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ОглавлениеFast hundertfünfzig Jahre später in den Tiefen des Odenwaldes …
Zwischen Reichelsheim und Michelstadt gab es eine Landstraße, die durch ein Feld-, Wald- und Wiesengebiet führte, das die Einheimischen liebevoll die »Hutzwiese« nannten. Woher der Name kam, konnte niemand wirklich erklären. Selbst der Präsident des Odenwälder Trachtenvereins konnte nur mit den Schultern zucken und darauf hinweisen, dass die Hutzwiese schon immer so geheißen hätte. Die Hutzwiese war eben die Hutzwiese! Dort lebten nur vereinzelt Menschen, die ihre Häuser in unmittelbarer Nähe der Landstraße bauten, denn die angrenzenden Areale waren weiträumig Naturschutzgebiete. Die Landstraße führte durch dichtes Waldgebiet, manchmal in engen Serpentinen, aber auch in langen Strecken, die einfach nur geradeaus verliefen. An einem der höchsten Punkte inmitten des Waldes lag das Gasthaus »Die vier Tannen«, ein beliebtes Ziel für alle Odenwälder, aber auch für Leute aus den angrenzenden Städten wie Darmstadt oder Frankfurt, war es doch für seine hervorragenden Wildgerichte bekannt (Wild, das direkt von den grünen Auen der Hutzwiese stammte). In dem Gasthof konnte man sonntags einfach mal die Seele baumeln lassen und die kulinarischen Besonderheiten des Odenwaldes genießen. Vergessen war für wenige Augenblicke der Stress des Alltags, dem die Stadtmenschen ausgesetzt waren. Allerdings hatte es auf der Landstraße schon viele Verkehrstote gegeben, denn die Besucher der Gaststätte achteten nicht auf ihren Alkoholkonsum. Zu verlockend war das Angebot an Rotweinen, insbesondere aus dem angrenzenden Groß-Umstädter Weingebiet. Und so kam es, dass viele Gäste die Heimreise in volltrunkenem Zustand antraten, der manchen unbeteiligten Autofahrer schon das Leben gekostet hatte. Aber auch Motorradfahrer blieben nicht verschont, denn die Serpentinen waren tückisch und der eine oder andere Raser war an einem der massiven Baumstämme mit seiner Maschine im wahrsten Sinne des Wortes zerschellt.
Unterhalb der Gaststätte gab es in einer Kurve eine Reihe von Häusern, die offiziell zur Gemeinde Reichelsheim zählten. Es waren Bauernhöfe, aber auch Häuser, die im ländlichen Stil errichtet waren.
In einem dieser einfachen Fachwerkhäuser lebte Hubert Arras, den seine Nachbarn gemeinhin als Sonderling abtaten. Jeder in Reichelsheim kannte den Hubert, denn er fiel auf, wenn man an ihm vorbeifuhr oder ihn in der örtlichen Tanzbar sah. Er selbst hatte sich den Spitznamen »Don Tiki« gegeben und bestand auch darauf, dass man ihn mit diesem Namen ansprach. Der Name stammte von einer weitgehend unbekannten Musikband aus Hawaii, die an eine exotische Welt aus den Fünfzigerjahren erinnerte, als jede amerikanische Stadt eine eigene Tiki-Bar hatte, die den Geist der geheimnisvollen Götter Polynesiens heraufbeschwor. Ähnlich wie »Die vier Tannen« boten diese exotischen Szenebars einen Rückzug aus der stressigen Alltagswelt in ein Paradies aus Harfenklängen, Bongos und anmutigen Hulatänzerinnen.
Don Tiki war immer in Hawaiihemden gekleidet, wenn er auf den Straßen von Reichelsheim zu sehen war. Sein ganzer Kleiderschrank war voller Hemden, die meisten davon stammten aus den Textilfabriken von Reyn Spooner, die seit 1956 Original-Hawaiihemden in den verschiedensten Farben und Designs herstellten. Egal, welches Wetter herrschte, Don Tiki war auch im Winter mit kurzen Khakihosen anzutreffen. Seine Augen versteckte er hinter einer dieser großen Sonnenbrillen, wie sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren einst modern gewesen waren. Er besaß nur noch einen kleinen schütteren Haarkranz, der seinen kahlen Kopf umsäumte und Erinnerungen an die Tonsur eines Mönches erweckte. Ja, Don Tiki war ein Sonderling und ein Reichelsheimer Original! Die Leute erinnerten sich an den Freak, wo auch immer er auftrat.
Nicht weniger sonderbar war auch sein altes Fachwerkhaus in der Hutzwiese, das seinen Eltern gehört hatte, die im vergangenen Sommer verstorben waren. Nach dem Tod der Eltern hatte er Haus und Hof nach seinen exotischen Wünschen verändert: Überall standen große Tiki-Masken, lang gezogene Schädel mit mythischen Fratzen, die die polynesischen Götter darstellten. An dem großen Hoftor hingen sogenannte Lei-Kränze aus künstlichen Blumen, wie man sie zur Begrüßung auf Hawaii geschenkt bekommt. Im Hof gab es mehrere Plastikpalmen, die so kitschig aussahen, dass sich den Nachbarn beim Anschauen die Fußnägel hochrollten. Am Abend brannten Ölfackeln vor der Einfahrt, die die Holzmasken der Tiki-Götter zum Leben erweckten. Viele Autofahrer bremsten ab, wenn sie an dem Fachwerkhaus von Hubert Arras vorbeifuhren, weil sie hofften, einen kleinen Einblick in eine kitschige Hinterwälderwelt zu bekommen, die so abnormal war, dass sie schon wieder faszinierte.
