, der Primus hat dich gut unterrichtet.«

»Ich habe hier und da ein paar Sachen von ihm aufgeschnappt. Nicht der Rede wert. Der Typ war ein Freak!«

Kelvin Smith wandte sich von dem Glassarg ab. Seine Wut war verschwunden. Er strich mit der einen Hand über den Ärmel seines Anzugs, weil sich dort etwas Staub festgesetzt hatte.

»Es wird an der Zeit, dass wir offen miteinander reden, Cowboy«, meinte Smith und blickte zu der Freskomalerei hinauf, die ein Abbild seinesgleichen darstellte.

»Ich bin ganz Ohr!«, sagte der Cowboy lakonisch.

»Ich habe viele Namen und viele Geschichten. Kelvin Smith, Henry Luxemburg-Ligny, Chalid Dschafar, Stanislaw Faust … Ich war viele und werde viele sein«, erklärte er. Es entstand eine unangenehme Stille; der Cowboy wartete darauf, dass der Mann neben ihm fortfuhr.

»Ich bin Thanatos«, sagte er schließlich mit schwerer Stimme.

»Sollte mir das etwas sagen?«, fragte der Cowboy und zuckte hilflos mit den Schultern. »Sorry, griechische Geschichte war noch nie so mein Ding und wenn ich es mir recht überlege, kann ich die Griechen nicht mal leiden.«

»Ich bin der Todestrieb. Der Gegenpol des Lebens. Mein Wunsch ist die Zerstörung. Die Rückkehr vom organischen in den anorganischen Zustand. Ich bringe die Vernichtung!«

»Das hört sich aber nicht gut an«, erschrak der Cowboy und trat unsicher einen Schritt zurück.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, denn in dir lebt ein Teil von mir. Du trägst eine Essenz des Todestriebes in dir«, sagte Kelvin Smith, wandte sich von dem Wandfresko ab und breitete die Hände aus.

»Ich verstehe nicht …«

»Erinnere dich an jene verheißungsvolle Nacht. Du hast deine Frau beim Fremdgehen erwischt. Du warst voller Wut und Verzweiflung. Ich kam zu dir und habe dir in deinem Leid geholfen. In jener Nacht ging ein kleiner Teil meiner Selbst in deinen Körper über.«

»Die Essenz …«, flüsterte der Cowboy.

Thanatos nickte eifrig. »Ganz genau!« Er legte dem Cowboy die Hand auf die Schulter, so wie es ein guter Freund tat. »Du bist einer meiner Avatare.«

»Ein Avatar?«, echote der Cowboy ungläubig.

»Ein körperliches Abbild meiner Selbst in den endlosen Weiten des Multiversums.«

»Also ein Knecht von dir«, schlussfolgerte der Cowboy.

»Avatar hört sich besser an, mein Freund! Du trägst meine Essenz. Sei stolz, dass ich dich auserwählt habe. Es ist ein Privileg, meine Essenz zu tragen!«

Und in diesem Moment erinnerte sich der Cowboy an seine erste Begegnung mit der Göttin Hekate in der Stadt der Nacht. Da war etwas gewesen, das Hekate zu ihm gesagt hatte.

»Ich erinnere mich wieder …«, flüsterte er leise und ging das Erlebte in seinen Gedanken durch.

Sie trug eine schlichte weiße Robe, die ihr bis zu den Knien reichte sowie Sandalen aus gegerbtem Leder. Sie war jung und schön. Ihre braunen Haare waren hochgesteckt und durch einen goldenen Haarkamm – das einzige Schmuckstück, das sie zu tragen schien – fixiert. Die Frau konnte Anfang zwanzig, aber auch schon weit über vierzig sein. Etwas Zeitloses ging von diesem Gesicht aus.

»Ich bin Hekate, die Göttin der Wegkreuzungen. Magna Mater. Die Große Mutter. Willkommen in meinem Reich!«, sagte sie, während sie beobachtete, wie der Cowboy mit den Jungen aus dem Schatten des Steinportals trat.

»Du hast eine meiner Grazien ermordet«, sagte sie und musterte den Cowboy von Kopf bis Fuß.

