Читать книгу Ein letzter Tag mit dir - Patrick Osborn - Страница 10
Kapitel 4
ОглавлениеDie nächsten Tage vergingen rasend schnell. Emma sah weder ihre Mutter noch Hector. Claudia erhielt von ihrer Agentur den ersten Auftrag, und Hector musste ein paar Tage geschäftlich verreisen. Es war Samstag, und Emma hatte gezwungenermaßen ihren ersten freien Tag. Sie konnte kaum glauben, dass sie schon seit neun Tagen in New York war und bisher nichts von der Stadt gesehen hatte. Das wollte sie heute ändern. Lucy wurde an diesem Wochenende von Dave, einem Pfleger des Tierparks, versorgt, sodass Emma ein wenig Zeit für sich hatte. Sie überlegte, ob sie eine Shoppingtour machen sollte, doch ohne Begleitung hatte sie darauf keine Lust. Allerdings war es eine gute Gelegenheit, um Hectors Geschenk auszuprobieren. Sie hatte sich im Vorfeld ihrer Ankunft an der Highschool für einen Fotografiekurs angemeldet. Daher hatte Hector ihr vor zwei Tagen eine digitale Spiegelreflexkamera geschenkt.
Kurz nach neun Uhr machte sich Emma auf den Weg in Richtung Central Park. Trotz ihrer täglichen Arbeit hatte sie von dem Park selbst noch nicht viel gesehen. Sie betrat ein wenig aufgeregt die Grünanlage. Ich bin wirklich in New York. Langsam gewöhnte sie sich an die Tatsache, in einer der aufregendsten Städte der Welt zu leben. Emma ging durch das gusseiserne Tor und folgte einem Pfad, der von Blumen und Büschen gesäumt war. Es dauerte einige Minuten, bis sie auf der linken Seite einen Teich entdeckte. Emma steuerte über den kurz geschnittenen Rasen auf den kleinen See zu, auf dessen Oberfläche zahlreiche Seerosen schwammen. Sie öffnete ihren Rucksack, nahm die Kamera heraus und zoomte auf eine Blüte. Anschließend drückte sie den Auslöser, ging um den Teich herum und machte zwei weitere Bilder. Dann betrachtete sie im Display ihre Ergebnisse. Der letzte Julitag schien wieder heiß zu werden, und das grelle Sonnenlicht war dafür verantwortlich, dass die Aufnahmen noch nicht zu ihrer Zufriedenheit waren. Ihr wurde bewusst, dass sie wie eine Fotografin dachte. Emma ging weiter und staunte, wie weitläufig der Park war. Lucy kam ihr kurz in den Sinn, aber Emma wusste, dass die Affendame in guten Händen war. Es war Mittag, als sie ein leichtes Hungergefühl verspürte. An einem Stand bestellte sie sich einen Hotdog, den sie mit einer großen Portion Relish füllte. Dann ließ sie sich auf einer Parkbank nieder und biss herzhaft in den Hotdog. Ihre Kamera hatte sie neben sich auf die Bank gelegt.
„Hallo Emma!”
Der Klang einer männlichen Stimme ließ sie zusammenfahren. Sie schaute auf und sah einen Mann in Flipflops, Shorts und einem weißen Hilfiger-Shirt vor sich stehen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es Josh war.
„Hey”, rief sie erfreut.
„Mittag?”, fragte er, deutete auf den Hotdog und nahm neben Emma Platz.
Sie nickte, schob das letzte Stückchen in den Mund und wischte die Finger an einer Papierserviette ab. Anschließend warf sie die Serviette zielsicher in einen Papierkorb. „Was machst du hier?”
Josh deutete auf die Tüte zu seinen Füßen. „Ich musste ein paar Besorgungen machen. Und bei diesem Wetter spaziere ich gern durch den Park. Außerdem ist das hier mein Lieblingsplatz.”
„Lieblingsplatz?”
Josh nickte und zeigte auf einen Brunnen, neben dem ein stattlicher Ahornbaum stand. „An dieser Stelle habe ich mir mit Dad oft ein paar Bälle zugeworfen.” Er machte eine kurze Pause. „Also, als ich klein war.” Er deutete auf den Fotoapparat. „Darf ich?”
Emma nickte.
„Cooles Teil.” Er nahm die Spiegelreflexkamera in seine kräftigen Hände, fummelte etwas herum, hielt sich den Sucher vors Auge und richtete ihn auf den Baum. Plötzlich schwenkte er den Apparat auf Emma. „Bitte lächeln!”
„Nein!” Emma hob abwehrend die Hände.
Überrascht ließ Josh die Kamera sinken. „Warum nicht?”
„Ich mag es nicht, fotografiert zu werden.”
„Ach, komm, nur ein Bild.” Josh setzte die Kamera wieder an. Emma entspannte sich ein wenig und sah ihn schüchtern an. „Na bitte, ist doch gar nicht so schwer.”
„Das Foto sieht bestimmt furchtbar aus.”