Während des Sommers saß Don Tiki stets in seinem Hof, hatte eine Ukulele in den Händen, zupfte gedankenversunken ein paar Saiten (denn spielen konnte er nicht) und lauschte den hypnotischen Klängen der Tiki-Musik, die aus den Lautsprechern ertönte, die er überall angebracht hatte. Meistens hörte er Lieder von seiner gleichnamigen Lieblingsband, aber auch Stücke vom Godfather of Tiki-Music Martin Denny (dessen Bild natürlich in seinem Wohnzimmer hing). Les Baxter und Arthur Lyman durften auch nicht fehlen. Obwohl das Tiki-Gedudel den Nachbarn tierisch auf den Sack ging, hatten sie es aufgegeben, die Polizei zu rufen. Don Tiki war stur und ließ sich keines Besseren belehren. Sobald die Streife wieder weg war, schaltete er die Musik an und ließ sich von den schwingenden Rhythmen betören.
In einer heißen Sommernacht kam es durchaus vor, dass er in seinem Liegestuhl mit einem Cocktail in den Händen einschlief und erst am frühen Morgen, wenn es wieder hell wurde, sein Bett aufsuchte.
Es war eine jener Sommernächte, in denen Don Tiki sich vom Geist des Alkohols benebeln ließ. Zusammen mit seinem Freund Mike aus Beerfurth versuchten sie, ein paar Cocktails, wie etwa den berühmt berüchtigten »Long Island Ice Tea«, zu kreieren. Der viele Rum stieg Don Tiki schon sehr früh zu Kopf. Irgendwann fielen ihm die bleiernen Augenlider zu und er versank in einen traumlosen Schlaf. Er bemerkte nicht einmal, dass sein Kumpel Mike gegangen war, um den Heimweg nach Beerfurth anzutreten.
Plötzlich riss ihn ein Knall aus seinem alkoholgeschwängerten Schlaf. Augenblicklich war er hellwach. Das halb volle Cocktailglas auf seinem Schoß wurde mit einer fahrigen Bewegung seiner Hand auf den Boden geschleudert und zersplitterte dort. Sein Herz klopfte bis zum Anschlag, und er brauchte einige Augenblicke, um sich zu orientieren. Das unbekannte Geräusch hallte wie ein Echo von den bewaldeten Bergen wider, bevor es ganz verstummte.
Don Tiki erhob sich aus seinem Liegestuhl. Mit hastigen Schritten überquerte er den Hof seines Hauses und wäre um ein Haar gestolpert, da sein rechter Badeschuh auf dem unebenen Kopfsteinpflaster hängen blieb. Er passierte den Torbogen und blickte hinaus auf die Landstraße. Es war stockdunkel, kein Auto weit und breit. Die Häuser in der Nachbarschaft lagen in kompletter Dunkelheit.
»Was zum Teufel …«, fluchte er und kratzte sich an seinem Stoppelbart. Sein Kopf schmerzte vom vielen Alkohol; er hörte das Blut in seinem Schädel rauschen. Die Umgebung lag in einer unheimlichen Stille. Don Tiki trat auf die Landstraße, blickte nach links und rechts, doch die Dunkelheit schien die nähere Umgebung förmlich verschluckt zu haben. Die einzige Straßenlampe am Wegrand funktionierte schon seit vielen Jahren nicht mehr. Wo ist Mike?, fragte er sich. Wahrscheinlich bin ich im Vollrausch eingeschlafen und Mike hat sich auf den Heimweg nach Beerfurth gemacht. Möglicherweise hatte sich sein Kumpel sogar von ihm verabschiedet, aber davon hatte er nichts mehr mitbekommen, da der Long Island Ice Tea seine Sinne benebelt hatte. Er nahm sich einmal mehr vor, das Trinken zu reduzieren. In der letzten Zeit war es eindeutig zu viel geworden. Er war langsam an dem Punkt angelangt, wo er sein Trinkverhalten nicht mehr unter Kontrolle hatte. Das musste jetzt aufhören! In einer Fernsehsendung hatte er einmal gesehen, dass Menschen halluzinierten während des Übergangs vom tiefen Schlaf zum Wachbewusstsein. Wahrscheinlich hatte sein Hirn ihm eine akustische Halluzination vorgetäuscht. Er wollte die ganze Sache schon abtun, als er das Leuchten in der Ferne im Wald sah. Zwei-, nein, dreimal flackerte es kurz auf, als würde man einen Scheinwerfer ein- und ausschalten.
Don Tiki kniff die Augen zusammen, weil er glaubte, dass er wieder einer Halluzination auf den Leim ginge, doch da tauchte das Leuchten erneut auf und hielt diesmal sogar länger an, tauchte die Bäume in ein fluoreszierendes Licht. Irgendjemand trieb sich in den Wäldern entlang der Landstraße herum.
Unsicher kratzte er sich am Hinterkopf. Sollte ich nachschauen? Doch zwei unterschiedliche Gefühle kämpften in seiner Brust: Zum einen seine Neugierde, denn er war von Natur aus ein sehr neugieriger Mensch, was bei einem waschechten Odenwälder aber auch kein Wunder war. Und zum anderen das Gefühl von Angst, denn niemand mit einem halbwegs gesunden Menschenverstand trieb sich gerne freiwillig nachts in den Wäldern herum. Erst vor Kurzem war die arme Frau Arras von einem Wildschwein erfasst und getötet worden. Sie war im Wald joggen gewesen und auf ein Rudel Wildschweine gestoßen. Statt wie ihr Partner sich vorsichtig zu entfernen und das Weite zu suchen, war sie auf die Tiere zugegangen und hatte versucht, sie zu verjagen. Dies hatte sie mit ihrem Leben bezahlen müssen. Die Tiere trampelten sie nieder und schlitzten die ungeschützten Beine mit ihren Hauern auf. Frau Arras war binnen weniger Minuten verblutet.
Ja, Don Tiki hatte Respekt vor diesen Wäldern. Denn neben den Wildschweinen gab es auch immer wieder Gerüchte über Banden aus den Ostblock-Ländern, die im Wald ihr Unwesen trieben und Wanderer überfielen. Doch seine Neugier überwog, auch wenn sie die Angst nicht vollkommen vertreiben konnte. Diese blieb wie ein Residuum in seinem Unterbewusstsein zurück und flammte immer wieder auf.
Don Tiki ging zurück in den Hof und holte sich eine alte Heugabel aus dem Schuppen. Mit dieser Waffe fühlte er sich gleich sehr viel wohler. Wenn ihm jemand etwas antun wollte, dann würde er die drei spitzen Zinken zu spüren bekommen.
Die Heugabel mit beiden Händen fest umklammernd, schlich Don Tiki über die Landstraße in Richtung Wald.
Es gab eine große Wiese, die einem Bauer von den Windhöfen gehörte, die den Bäumen vorgelagert war. Das Gras reichte ihm bis zu den Knien. Seine Badelatschen waren äußerst unpraktisch im hohen Gras, doch er wäre nie auf die Idee gekommen, sich anderes Schuhwerk anzuziehen. Sein Blick war strikt auf die angrenzenden Bäume gerichtet. Immer wieder flackerte für einen kurzen Augenblick dieses seltsame Licht auf. Manchmal leuchtete es aus den Wäldern sogar für mehrere Sekunden. Vielleicht waren es Jugendliche, die dort oben zelteten und sich einen Spaß erlaubten.
Es dauerte eine gefühlte halbe Stunde, bis er die Wiese überquert hatte. Er musste mehrere Male anhalten, weil er ab und zu im Gras seine Latschen verlor. Dann stand er vor den Bäumen; das Leuchten hüllte ihn in ein unheimliches Licht. Nervös leckte er sich über die Lippen. Und auf einmal war seine Neugierde verschwunden. Zurück war die Angst, die ihn zur Salzsäule erstarren ließ. Vielleicht war es besser, zurück ins Haus zu gehen, sich einen ordentlichen Schluck Rum einzuschenken (da war ja noch eine wunderschöne Flasche »Diplomatico Ambassador«, die ungeöffnet ihr langweiliges Dasein in seiner selbstgebauten Tiki-Bar im Keller fristete) und schlafen zu gehen. Manche Dinge sollten vielleicht besser im Verborgenen bleiben. Während er noch wie erstarrt dastand und nicht wusste, was er machen sollte, drang das Leuchten immer wieder zwischen den Baumstämmen hervor, eine Art Flackerlicht, das einer zufälligen Frequenz folgte.
»Nur noch ein paar Meter!«, murmelte er und versuchte, sich Mut zuzusprechen. Seine Stimme klang seltsam trocken und heiser. Vielleicht sollte er umkehren und seine Kehle mit dem Diplomatico befeuchten.
»Nur noch ein paar Meter!«, sagte er erneut, nachdem er immer noch verharrte. Ganz langsam setzte er sich in Bewegung, einen Schritt vor den anderen. Dann tauchte er zwischen den Bäumen hindurch und befand sich im Wald. Es gab keinen Weg, das Terrain war ziemlich schwierig zu meistern, denn überall wucherte Gestrüpp um ihn herum.
Das Leuchten wurde immer intensiver, je näher er der mysteriösen Lichtquelle kam. Obwohl er sich seine Khaki-Hose an einer Dornenhecke aufriss, kam kein Fluch über seine Lippen. Sein Herz arbeitete in einem wilden Stakkatotakt. Er glaubte, dass man ihn meilenweit hören müsse, denn überall raschelte es, während er sich fortbewegte.
Bäume und Sträucher machten nun einer hügeligen Lichtung Platz. Und auf einmal wusste Don Tiki, woher das Licht kam. Er schalt sich einen Narren, dass es ihm nicht schon früher eingefallen war. Hier im Wald gab es einen alten Luftschutzbunker aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Dort hatten sein Vater und sein Großvater mit ihren Familien Schutz gesucht, als die Alliierten den Odenwald bombardierten. Nach dem Krieg war der Bunker versiegelt worden und der Pfad dorthin war im Laufe der Zeit von der Natur zurückerobert worden. Die wenigsten Menschen wussten, dass es hier einen Bunker gab.