»Baby, falls du die Schlampe ein paar Stockwerke tiefer meinst … well, sie hat einen unserer Kumpels auf dem Gewissen.«

»Was bist du?«, fragte Hekate irritiert und stellte sich direkt vor den Cowboy. »Du warst einmal ein Mensch, aber da ist noch etwas in dir. Eine Essenz …«

Eine Essenz! Hekate hatte gespürt, dass er anders war. Die Essenz war wohl auch der Grund, warum er allen Gefahren bislang getrotzt und überlebt hatte. Zufall oder gelenktes Schicksal?

»Aber warum?«, wollte der Cowboy wissen.

Der Mann, der sich Kelvin Smith nannte, deutete auf den gläsernen Sarg vor ihnen. »Dazu musst du meine Vorgeschichte kennen. Das hier ist kein Sarg, sondern eine Hyperkapsel.« Dann zeigte er mit beiden Händen auf sich selbst. »Was du vor dir siehst, bin nicht ich, sondern nur ein geistiges Abbild. Eine Illusion. Ich bin in dieser Hyperkapsel gefangen.«

»Also doch ein Geist?«

»Eher eine täuschend echte Illusion, die die richtigen Stellen in deinem visuellen Kortex aktiviert. Nennen wir es doch einen Astralkörper.«

»Wie funktioniert diese Hyperkapsel?«

»Ein Behältnis, das die darin liegende Person in einen Hyperschlaf versetzt. Durch die Kälte werden deine Vitalfunktionen auf ein Minimum reduziert. Die Zellalterung ist praktisch ausgesetzt. Die Olympioi benutzten diese Kapseln auf ihren langen Reisen durch das Multiversum.«

»Der Kerl darin schläft?«

»Ja, ich schlafe!«, antwortete Thanatos.

Der Cowboy trat wieder vor den Sarg aus Glas und suchte nach einem Griff an der Seite. »Dann lass mich dir helfen. Wie bekomme ich das Scheißteil auf?«

»Gar nicht«, sagte Thanatos und unsagbare Wut stieg in ihm auf. Ein Zittern ging durch das Bauwerk. Staub und Gesteinsbrocken rieselten von den Decken. Der Cowboy glaubte, dass jeden Moment der Tempel einstürzen würde. Erschrocken und ängstlich ging er in die Knie. Dann war alles wieder vorbei. Kleine Staubwolken stiegen vom Boden auf.

»Du bist mir sympathischer, wenn du nicht wütend bist!«, meinte der Cowboy und nahm seinen Hut ab, um den Staub abzuklopfen.

»Tja, ein schlechtes Benehmen, ich weiß, ich weiß …«, sagte Thanatos und hob entschuldigend die Hände.

»Wer hat dir das angetan? Warum bist du in dieser Kapsel?«, wollte der Cowboy wissen und setzte seinen Hut wieder auf.

»Komm her und ich zeige es dir!«, forderte ihn Thanatos auf und hob seine Hände in die Höhe.

»Nein, danke!«, sagte der Cowboy. »Ich habe heute genug Ausflüge in die Vergangenheit gemacht.« Er wollte noch etwas sagen, doch Thanatos griff nach seinem Kopf und ehe der Cowboy reagieren konnte, bohrten sich dessen Finger tief in seinen Kopf. Es war diesmal nicht ganz so schmerzhaft, denn er wusste, was gleich kommen würde, aber das Gefühl war trotzdem unangenehm und er biss sich auf die Lippen, als er ein Glühen in seinem Kopf spürte. Ein Regenbogen explodierte vor ihm in tausend Farben – Farben, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er glaubte für einen Augenblick, dass jemand ein Radio eingeschaltet hatte und die Beatles den Refrain von Yesterday sangen. Yesterday … Die Anspannung wich langsam einem Gefühl der entspannten Erschöpfung. Das Singen der Beatles (ja, es waren definitiv die Beatles!) verstummte schlagartig. Dann war da nur noch Schwärze und dann … nichts.

Thanatos stand auf dem Kamm eines dünn bewaldeten Hügels, der in einen lieblich anmutenden Landstrich führte. Das Tal war geprägt von Laub- und Nadelbäumen, die nebeneinander wuchsen und zwei Liebhabern gleich miteinander harmonierten. Bunte Blumen lockerten das ebenmäßige Buschwerk auf, das hauptsächlich aus wilden Farnpflanzen bestand. Es war ein heißer Sommertag, doch der Mann mit der roten Haut schwitzte aus keiner einzigen Pore. Er hatte ein Energiefeld um seinen Körper gelegt, das ihn vor der sengenden Hitze schützte.