„Ganz bestimmt, wo du ja auch so hässlich bist.” Josh rief die Galerie auf und sah sich die Aufnahme an. „Siehst du, ist doch niedlich.” Für einen Augenblick dachte Emma, dass „niedlich“ nicht die Beschreibung war, die sie hören wollte. Bevor sie diesen Gedanken weiter fassen konnte, hatte Josh die anderen Fotos gesichtet.
„Cool. Vor allem das hier.” Er wischte auf dem Display drei Bilder zurück, auf dem ein Vogel auf einem Ast saß, während im Hintergrund das Empire State Building zu sehen war. „Mich ärgert der Schnabel des anderen Vogels, der am Bildrand zu sehen ist.”
„Echt? Wo denn?”
Emma zeigte Josh die Stelle.
„Der ist doch kaum zu bemerken.”
„Trotzdem ärgert mich das.”
„Du bist ja wirklich anspruchsvoll. Willst du das beruflich machen?”
„Weiß ich noch nicht. Aber Fotografieren finde ich schon toll.”
„Also mir gefallen die Bilder. Und ich denke, dass du das Zeug dafür hast.”
„Meinst du das ehrlich?”
„Selbstverständlich. Außerdem lebst du jetzt in Amerika.”
Emma blickte ihn fragend an.
„Äh, hallo. Amerikanischer Traum. Vom Tellerwäscher zum Millionär.”
„Alles klar”, lachte Emma. „Als wenn die USA nur auf Emma Chapman gewartet haben.”
„Denk an meine Worte.” Josh machte eine kurze Pause, bevor er das Thema wechselte. „Was hast du heute noch vor?”
„So langsam macht mir die Hitze zu schaffen. Kann sein, dass ich zurück in Hectors Penthouse gehe.”
„Hast du immer noch ein Problem damit, es als dein Zuhause zu bezeichnen?”
„Ja … nein. Ach, ich weiß auch nicht. Hector bemüht sich wirklich und liebt meine Mutter. Aber …”
„Aber?”
„Ich kann das nicht in Worte fassen. Nach Daddys Tod war Mum alles, was ich noch hatte. Wir mussten uns zusammenraufen. Und das haben wir verdammt gut hinbekommen. Doch als Hector in ihr Leben trat, war das nicht mehr so. Ständig gab es Streit. Und dann dieser vollkommen überstürzte Umzug. Ich bekam nicht mal die Chance, meinen Freund richtig kennenzulernen.”
„Du hast schon einen Freund?” Josh sah Emma überrascht an.
„Himmel, ich bin sechzehn. Oder glaubst du etwa, dass ich noch ein kleines Schulmädchen bin?” Emma warf ihre Locken nach hinten und setzte einen Schmollmund auf. Da sie die vollen Lippen und die weichen Gesichtszüge ihrer Mutter geerbt hatte, wusste sie, dass dieser Blick seine Wirkung nicht verfehlte. Zusätzlich begann sie, Josh zu kitzeln.
„Okay, okay.” Er hob abwehrend in Hände. Einen Moment später beruhigten sie sich wieder. „Du vermisst deinen Vater, stimmt‘s?”
„Ja. Und ich hab echt keine Lust darauf, dass Hector den Ersatzpapa gibt.” Emma merkte, dass ihre Stimme bei diesem Thema einen aggressiven Tonfall bekam.
„Versucht er das denn?”
„Nein.” Emmas Stimme wurde wieder eine Spur weicher. „Im Gegenteil. Er bemüht sich wirklich, und die Idee mit Lucy war echt ein Hit.”
„Dann gib ihm doch eine Chance. Hector liebt deine Mutter. Oder willst du, dass sie ihr restliches Leben allein bleibt? Dafür ist sie viel zu jung und viel zu attraktiv.”
„Natürlich nicht”, gab Emma zerknirscht zu, „zumal sie Daddy auf dem Sterbebett versprechen musste, nicht allein zu bleiben.”
„Na siehst du. Und bis dahin hilft dir Lucy, dich hier einzugewöhnen. Und ich bin ja auch noch da.“ Er knuffte Emma kameradschaftlich in die Seite. „Wann geht die Schule wieder los?”
„In gut sechs Wochen?”
„Dann ist ja noch Zeit.”
„Zeit wofür?”, wollte Emma wissen, doch in diesem Moment meldete sich ihr Handy. „Hi, Mum.” Sie hörte kurz zu. „Ich bin im Central Park, müsste aber in einer guten halben Stunde wieder zu Hause sein.” Sie beendete das Gespräch. „Ich muss leider los.”
„Kein Problem. Ich sollte mich auch mal auf den Weg machen.” Josh deutete auf die Lebensmitteltüte vor sich. „Du hast übrigens gerade zu Hause gesagt.”
Emma errötete leicht, erwiderte aber nichts. Gemeinsam erreichten sie den Parkausgang.
„Ich muss hier lang”, sagte Josh.
„Okay.” Sie verabschiedeten sich. „Was meintest du eigentlich damit, dass noch Zeit sei?”, wollte Emma wissen.
„Lass dich überraschen.” Josh zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Bis Montag.”
Mit klopfendem Herzen machte sich auch Emma auf den Weg. Sie war happy, ihn hier getroffen zu haben. Bis sie Hectors Penthouse erreicht hatte, ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf.