Читать книгу Ein letzter Tag mit dir - Patrick Osborn - Страница 7

Kapitel 1

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„Es reicht jetzt! Ich habe dir hundert Mal gesagt, dass mein Entschluss feststeht. Finde dich endlich damit ab!”

Emma merkte, dass ihre Mutter verärgert war. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, konnte sie es ihr nicht verübeln. Schließlich nörgelte Emma seit Wochen an ihrer Entscheidung herum. In dieser Zeit hatte sie alle Tricks und Gefühlslagen ausprobiert: weinen, flehen, betteln und schreien. Natürlich hatte sie auch versucht, vernünftig mit ihrer Mutter zu reden. Doch ohne Erfolg. Ihr Entschluss stand fest: Sie zogen von Frankfurt nach New York, in die Arme eines Mannes, den Emma bisher nur einmal gesehen hatte. Das Schlimmste daran war, dass Emma mitkommen musste.

„Ich weiß echt nicht, was ich hier soll! Ich habe mein Leben in Frankfurt. Was wird aus meinen Freundinnen, was aus Timo? Und überhaupt, was ist, wenn der Kerl ein verrückter Serienkiller ist?”

Emmas Mutter drehte sich zu ihr um. „Liebes”, sie deutete auf die Stadt, deren Silhouette bereits zu erkennen war, „das wird jetzt unser Zuhause. Und glaube mir, Hector wird dich wie eine Tochter lieben.”

„Das wird nie mein Zuhause!”, antwortete Emma wütend. „Sowie ich volljährig bin, gehe ich nach Frankfurt zurück! Da sind alle meine Freunde!” Da dies nach deutschen Verhältnissen nur noch ein gutes Jahr dauerte, war sich Emma sicher, die Sache halbwegs zu überstehen. Sollte ihre Mutter doch mit dem eingebildeten Lackaffen glücklich werden! Sie konnte immer noch nicht fassen, dass ihre Mutter Hals über Kopf alle Zelte in Deutschland abbrach.

Vor einigen Monaten hatte sie einen Typen aus Amerika kennengelernt. Anfangs fand Emma das gut, da ihre Mutter wieder fröhlich und unbeschwert sein konnte. So war sie seit Daddys Tod nicht mehr gewesen. Allerdings war ihr mit der Zeit das ganze Hector-hier-Hector-da-Gehabe gehörig auf die Nerven gegangen. Vor zwei Monaten hatte sie dann das erste Mal ein Wochenende bei ihm in New York verbracht. Natürlich hatte er alle Kosten übernommen. Sollte er doch, schließlich war er stinkreich. Für Emma war das jedoch kein Anreiz, ihn gut zu finden. Im Gegenteil. Sie befand sich noch in der Phase der Pubertät, in der sie sich gegen das Establishment auflehnte. Zwei Wochen später war es zur ersten Begegnung mit Hector gekommen. Mit Grausen erinnerte sich Emma an die Szene, wie sie mit ihrer Mutter auf dem Frankfurter Flughafen gewartet hatte. Während Emma kaugummikauend an einem Pfeiler lehnte, tippelte ihre Mutter wie eine läufige Hündin in Minirock und High Heels aufgeregt von einem Bein auf das andere. Als eine billige und deutlich ältere Ausgabe von Antonio Banderas mit breitem Zahnpastalächeln auf sie und ihre Mutter zukam, hätte Emma am liebsten laut aufgeschrien. Fünf Tage war Hector in Frankfurt geblieben, und während seines Besuches machte ihre Mutter immer wieder merkwürdige Andeutungen, wie schön es in New York sei und welche Möglichkeiten sich ihnen dort eröffnen würden. Emma hatte dieses Gerede nicht für voll genommen. Zwar hatten sie längst vorgehabt, in die USA zu gehen, doch da hatte ihr Vater noch gelebt. Sie wollten seine Militärzeit abwarten, doch der Krebs hatte der Familie einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nach seinem Tod war ihr Vorhaben wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Emma hatte alle Hände voll damit zu tun, eine Stütze für ihre Mutter zu sein, obwohl sie selbst Hilfe gebraucht hätte.

Und dann hatte Emmas Mutter vor vierzehn Tagen die Bombe platzen lassen. „Schatz, Hector hat mich gefragt, ob wir zu ihm ziehen wollen – und ich habe ja gesagt.” Vor allem, dass Emma vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, brachte sie jetzt noch auf die Palme. Wäre es nicht recht und billig gewesen, sie zumindest zu fragen? Schließlich war es auch ihr Leben.

Die Boeing legte sich in eine Kurve und holte Emma in die Gegenwart zurück. Sie konnte die Freiheitsstatue erkennen und rümpfte die Nase. Was für ein Klischee! Das Fahrwerk fuhr aus, und der Landeanflug auf den JFK begann. Eine gute halbe Stunde später nahmen sie den letzten Koffer vom Gepäckband und begaben sich zum Ausgang. Emma betete inständig, dass ihre Mutter nicht wieder eine Szene machen und ihrem Lover kreischend in die Arme fallen würde. Doch dazu kam es Gott sei Dank nicht. Kaum hatten sie das Terminal verlassen, als Emma den enttäuschten Blick ihrer Mutter sah. Von Hector war weit und breit nichts zu sehen.