Hinter dem Tal lag ein kleines Dorf, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte. Er war gekommen, um die Einwohner zu bestrafen. Ihm war zu Ohren getragen worden, dass manche Einheimische sich der dunklen Kunst der Nekromantie verschrieben hatten. Sie praktizierten nächtliche Rituale, um die Toten aus ihren Gräbern zu holen. Das war etwas, was Thanatos auf gar keinen Fall dulden konnte. Er war der Gott der Toten und keinem Sterblichen war es gestattet, in seinem Reich zu wildern. Nekromantie war ein Sakrileg und die Dorfbewohner würden dafür einen hohen Blutpreis zahlen. Er würde sie nicht alle töten, denn er brauchte eine Handvoll Überlebende. Leute, die die Kunde in alle Herren Länder tragen würden, dass mit der Nekromantie nicht zu spaßen war.

Die Nekromanten waren zu einer wahren Plage geworden. Gerade im fernen Arabien war das Interesse an der Totenbeschwörung groß. In jedem Hinterhof wurden die dunklen Künste praktiziert. Aber auch die leidenschaftlichen Araber würden ihre Lektion erteilt bekommen und sie würden lernen … sehr schnell lernen.

Thanatos labte sich an den Qualen, die er unter den Dorfbewohnern anrichten würde. Ein Schriftgelehrter hatte einmal das Sprichwort geprägt, dass Rache ein Gericht sei, das man am besten kalt serviere. Der Mann war ein Narr gewesen! Blanker Hass, der sich in hemmungsloser Aggression entlud, war der höchste Lustgewinn, nach dem man streben konnte. Die Zerstörung war ein Grundbedürfnis. »Gesegnet sei der, der sich in der Wut verliert! Unsere Rache stürzt den Ungerechten vom Thron und erhöht den Niedrigen. Trage meine Essenz in alle Herren Länder, auf dass deine Klinge reichlich Ernte halte!« (Spruch des Thanatos, 3, 8, Das Hohelied der Rache).

Thanatos folgte einem kleinen Pfad ins Tal, der mit metallisch glänzenden Kieselsteinen übersät war. Seine Sandalen knirschten bei jedem Schritt.

Er spürte die Präsenz der beiden schon, bevor er sie hinter dem großen Felsbrocken am Fuß des Pfades hervortreten sah. Der Mann war in eine schwarze Robe gekleidet, die Frau, das passende Gegenstück, in ein weißes eng anliegendes Kleid. Sie trug ein goldenes Diadem. Epimetheus und Hekate. Die beiden Olympioi verkörperten Kräfte, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Epimetheus war für Thanatos nicht mehr als ein arroganter Knabe, der im Schatten seines mächtigen Bruders Prometheus stand. Ein Träumer, der an die wahre, bedingungslose Liebe glaubte. Früher oder später würde er Epimetheus zurechtstutzen. Der Knabe benötigte eine ordentliche Lektion in Sachen Demut. Vor Hekate musste er sich allerdings in Acht nehmen. Sie war schlau und manipulativ. Eine wahre Meisterin der verborgenen Intrigen!

Thanatos verharrte in seinem Schritt und musterte das ungleiche Paar misstrauisch.

»Sei gegrüßt, edler Thanatos!«, sagte Hekate und deutete eine übertriebene Verbeugung an, die eher spöttisch als respektvoll war. Epimetheus nickte ihm nur kurz zu. Thanatos’ Augen versprühten Giftpfeile. Ja, da war Zorn in ihm. Der Hass fraß ihn auf. Vielleicht könnte er den Knaben für seine Zwecke nutzen und ihn formen wie ein Werkzeug?

»Ihr beide weitab vom Olymp? Hier mitten in der Wildnis? Zufall oder Schicksal? Warum sagt mir mein Gefühl, das ihr beide etwas im Schilde führt?«

Hekate zeigte ihr schönes Lächeln. Ihre spitzen Zähne signalisierten dabei etwas Animalisches in ihren alabasterfarbenen Gesichtszügen. »Ein Schelm, wer dabei Böses denkt, nicht wahr?«

»Genug Floskeln ausgetauscht! Was verschlägt euch beide hierher?«, fragte Thanatos. Er nickte in Richtung des jungen Mannes. »Ich weiß, was er will, aber was dein Anliegen ist, darüber kann ich nur spekulieren.«

Epimetheus griff in seine Robe und zog etwas aus einer Innentasche heraus. Herausfordernd hielt er es Thanatos entgegen. Neugierig machte dieser einen Schritt auf den Jüngling zu … und verharrte regungslos. In der Handfläche des Burschen befand sich ein daumengroßer Stein. Er war gläsern und glatt geschliffen; durch die transparente Oberfläche konnte man ein milchiges Netz sehen, das das Innere durchzog.