Jetzt war die Neugierde wieder da, stärker als zuvor. Er wollte wissen, welcher Vollidiot sich nachts in den Wäldern herumtrieb und an dem Bunker zu schaffen machte. Das war eine Geschichte für Mike und seine Stammtischbrüder! Er wäre in Reichelsheim das Gesprächsthema Nummer 1. Er, der Mann im Hawaiihemd! Vorsichtig näherte er sich der Lichtung und versuchte, so leise wie möglich zu sein. Er biss sich auf die Zunge, als ein trockener Ast unter ihm knackte. Der Geschmack von Blut füllte seinen Mund, und er versuchte, es mit seinem Speichel hinunterzuschlucken.
Vor ihm tat sich die Lichtung auf, und er konnte direkt auf den höhlenartigen Unterschlupf blicken, den seine Familie während den Bombardierungen aufgesucht hatte. Der Bunker selbst war von Granitfelsen umgeben. Dahinter ragten mächtige Tannen in die Höhe, die in der Finsternis wie übergroße Speerspitzen aussahen.
Jemand hatte das Gitter aufgerissen, denn das Tor hing in einem schiefen Winkel lose in den Angeln. Und Don Tiki hatte Recht gehabt! Das Leuchten drang aus den Tiefen des Bunkers.
Don Tiki blieb wie angewurzelt am Rand der Lichtung stehen und blickte in den leuchtenden Schlund. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und er spürte ein penetrantes Ziehen in der Nackengegend, als sich die Muskeln verkrampften.
Wer in Gottes Namen war so verrückt, in einen Weltkriegsbunker einzudringen? Die Teile waren einsturzgefährdet und konnten bei der kleinsten Unvorsichtigkeit in sich zusammenfallen.
Ihn beschlich immer mehr das Gefühl, dass sich ein paar betrunkene Jugendliche in dem alten Tunnelsystem aufhielten. Ein normaler Mensch würde nie auf eine solch blöde Idee kommen. Er ärgerte sich, dass er sich wegen ein paar Vollidioten beinahe in die Hose gemacht hätte. Der Mann im Hawaiihemd wollte schon auf die Lichtung treten, als etwas aus dem gähnenden Loch trat. Jetzt war die Panik so übermächtig groß, dass er nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen. Seine Sinne weigerten sich zu akzeptieren, was er da sah. Dieses Etwas war weder ein Mensch noch ein Tier. Vielleicht ein Konglomerat aus beiden Gattungen, doch sein Gehirn weigerte sich, ihm eine vernünftige Erklärung zu geben.
Das Wesen besaß einen insektenhaften Hinterleib, der entfernt an eine Wespe erinnerte. Die Beine waren nicht dünn, sondern stämmig und mündeten in klauenartige Gliedmaßen, die sich beim Gehen in die lose Erde gruben. Auf dem Rücken waren zwei übergroße durchsichtige Flügel, die im Mondlicht grünlich schimmerten. Der Oberkörper glich zwar dem eines Menschen, war aber mit einer Schicht aus dunklem Horn überzogen, das die nackte Haut wie einen Plattenpanzer bedeckte. Es gab keinen Kopf, sondern ähnlich wie bei einer Blume eine dichte Fülle von Stielen, die in ovalen Blüten mündeten. Die Kreatur blieb am Eingang des Bunkers stehen, sodass sie vom Mondlicht vollkommen erfasst wurde. Don Tiki erschauderte, als er sah, dass es keine Blüten waren, sondern viele kleine Augen – nicht größer als ein Fingernagel —, die auf den Stielen ruhten und unruhig blinzelten. Die Augen blickten ganz langsam von rechts nach links über den Rand der Lichtung. Don Tiki hielt den Atem an. Dann richteten sich die Augen des Wesens auf den kauernden Mann im Dickicht und verweilten dort. Der Mann im Hawaiihemd blickte auf die Fülle von Augen, die ihn musterten. Am liebsten wäre er auf der Stelle umgekehrt und bis nach Reichelsheim ins Tal oder sogar noch weiter gerannt. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Etwas blockierte sämtliche Muskeln in seinem Körper.
Die Augen des Wesens blinzelten stetig fort, und es war ihm, als schienen sie ihn in ihren Bann zu ziehen. So muss sich Hypnose anfühlen!, dachte er vollkommen verängstigt. Und dann war da plötzlich eine Stimme in seinem Kopf, als würde man ein Radio aufdrehen. Doch die Stimme war nicht menschlich. Er glaubte, dass ein Computer mit ihm redete, der versuchte, eine menschliche Stimme nachzuahmen.
Verschwinde von hier, Mensch!
Langsam drehte sich das Wesen wieder um, zog die Flügel ein und verschwand in den Tiefen des Bunkers. Mit dem Verschwinden der Kreatur brach der Bann. Don Tiki konnte seinen Körper wieder kontrollieren. Doch die künstlichen Worte hallten in seinen Gehirnwindungen wider und schienen nicht aufzuhören. Verschwinde von hier! Verschwinde von hier, Mensch! Verschwinde, Mensch …
Don Tiki wirbelte herum und rannte so schnell wie noch nie zuvor in seinem Leben. Bei den Bundesjugendspielen hatte es früher nie für eine Siegerurkunde gereicht. Heute hätte er eine Ehrenurkunde bekommen! Mit einer ungeheuren Energieleistung rannte er durch das Dickicht zurück in Richtung Haus. Es war ihm egal, dass er dabei sein kostbares Reyn-Spooner-Hemd aufriss und seine Badelatschen verlor. Er wollte nur noch weg von diesem Ort. Einfach nur weg und in Sicherheit!
Verschwinde von hier, Mensch!
Der Tross von Reitern erreichte das Stammhaus in den Abendstunden. Desmond Pickett ritt auf seinem Pferd voran, seine Männer hielten einen gewissen Abstand zu ihrem Boss. Pickett wischte sich die Schweißperlen von seinem Schädel, während er langsam auf das große Hoftor zuritt.
Links und rechts erhoben sich braune Erdhügel, die von Weitem wie frisch ausgehobene Gräber aussahen. Doch bei näherem Hinsehen entpuppten sich die vermeintlichen Gräber als riesige Ameisenhügel. In den Hügeln tummelten sich Millionen von gefräßigen Insekten. Als er an den Kolonien vorbeiritt, erblickte er die weißen Knochen, die aus den Hügeln herausragten. Hier und da sah man einen Totenkopf grinsen. Die Ameisen hatten die Knochen so abgenagt, dass nur noch die bleiche Farbe zu sehen war. Dies war Picketts Art, um die leblosen Körper seiner Widersacher loszuwerden. Nachdem die Ameisen ihr gefräßiges Werk vollbracht hatten, wurden die Schädel gereinigt und poliert. Auf die Schädel klebte man mit Leim indianische Türkise und befestigte sie anschließend an dem großen Hoftor der Ranch.
Sie glänzten blaugrün in der Sonne, als Desmond Pickett durch das Tor ritt. Die Knochen waren ein bizarres Kunstwerk von ganz besonderer Wirkung: Leg dich bloß nicht mit Desmond Pickett an!
Die Ranch bestand aus drei zweistöckigen Holzhäusern, die u-förmig angeordnet waren, und trug den Namen Three-Pearls-Ranch, in Anlehnung an die drei Gebäude, die Picketts Vater in einer Zeit errichtet hatte, als dieser noch in den Windeln lag. In der Mitte der Holzhäuser befand sich ein großer Hof mit einem Brunnen.
Ein Diener kam mit einem Handtuch und einem Krug frischen Wassers herbeigeeilt. Pickett stieg von seinem Pferd, nahm wortlos das Handtuch in die Hand und begann, den Staub von seinen Reitstiefeln zu wischen. Ein weiterer Bediensteter trat aus dem Haupthaus, das hinter dem Brunnen lag, und nahm das Pferd entgegen, um es zu striegeln. Pickett gab dem Diener das Handtuch zurück und griff nach dem Krug. Das Wasser stammte aus seinem Brunnen und wurde in Fässern im Keller des Gebäudes gelagert, sodass es während der Hitze des Tages schön kühl blieb. Gierig trank Pickett, wobei das kühle Nass an seinem Mundwinkel herunterfloss.
Gary, das Rattengesicht, gesellte sich zu seinem Boss, die Hände in die fleckige Westentasche gesteckt. »Kann ich noch etwas für Sie tun, Boss?«
»Schnapp dir Ricardo und reite nach Cheops! Wir haben den Fünfzehnten und die Schutzgelder sind fällig. Der Bankier soll euch alles aushändigen.«
»Sollen wir anschließend wieder zurückreiten?«
Desmond Pickett überlegte kurz, schüttelt dann aber den Kopf. »Bleibt bis morgen in der Stadt. Bringt in Erfahrung, was es Neues gibt in dem Puff.«
»In Ordnung, Boss!«
Pickett klopfte dem schlaksigen Kerl auf die Schulter und spürte, wie Garys Körper sich anspannte. Es schmeichelte ihm, dass seine Männer so großen Respekt vor ihm hatten. »Schnappt euch diese Tingeltangel-Girls und besorgt es ihnen ordentlich. Der Fick geht auf mich! Verstanden?«
Gary grinste über beide Backen und nickte demütig. »Vielen Dank, Boss!«
Desmond Pickett schenkte dem Rattengesicht keine weitere Beachtung mehr. Stattdessen rief er: »Hey, du da!«, einem jungen Mann mit pechschwarzem Haar zu, der als Halbblut zu erkennen war.
»Sir?«
»Sag dem gottverdammten Nigger, dass er uns was kochen soll!«
»Aye, Sir!« Der Mann mit den indianischen Wurzeln beeilte sich, aus dem Aufmerksamkeitsbereich von Desmond Pickett zu verschwinden.
Desmond Pickett schritt über den sandigen Hof und erklomm die hölzernen Stufen des Haupthauses. Augenblicklich wurde die Eingangstür geöffnet und ein groß gewachsener Kerl, der einen teuren schwarzen Anzug trug, den wahrscheinlich ein Schneider aus der Stadt angefertigt hatte, erschien im Türrahmen. Die Messingpatronen in seinem Gürtel bildeten einen deutlichen Kontrast zu seiner schwarzen Kleidung. Seine beiden tief hängenden Colts standen weit vom Körper ab. Obwohl er schon älter war, ging etwas sehr Gefährliches von diesem Mann aus. Man konnte die Gefahr fast körperlich spüren. Sein verwittertes Falkengesicht verriet keinerlei Gefühl. Dieser Kerl war nicht nur ein Revolverheld, sondern auch ein eiskalter Killer.
Der Mann nickte Pickett zu. »Schon wieder zurück?«, fragte Willard und verschränkte die beiden Daumen in seinem Gürtel neben dem Revolverhalfter.
Müde winkte Pickett ab. »Wir haben ein paar Maverickjäger in die ewigen Jagdgründe geschickt!«
»Lass mich raten, die armen Kerle mussten singen, und du hast wie ein kleiner Bub vor ihnen gewichst, bis deine Hand geglüht hat.«
»Woher weißt du das?«
»Ich kenne dich besser als deine eigene Mutter, Desmond!«
»Du bist ja auch mein bester Mann!«
Die beiden Männer betraten das Haupthaus, in dessen Innerem es angenehm kühl war; die drückende Hitze blieb draußen zurück.
Desmond Pickett war ein sehr reicher Mann. Das Foyer war geradezu protzig eingerichtet: Auf dem Holzboden lagen kostbare Büffelfelle, über dem offenen Kamin, der aus Steinen erbaut worden war, hing der massige Schädel eines Longhorns. Doch die Mitte des Raumes füllte ein hochwertiges Sofa aus gegerbtem Leder, das ein kleines Vermögen gekostet hatte. Davor stand ein Tisch mit Kristallgläsern sowie mehreren Flaschen Bourbon, denn Desmond Pickett verabscheute anderen Whiskey wie die Pest. Eine geschwungene Treppe führte hinauf in den zweiten Stock. Dieser war als Galerie angelegt und man konnte von dort auf das Foyer herunterblicken. Doch der wahre Blickfang im Foyer war ein riesiger schwarz lackierter Klavierflügel, dessen offener Deckel sich neben dem Sofa wie die Schwinge eines majestätischen Schwans erhob. Es war das legendäre 791 Modell aus dem Hause Steinway, einer der ersten Flügel, die in der Neuen Welt gefertigt wurden. Desmond Pickett hatte den weiten Weg nach New York auf sich genommen und eine fürstliche Summe der Familie Steinway bezahlt. Der Weg hatte sich gelohnt. Kein anderes Klavier hatte einen so schönen Klang wie der 791 er.
Pickett beachtete Willard nicht länger, sondern ging zielstrebig auf den Flügel zu. Er nahm auf dem kleinen gepolsterten Lederschemel Platz und ließ seinen Blick über die Elfenbeintasten wandern, als wolle er sich vergewissern, dass alle 88 Tasten noch am rechten Platz waren. Dann verschränkte er die Finger ineinander und begann, diese kräftig zu dehnen, was schließlich in einem hörbaren Knacken der Gelenke endete. Erst jetzt ließ er die Finger über die Tasten gleiten, eine sanfte Liebkosung. Mit geschlossenen Augen begann Pickett zu spielen. Der Flügel hatte einen kräftigen Klang. Die Musik hallte bis in den letzten Winkel des Foyers. Es war ein melancholisches Lied, das dieser kahlköpfige Mann spielte. Die Melodie so zart und gefühlvoll gespielt, dass sie sofort das Herz jedes Zuhörers berührte. Fast andächtig nahm Willard seinen Hut ab und setzte sich auf die Ledercouch.
Die stählernen Gesichtszüge von Desmond Pickett entspannten sich schlagartig. Hier an seinem Flügel, da konnte er seinen inneren Frieden finden. Für einen Moment vergaß er die ständige Anspannung und seine Zwänge. Hier an diesem Flügel konnte er den Hass und die unbändige Wut hinter sich lassen. An diesem wunderbaren Instrument war er in der Lage, Gefühle zu spüren, die ihm sonst verschlossen blieben. Und so spielte er mit einem Engelsgesicht fast eine ganze Stunde. Willard saß auf der Couch, den Blick auf einen imaginären Punkt an der Wand gerichtet, versunken in seinen eigenen Erinnerungen.
Es kamen mehrere von Desmonds Männern ins Foyer, doch niemand wagte es, den Boss in seinem Spiel zu unterbrechen. Einige verharrten und lauschten den gefühlvollen Klängen, ehe sie förmlich auf Zehenspitzen in den angrenzenden Räumen verschwanden.
Die Melodien, die Desmond spielte, waren allesamt sehr melancholisch gefärbt. Aus ihnen sprach eine tiefe Sehnsucht nach etwas, was verloren gegangen war und niemals wiederkommen würde.
Plötzlich verstummte der Flügel, die letzten Klänge waren nur noch eine schwache Erinnerung. Willard erwachte aus seinen Gedanken und blickte in Richtung Pickett, dessen Gesichtszüge wieder angespannt waren. Sein haarloser Kopf glich einmal mehr einem Totenkopf.
»Die Männer haben Neuigkeiten von Jeremy Slater.«
Pickett schwieg, aber sein Gesicht sprach Bände, denn es verfinsterte sich noch mehr.
»Seine Maverickjäger haben am Yeoman-Canyon fast hundert Rinder gestohlen. Jetzt tragen sie das Brandzeichen der Blue-Lodge-Ranch.«
Noch immer zeigte Pickett keine Reaktion.
»Wir müssen diesem Bastard endlich zeigen, dass es in diesem Land nur ein Gesetz gibt. Und zwar unseres!«
Doch Picketts Gesicht war weiterhin wie versteinert.