»Wo habt ihr den her?«, fragte Thanatos und wich instinktiv einen Schritt zurück.

»Den Mondstein? Lunarit? Du wärst überrascht an welch exotischen Orten man dieses Mineral finden kann.«

»Du kannst uns freiwillig geben, was wir wollen oder wir setzen den Mondstein gegen dich ein!«, fauchte Epimetheus plötzlich.

Thanatos schnitt eine Grimasse. »Deine Wut gefällt mir, Jüngling. Aber ich kann dir deine geliebte Pandora nicht zurückgeben!«

»Du bist der Totengott! Dein Reich liegt am Eingang des Tartaros! Bring mir Pandora zurück!«

»Das kann ich nicht!«, erwiderte Thanatos und hob hilflos seine Hände. »Pandora ist tot! Sie wäre nicht dieselbe, wenn ich sie dir wiedergeben würde, Epimetheus. Es wäre nicht die Frau, die du kennen und lieben gelernt hast.«

»Das ist mir egal! Gib sie mir zurück!«

»Nekromantie ist verboten! Du kennst die Gesetze von Uranos und Gaia!«

»Mich interessieren Uranos und Gaia nicht«, antwortete Epimetheus und spie auf den Boden.

»Dein Zorn gefällt mir, aber er richtet sich gegen die falsche Person! Du könntest ihn viel wirksamer einsetzen. Leg den Mondstein weg und ich sehe über diesen Affront hinweg!«, rief Thanatos.

»Halt deinen Mund! Deine Worte sind vergiftet!«

»Deine Rolle in diesem Spiel ist mir immer noch unklar, werte Hekate«, wandte sich Thanatos an die Frau, die erneut ihr raubtierhaftes Lächeln zeigte.

»Ich möchte die Kontrolle über deine Krieger haben!«, schnurrte sie. »Und dieser Mondstein wird dafür sorgen, dass du meinen Wünschen nachkommst.«

»Die Kontrolle über die tollwütigen Seemänner?«, fragte Thanatos verwundert. »Was hast du vor? Einen Weltenbrand anzuzetteln?«

»Das lass mal meine Sorge sein!«

»Auch deine Wut gefällt mir. Sie macht dich … unwiderstehlich! Aber ich muss dich leider enttäuschen. Die tollwütigen Seemänner wurden vom Gottvater in meine Obhut gegeben. Es käme einem Frevel gleich und glaub mir, ich habe kein Interesse, den Zorn des Zeus am eigenen Leib zu spüren.«

Epimetheus näherte sich ihm mit ausgestreckter Hand.

»Tu das nicht!«, warnte Thanatos. »Es wäre ein furchtbarer Fehler!«

»Ich, Epimetheus, Sohn des Iapetos, befehle dir, Thanatos, Totengott und Daimon in einer Gestalt, dich unserem Willen unterzuordnen!«

Und der Stein fing an zu leuchten. Es war ein kaltes Leuchten, das aus dem Inneren des Minerals drang. Thanatos spürte den seltsamen Druck, der sich auf seinen Kopf legte. Das Gefühl war dumpf, so, als würde man ihm einen unsichtbaren Helm aufziehen. Es erinnerte ihn an einen Kater morgens nach einem langen nächtlichen Gezeche.

»Knie nieder!«, befahl der junge Mann.

»Ich denke, das ist nicht … aaaaaaaarrrrghhhh!« Der Schmerz in seinem Kopf war so intensiv, dass er sich auf den Boden warf und glaubte Tausende von Feuerameisen würden über seine Hirnrinde wandern und sich mit ihren spitzen Mandiblen tief ins Gewebe bohren. Es war kein Schmerz, der in Wellen kam, sondern ein ständiger, der weder einen Anstieg noch ein Abflachen kannte. Er war unerträglich. Und er spürte, wie sich das Brennen in seinem ganzen Körper auszubreiten begann.

»Aaaaaaaarrrrghhhhhh …« Thanatos wollte Epimetheus anflehen aufzuhören, doch es kam kein Wort über seine Lippen. Zusammengekrümmt ohne jegliche Würde lag er am Boden und wälzte sich herum.

»Das ist nur der Anfang! Ich kann deine Qualen noch tausendfach verstärken. Willst du das?«

»… aaaarrrghh …. gnnnhhhh …«

»Ich kann dich nicht verstehen!«, schrie Epimetheus. »WILLST DU DAS?«

»… n-n-eiiin …!«

Epimetheus schloss die Hand und schlagartig erstarb das Leuchten. Der Schmerz war zwar weg, hinterließ aber in den Windungen seines Gehirns eine Erinnerung, die so qualvoll war, dass sich sämtliche Muskeln in Thanatos’ Körper anspannten, wenn er nur daran dachte.

»Wir haben ein Abkommen?«, fragte Hekate und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ja«, keuchte Thanatos. Er wollte wütend sein, sich in seinem Zorn verlieren, diese beiden jämmerlichen Existenzen auslöschen, doch der Schmerz hatte alles in seinem Körper betäubt. Er spürte nichts. Nur ein Gefühl der Leere und die Nachwehen, die der Schmerz in seinem Kopf ausgelöst hatte.

Das werdet ihr bereuen! Ich werde euch bestrafen! Doppelt und dreifach, ihr verfluchten Narren!

Die Szene wurde plötzlich undeutlich und verwaschen wie bei einer Videokamera, die den Autofokus nicht richtig justieren kann. Dann verblasste alles und die Dunkelheit kehrte zurück.

Der Wechsel zurück in die Welt des Wilden Westens war für den Cowboy so überraschend, dass ihm schwindlig wurde. Von jetzt auf die nächste Sekunde war er wieder in der Tempelanlage. Er musste sich an dem gläsernen Sarg abstützen, um nicht hinzufallen. Es spürte Druck auf seinen Ohren und ein tinnitusartiges Rauschen malträtierte seine Gehörgänge.

»Junge …«, schnaufte der Cowboy. Er merkte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.

Thanatos stand neben ihm mit ausdrucksloser Miene.

»Das geht gleich vorbei«, sagte der Mann, als ihn der Cowboy hilfesuchend anblickte. »Dein Kreislauf muss wieder ein wenig in Schwung kommen.«

»War das real?«

»Du hast eine meiner Erinnerungen gesehen.«

»Wow, das fühlte sich echt seltsam an. Ich glaube, ich muss kotzen!« Der Cowboy spürte, wie in ihm die Übelkeit hochstieg.

»Tu dir keinen Zwang an. Aber erleichtere dich nicht neben dem Sarg!«, befahl Thanatos und entfernte sich einen Schritt von dem Cowboy.

»Warum hast du mir das gezeigt?«

Thanatos reagierte mit einem Hochziehen der Augenbrauen und sagte: »Damit du verstehst. Hekate und Epimetheus haben mich getäuscht.«

»Mit einem kleinen Kieselstein?«, fragte der Cobwoy ungläubig und wischte sich über den Mund.

»Nicht irgendein Stein. Ein Mondstein. Pures Lunarit!«

»Was ist so Besonderes an dieser Murmel?«

»Mondsteine sind sehr selten. Sie entstehen, wenn Meteore auf der Erde einschlagen und durch die Hitze Gesteinsglas entsteht. Diesen Steinen wohnen magische Kräfte inne. Man nennt sie auch die Tränen des Kronos.«

»Vielleicht könntest du noch ein wenig hochtrabender und rätselhafter sprechen? Ich könnte sonst noch etwas verstehen … aaah es geht los«, sagte der Cowboy und erbrach sich. Da er den ganzen Tag, bis auf ein paar staubtrockene Biskuits nichts gegessen hatte, kam ein Schwall bitterschmeckender Gallenflüssigkeit hochgeschossen. »Hui, jetzt geht es mir besser!«, sagte er, während er sich mit beiden Armen gegen den Glassarg stützte und auf den Boden blickte. Er spuckte noch mehrere Male, um den abscheulichen Geschmack im Mund loszuwerden. »Das letzte Mal, als ich gekotzt habe, war, als ich bei Gerald Heinemann selbst gebrannten Schnaps getrunken habe.« Er atmete tief ein und wandte sich wieder an den Mann neben ihm. »Aaaahhhhh! Also nochmal die Frage: Warum hast du mir das gezeigt?«

»Wir sind noch nicht fertig mit der Geschichte. Ein Teil fehlt noch!«, entgegnete Thanatos und ging mit erhobenen Händen auf den Cowboy zu, der instinktiv zurückwich.