»Desmond?«
»Hundert Rinder sagst du?«, fragte Pickett plötzlich, als würde er aus einem tiefen Traum erwachen.
»Yeah.«
Jetzt endlich erhob sich Pickett von dem kleinen Lederschemel und trat hinter dem Flügel hervor. Seine Gelenke knackten beim Gehen. »Weißt du, wenn das so weitergeht, wird es hier bald keine Rinder mehr geben. Und du weißt, was das heißt?«
»Die Siedler werden kommen!«, stellte Willard lakonisch fest.
»Ganz recht. Sie werden dieses Land einnehmen und verseuchen. Sie werden ihre verfluchten Kirchen errichten und stinkende Fabriken eröffnen. Dies ist das Land meiner Väter. Sie haben ihr Leben dafür gegeben. Kein verdammter Siedler wird sich hier niederlassen!«
»Mach das mal der Regierung klar!«
»Ich ficke die Regierung in den Arsch, wenn es sein muss!«
»Slater ist zu einem echten Problem geworden. Wir müssen handeln, Desmond.«
»Ich habe so eine verdammte Wut im Bauch«, zischte Pickett und sein ganzer Körper verkrampfte. Willard bemerkte, dass Picketts Schläfe pochte. Das war kein gutes Zeichen! Der Boss würde sich gleich abreagieren. Er konnte die Spannung förmlich spüren, die ihm von seinem Gegenüber entgegenschlug.
Hastig ging Desmond Pickett an dem Revolverheld vorbei, riss die Tür auf und trat auf die Veranda. Im Hof herrschte emsiges Treiben. Ein Leiterwagen wurde von mehreren Männern mit nacktem Oberkörper ausgeladen. Einige Köpfe blickten erwartungsvoll hoch, als sie Pickett sahen.
Desmond sah aus dem Augenwinkel den jungen Mann mit den indianischen Wurzeln, der gerade dabei war, eine Winchesterbüchse zu reinigen. Als ob das Halbblut Picketts wutentbrannten Blick spüren würde, blickte es von seiner Arbeit auf. Das Mündungsfeuer war das Letzte, was dessen Gehirn registrierte, bevor es in tausend Stücke geblasen wurde.
Pickett blies die Rauchfahne von seinem Colt und ließ die Waffe wieder in seinem Halfter verschwinden. Niemand sagte etwas. Die Männer starrten nur gebannt auf den zuckenden Körper des jungen Mannes, dessen Beine über den Boden schabten, als wollten sie nicht wahrhaben, dass sämtliches Leben aus dem Körper gewichen war. Die blaue Hose verfärbte sich dunkel, als sich die Blase zu entleeren begann. Auf dem Boden lag ein Teil seines Hirns.
»Glotzt nicht so blöd! Geht an die Arbeit!«, schrie Pickett seine Männer an. Und diesmal machte er sich nicht die Mühe zu schauen, ob sie seinem Befehl nachkamen. Wie ein Irrer wirbelte er herum und verschwand wieder im Haupthaus der Three-Pearls-Ranch.
»Geht's dir jetzt besser?«, fragte Willard.
»Um dieses dreckige Halbblut ist es nicht schade!«, erwiderte Pickett gereizt.
»Irgendwann wirst du noch den Nigger erschießen und das wäre verdammt schade. Keiner kann so gut kochen wie Earl.«
»Können wir jetzt essen?«
»Seit einer halben Stunde!«
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Niemand stört den Boss beim Klavierspielen! Ist schlecht für die Gesundheit«, antwortete Willard und klopfte Desmond auf die Schultern. »Selbst für einen Mann meines Kalibers!«, ergänzte er trocken.
»Geh schon mal vor, ich komme gleich nach. Ich möchte noch nach meiner kleinen Raubkatze sehen!«
»Ich werde Earl sagen, dass er das Essen warm halten soll. Wenn du zu deiner Raubkatze gehst, dann wirst du dich so schnell nicht mehr hier oben blicken lassen!«, meinte Willard mit einem fetten Grinsen im Gesicht.
»Nein, nein … ich komme gleich! Für heute habe ich mein Pulver schon verschossen!«
»Aye!«
Desmond Pickett winkte seinem besten Mann zu und verließ das Foyer durch eine kleine Tür in der Ecke des Raumes. Eine Treppe führte hinunter in den Keller. Das Haupthaus war das einzige Gebäude auf der Three-Pearls-Ranch, das unterkellert war. Der Keller beherbergte mehrere kostbare Weine aus der Alten Welt, für die Desmond Pickett ein halbes Vermögen bezahlt hatte. Die Flaschen waren mit Schiffen aus dem französischen Seehafen Saint Nazaire nach New York gekommen.
Der Boss der Three-Pearls-Ranch schritt an den Regalen vorbei, blieb hier und da kurz stehen, um eine besonders wertvolle Flasche in die Hand zu nehmen. Die Flaschen waren mit einer dicken Staubschicht überzogen; Desmond Pickett gönnte sich nämlich nur selten ein Glas Wein, denn dafür waren sie ihm zu kostbar. Für ihn war es mehr eine Sammlung an außergewöhnlichen Raritäten, mit denen er wichtige Gäste zu beeindrucken versuchte. Hinter den Regalen gab es eine geräumige Kammer, die durch ein rostiges Gitter verschlossen war. Desmond Pickett fischte einen kleinen Schüssel aus seiner Brusttasche. Im Nu hatte er das Gitter geöffnet und betrat das fensterlose Gewölbe. In früheren Zeiten hatte Pickett senior den Kellerraum als Waffenlager genutzt, doch jetzt befanden sich sämtliche Waffen und Munition in einem angrenzenden Gebäude der Three-Pearls-Ranch.