»Sorry, Kumpel, aber ich habe genug Kopfkino für heute gehabt. Ich denke …« Noch bevor er die letzten Worte aussprechen konnte, löste sich Thanatos’ Gestalt in Luft auf … nur um sich direkt hinter dem Cowboy zu rematerialisieren. Diesem blieb keine Zeit mehr herumzuwirbeln und auszuweichen. Noch ehe er sich versah, schlossen sich die roten Hände um seinen Kopf und die Finger drangen in seine Schläfen ein.

Diesmal war das Eintauchen in die Vision eine reine Qual. Ihm war, als bestünde sein Körper aus einem Netz aus Feuer, während rund um ihn herum Farbkleckse explodierten. Die Zeit verlor sich zu einem abstrakten Begriff. Er wusste nicht, ob Stunden oder lediglich ein paar Minuten vergangen waren. Dann folgte eine Schwärze, die alles um ihn herum zur Bedeutungslosigkeit verblassen ließ. Sein Geist schwebte durch die Finsternis. Und dann tauchte er in die Szene ein und verschmolz mit einem anderen Bewusstsein.

Thanatos spürte die Präsenz der beiden Besucher schon, bevor sie die Halle betraten. Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Die Erinnerungen an den Mondstein waren immer noch allgegenwärtig.

»Ihr beide schon wieder?«, fragte er ungläubig, ohne sich in Richtung von Epimetheus und Hekate umzudrehen.

»Du hast dich nicht an unsere Abmachung gehalten!«, giftete Epimetheus.

»Wieso? Soweit ich mich erinnern kann, wolltest du Pandora wiederhaben«, erwiderte Thanatos sanft.

»Das ist nicht Pandora!!!« Das Echo von Epimetheus’ Stimme hallte von den Wänden wider.

Langsam drehte sich Thanatos um. Zwischen den Säulen standen die beiden Eindringlinge.

Anklagend richtete Epimetheus den Finger auf den Totengott. »Du hast mir eine Untote gebracht!«

»Ja, das habe ich!« Ein Zucken an Thanatos’ Schläfe verriet, wie aufgewühlt er war. Am liebsten hätte er den jungen Mann in eine Feuersäule verwandelt. »Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr an meine exakten Worte, aber ich habe dir gesagt, dass sie nicht dieselbe wäre, wenn ich sie dir wiedergäbe. Es wäre nicht die Frau, die du kennen und lieben gelernt hast! Du hörst ja nicht, Jüngling! Du hörst mir nicht zu!«

Epimetheus wandte sich an die Frau an seiner Seite. »Töte ihn! Ich will, dass du ihn vernichtest!«, forderte er von ihr. Hekate musterte ihn scharf. Ihre Hand war zu einer Faust geballt. Thanatos sah zu ihr herüber. Ganz langsam öffnete Hekate ihre Hand und auf ihrer Handfläche leuchtete der Mondstein. Verfluchtes Lunarit!

»Wie ich sehe, hat die Klügere von euch beiden jetzt das Sagen! Ich habe mein Wort gehalten. Du hast die Kontrolle über die tollwütigen Seemänner erhalten!«

»Was bist du?«, wollte Hekate von ihm wissen.

»Ich verstehe die Frage nicht!«

»Du bist der Todestrieb. Du wirst getrieben von Hass und Wut. Dein ist die Rache!«, sagte Hekate ernst und fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare. »Wir beide wären unglaublich dumm, wenn wir dich einfach so gehen lassen würden.« Sie machte einen Schritt nach vorne. Dabei fiel Thanatos auf wie unglaublich schmal und zierlich ihre Füße waren. Er war ein unglaublicher Fußfetischist und einmal mehr musste er neidlos anerkennen, dass Hekate wunderschöne Füße hatte. Aber diese Frau war sehr gefährlich. Er durfte sich nicht ablenken lassen!

Hekate schnippte mit dem Finger. Vor ihr materialisierte sich wie von Geisterhand ein gläserner Kasten. Thanatos Augen weiteten sich. »Eine Hyperkapsel?«, fragte er ungläubig. »Warum?«

»Du bist ein zu großes Risiko!«, antwortete Hekate. »Früher oder später würdest du uns beiden in den Rücken fallen und glaube mir, das würde weder mir noch Epimetheus gefallen!«

»Das kannst du nicht machen!«, rief Thanatos. Es widerte ihn an, aber er hob flehend die Hände. »Ich habe alles gemacht, was ihr wolltet, tut das nicht!«

»Es tut mir leid, mein alter Weggefährte!«, entgegnete Hekate. Ihre Entschuldigung war heuchlerisch und ihre Augen leuchteten voller Schadenfreude. Ihr machte die ganze Sache großen Spaß. »Die Erde war noch jung, als wir hier eintrafen. Wir hatten eine lange Reise hinter uns. Von Stern zu Stern. Erinnerst du dich noch an den Hyperschlaf«, wollte Hekate von ihm wissen.

»Bitte!!!«

»Es war eine halbe Ewigkeit!«

»Nein!«, stammelte Thanatos.

Hekate wandte sich an Epimetheus: »Öffne die Kapsel!«

Epimetheus schüttelte den Kopf. »So einfach geht das nicht! Die Kapsel ist auf unsere Schwingungen programmiert. Du musst mir helfen!«

Ohne den Blick von Thanatos zu nehmen, trat Hekate vor den Sarg und legte ihre Hand auf die gläserne Oberfläche. Epimetheus grinste Thanatos herausfordernd an. Dann legte auch er seine Hand auf das gläserne Paneel auf der anderen Seite. Mit einem lauten Zischen öffnete sich die Glasfront; Dampf strömte aus dem Inneren.

»Schlaf gut!«, sagte Epimetheus.

»Das werdet ihr noch bereuen!«, knirschte Thanatos und jeder Muskel in seinem Gesicht spannte sich an. Seine Züge verzerrten sich und in diesem Moment glich er mehr einem Dämon als einem Menschen. Etwas Teuflisches nahm von ihm Besitz.

Hekate streckte ihm die Hand mit dem Mondstein entgegen. »Ich, Hekate, die glorreiche Magna Mater, befehle dir, Thanatos, dich in die Hyperkapsel zu legen und den Schlaf des Gerechten zu schlafen!«

»Nein!« Thanatos spürte, wie er unwillkürlich einen Schritt auf die Hyperkapsel zuging. Sein ganzer Körper rebellierte dagegen, doch der Schmerz, den ihm das Lunarit zugefügt hatte, war noch so omnipräsent, dass jede Faser seines Körper nachgab und das tat, was Hekate von ihm verlangte. Schritt für Schritt näherte er sich der gläsernen Kapsel.

»Neiiin!« Sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Nie wieder wollte er solche Schmerzen spüren.

»Sei ohne Sorge, ab jetzt werde ich deine Aufgaben übernehmen. Das Totenreich wird eine neue Herrscherin bekommen«, sagte Hekate mit zufriedener Miene, während sie zusah, wie der Totengott in die Hyperkapsel stieg – jede Faser seines Körpers war angespannt. Er kämpfte dagegen an, doch sein Fleisch war schwach.

Thanatos legte sich hin. Der gläserne Sarg war bequem, sein Körper sank tief in das Stoffpolster ein. Mit weit geöffneten Augen, das Gesicht zu einer dämonischen Fratze verzerrt, beobachtete er wie Hekate und Epimetheus erneut die Hyperkapsel berührten. Ein lautes Zischen ertönte, langsam senkte sich wieder die Glasfront und verriegelte sich von innen. Das Glas isolierte jedes Geräusch von außen. Und dann setzte die Kälte ein. Eine Kälte, wie er sie nur einmal zuvor gespürt hatte … Als die Olympioi durch die Weiten des Multiversums gereist waren. Er hatte dieses Gefühl fast schon vergessen. Und mit der Kälte kam die Finsternis …

Der Cowboy erbrach ein zweites Mal bitterschmeckende Galle. Sein Körper fühlte sich an, als habe man ihn durch einen Fleischwolf gedreht und anschließend versucht, aus der fleischigen Masse wieder einen Menschen zu formen. Er stöhnte laut auf. Das Denken fiel ihm ausgesprochen schwer. Die Nachwehen der Vision waren besonders schlimm. Er hob die Hand an den Kopf, stöhnte erneut und versuchte, sich auf den Beinen zu halten.