Der Geruch von Exkrementen wehte Pickett entgegen. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Am anderen Ende des Gewölbes rührte sich ein Schatten. Ketten klirrten über den Boden.
»Na, meine süße kleine Raubkatze, hast du mich vermisst? Hast du Sehnsucht nach mir und meinem besten Stück gehabt?«, säuselte Pickett und trat in die Richtung, aus der die Bewegung kam.
Aus der Dunkelheit schälte sich eine junge nackte Frau, die mit Händen und Füßen an schwere Ketten gefesselt war, welche an zwei massiven Eisenringen in der Wand endeten. Obwohl der Körper der Frau völlig verdreckt war, konnte man die alabasterfarbene Haut darunter schimmern sehen – ein Zeichen dafür, dass sie schon lange kein Sonnenlicht mehr gesehen hatte. Ihre langen schwarzen Haare reichten ihr fast bis zur Hüfte. Schaute man in ihre blauen Augen, die so klar und unergründlich waren wie ein Bergsee, konnte man sich darin verlieren. Hätte man sie in eine Wanne gesteckt, dann wäre dabei ein sehr ansehnliches weibliches Wesen hervorgekommen, dessen Körper für jeden Mann eine wahre Augenweide war. Sie war eine Frau, für die ein Mann – unter anderen Umständen – alles aufgegeben hätte. Dies war der wahre Schatz im Weinlager des Desmond Pickett!
Die Gefangene verkrampfte, als Desmond Pickett sich ihr näherte. Doch dann bemerkte sie, dass er ohne seine Handlanger gekommen war. Heute würde er ihren Körper nicht schänden!
»Komm näher, damit ich dich mit meinen verdammten Ketten erwürgen kann, du elender Bastard!«, erwiderte sie in einem harten slawischen Akzent. Pickett musterte sie, doch sein Gesicht verriet nichts von seinen lüsternen Gedanken und Gefühlen.
»Katerina, Katerina … was soll ich nur mit dir machen?«, fragte er und stemmte die Hände in die Hüfte. »Ich habe heute ein paar Maverickjäger aufgeknüpft. Sie haben dabei so schön für mich gesungen.«
Als er sich ihr noch einen weiteren Schritt näherte, hob Katerina die schweren Ketten vor sich, lauernd wie eine Wildkatze, die darauf wartet, dass man einen Schritt zu viel machen würde. Sie würde versuchen, ihn zu Boden zu reißen und dann mit den Ketten erwürgen. Doch Desmond Pickett hatte sich abgesichert und eine Markierung in Form eines weißen Kreuzes auf den Boden gemacht. Ihre Ketten waren zu kurz, um das Kreuz zu erreichen.
Katerina tat so, als würde sie das Kreuz auf dem Boden nicht sehen. Irgendwann einmal würde Pickett den entscheidenden Schritt zu viel machen. Und dann würde sie Rache an dieser Bestie nehmen und ihn qualvoll sterben lassen. Es war das Einzige, was sie noch am Leben hielt. Desmond Pickett würde sterben für das, was er ihr antat. Hier unten in der Dunkelheit hatte sie ihn schon unzählige Male sterben lassen. Dieser Gedanke war der einzige Rettungsanker, an den sie sich verzweifelt klammerte. Der einzige, der verhinderte, dass sie in einen Zustand geistiger Umnachtung fiel. Die Schwelle zum Wahnsinn war nur ein kleiner Schritt!
»Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn du für mich singen würdest«, sagte der kahlköpfige Mann und leckte sich dabei über die Lippen. »Wie es wäre, wenn du an einem Baum hängen würdest, nackt wie eine unschuldige Eva und das Leben ganz langsam aus deinem prächtigen Körper weicht!«
»Vorher werde ich dir die Kehle durchschneiden!« Trotz ihrer erbärmlichen Lage schwang da eine Mischung aus Sturheit und Stolz in Katerinas Stimme mit. Katerina Kurnikova war eine stolze Frau, sie würde Desmond niemals den Gefallen tun und ihn anflehen, dass er sie verschonte. Sie würde ihre Rache schon noch bekommen. Dieser Dreckskerl war tot, er wusste es nur noch nicht! In Gedanken verfluchte sie einmal mehr jenen Tag, als sie Pickett und seine Schergen auf dem großen Missouridampfer kennengelernt hatte.
»Du bist etwas ganz Besonderes, meine kleine russische Raubkatze!«, sagte Pickett, hauchte einen Kuss in ihre Richtung und verließ das Kellergewölbe wieder, nicht ohne die Gittertür zu sichern. »Earl soll morgen nach dir sehen und dich baden. Und dann wirst du vor Lust schreien und mich anflehen, nicht mehr aufzuhören. Ich freue mich, freue mich …«, rief er ihr noch zu. Dann kehrte er ins Foyer zurück und ließ eine gemarterte Frau mit ihren Rachefantasien allein in der Dunkelheit.