»Warum machst du das?«, krächzte er, und sein Mund fühlte sich an, als hätte er einen Eimer mit Sand geschluckt. »Bist du pervers oder was?«

»Du musst die wahre Geschichte kennen. Du musst wissen, wie ich in diese Hyperkapsel gekommen bin«, antwortete Thanatos. »Hekate und Epimetheus haben einen Mondstein eingesetzt, um mich willig zu machen. Nachdem ich ihre Wünsche erfüllt habe, sperrten sie mich in die Kapsel und versetzten mich in einen künstlichen Hyperschlaf.«

»Ein weiser Mann hat mal gesagt, dass man dem Primus nicht trauen kann«, sagte der Cowboy und musste dabei an Pfarrer Wetzel denken. Der Pfarrer war der festen Überzeugung gewesen, dass der Primus ein falsches Spiel trieb. Wie recht der Geistliche doch gehabt hatte! Und jetzt war er tot!

»Du liegst in dieser Kapsel und trotzdem stehst du mir gegenüber! Wie kann das sein?«

»Der Hyperschlaf lässt nach. Das Kältefeld wurde über die Jahrhunderte immer schwächer. Dies ist der Grund, warum ich mit dir Kontakt aufnehmen konnte und warum du mich hier stehen siehst.«

»Hört sich schräg an!«

»Ich liege im Hyperschlaf, aber ich kann hin und wieder ein mentales Abbild meiner selbst in die Wirklichkeit schicken. Der Hyperschlaf ist nicht konstant, sondern verläuft in Phasen. In besonders leichten Schlafphasen kann ich mein Gefängnis verlassen«

»Mann, da hast du ja echt die Arschlochkarte gezogen!«

»Das kann man so sagen.«

»Ich soll dich also aus deinem gläsernen Gefängnis befreien?«, fragte der Cowboy und begann, den Kubus von Neuem zu inspizieren. »Wie bekomme ich diese Kiste auf?«

Thanatos schüttelte den Kopf. »Gar nicht! Nur die, die mich in dieses gläserne Gefängnis gebracht haben, können mich daraus befreien!«

»Dann haben wir ein Problem, Kumpel«, sagte der Cowboy, zuckte mit den Schultern und deutete mit seinem Zeigefinger auf den Mann mit der roten Haut. Ein wissender Ausdruck schlich sich in seine Gesichtszüge. »Aaah, jetzt verstehe ich es! Du willst, dass ich dir einen großen, fetten Wolf besorge. So einen mit acht Augen und der die Gestalt einer gutaussehenden Frau mit ordentlichem Holz vor der Hütte annehmen kann.«

»Kluges Kerlchen! Aber wir werden auch Epimetheus benötigen, um mich zu befreien«, erwiderte Thanatos und deutete eine Verbeugung an. In diesem Augenblick wurde seine Gestalt unscharf, als blickte man durch einen teiltransparenten Schleier hindurch. Die Umrisse fingen an zu flackern. Der Cowboy blinzelte mehrere Male, dachte sich aber nichts dabei, weil ihm immer noch schwindlig war.

»Ich kann nicht mehr lange hier sein!«, rief Thanatos mit verzerrter Stimme. »Die Tiefschlafphase beginnt gleich wieder …«

»Was soll ich machen?«, wollte der Cowboy wissen.

»Du musst mir Hekate und den Mann bringen, den du selbst den Primus nennst. Nur sie können mich aus meinem Gefängnis befreien!«

»Wie soll das gehen? Du verlangst sehr viel von jemandem wie mir. Diese Xanthippe ist definitiv eine Nummer zu groß für mich. Und Leonhard Hoyer … Keine Ahnung, wo der ist.«

»Du trägst eine Essenz von mir in deiner Seele!«

»Das hilft mir ja sehr weiter!«, rief der Cowboy spöttisch.

»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit …« Die Stimme von Thanatos war kaum noch zu verstehen. Sein Abbild fing immer stärker an zu flackern. Die Konturen begannen sich in kleine Pixel aufzulösen. Zuerst die Umrisse, dann die komplette Gestalt. Es kam ein leichter Wind auf, der die Farbpunkte in Richtung Decke trieb.

»Folge Jeremy Slater … Du bist nicht der Einzige, der … Ich komme wieder …«

Die letzten Worte waren nur noch ein leises Wispern. Dann war von Thanatos nichts mehr übrig. Die Pixel stoben in alle vier Richtungen davon.

»Na, super!«, sagte der Cowboy und kratzte sich am Hinterkopf. Die Sache mit Hekate und dem Primus hatte ihm gerade noch gefehlt!

Der Schreiberling

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