„Sieh mal, Mum, dort.” Emma deutete auf einen Mann, der eine Chauffeuruniform trug und ein Schild mit ihren Namen in Händen hielt.

„Das ist Jorge, Hectors Chauffeur.” Freudig erregt ging sie auf den Mann zu.

„Das ist Jorge, Hectors stockschwuler Chauffeur”, äffte Emma ihre Mutter leise nach, verdrehte die Augen und folgte ihr widerwillig. In diesem Moment erkannte der Mann Emmas Mutter und nahm das Schild herunter.

„Mrs. Chapman, willkommen in New York!” Er schüttelte ihrer Mum die Hand und wandte sich anschließend Emma zu. „Und du bist sicherlich Emma?”

Sie ignorierte die dargebotene Hand. „Für Sie immer noch Mrs. Chapman!” Ohne ihn weiter zu beachten, ging sie an ihm vorbei. Claudia wollte sich für Emmas unmögliches Verhalten entschuldigen, jedoch schien es Jorge nicht wirklich zu stören.

„Señor Gonzales bittet um Verzeihung. Er hätte Sie gern abgeholt, aber ihm ist ein dringender Geschäftstermin dazwischengekommen.”

„Ist der Termin zufällig zwanzig, hat lange blonde Haare und ausufernde Brüste?“, fragte Emma.

Ihre Mutter sah sie schockiert an. „Was soll denn das?”, fuhr sie Emma an.

Jorge ignorierte das Ganze. Vielmehr wandte er sich wieder ihrer Mutter zu. „Ich bringe Sie in das Apartment von Señor Gonzales. Er wird sicher bald eintreffen.” Jorge griff nach dem Kofferwagen und setzte sich mit dem Gepäck in Bewegung. Wenige Augenblicke später verstaute er alles in einer Limousine von Chevrolet, und dann schlängelten sie sich auch schon durch die vollen Straßen New Yorks. Normalerweise hätte Emma einen Luftsprung machen müssen: der Big Apple! Was hatten ihre Freundinnen sie darum beneidet, dass sie künftig in New York leben würde. Verglichen mit der größten amerikanischen Stadt war Frankfurt allertiefste hessische Provinz. Doch gerade das hatte Emma gefallen. Nach dem Tod ihres Vaters fühlte sie sich verloren. Sie wusste nicht, wer oder was ihr Zuhause war. Da tat es gut, Freundinnen wie Simone, Leonie oder Anja zu haben. Und dann war da noch Timo. Sie hatten bisher nicht miteinander geschlafen, trotzdem war er ihre erste längere Beziehung. Ihrer Mutter hatte sie nur wenig von ihm erzählt, daher verstand sie auch nicht, warum Emma ihre Entscheidung so schwer getroffen hatte. Timo war anders als die Jungs, die Emma vorher kennengelernt hatte. Mit ihm konnte sie sich eine echte Romanze vorstellen, doch bevor es dazu kommen konnte, fand dieser verdammte Umzug statt. Und jetzt lagen gut sechstausend Kilometer zwischen ihnen. Sie versprachen sich, über Mail und Skype Kontakt zu halten, doch Emma war bewusst, dass die Beziehung mit Timo zu Ende war, ehe sie überhaupt richtig begonnen hatte.

Die Fahrt zu Hectors Wohnung dauerte gut fünfzig Minuten. Emma wusste von den Schwärmereien ihrer Mutter, dass Hector Gonzales ein Penthouse in der 57th Street bewohnte. Außerdem besaß er noch ein Haus in den Hamptons, aber zunächst würden sie hier, im Herzen New Yorks, wohnen. Jorge und ihre Mutter verfielen in Smalltalk, während Emma ihre Kopfhörer hervorkramte und der melancholisch-traurigen Stimme von Robert Smith lauschte. Sie hatte die Musik des britischen Sängers in der Phase entdeckt, als es mit ihrem Vater zu Ende ging, und jede Menge Trost und Kraft aus seinen Songs geschöpft. On candy stripes legs the spiderman comes. Emma spürte, dass sich der Jetlag bemerkbar machte. Sie passierten gerade die Brooklyn Bridge, als ihr die Augen zufielen und nur noch Robert Smiths Stimme in ihr Bewusstsein drang. And I feel like I am being eaten.

„Schatz, wir sind da!” Emma spürte ein sanftes Streicheln an ihrer Wange und schlug die Augen auf.

„Was …?” Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren.

„Wir sind da“, wiederholte ihre Mutter. In dem Augenblick machte Jorge die Wagentür auf. Emma rieb sich mit der Hand über das Gesicht und stieg aus. Die kühle, von Abgasen geschwängerte Luft einer Tiefgarage umfing sie. Sie folgte den beiden, die auf einen Fahrstuhl zusteuerten. Die Kabinentür öffnete sich lautlos, und Emmas Mutter gab einen vierstelligen Code in ein Display ein. Die Tür schloss sich, surrend setzte sich die Kabine in Bewegung. Emma spürte einen leichten Druck auf den Ohren. Als sich der Aufzug wieder öffnete, wurden sie von einer älteren Dame in einem Küchenoutfit überschwänglich begrüßt.

„Miss Chapman, ich freue mich so, Sie wiederzusehen.“

„Rosalie!“ Die Stimme von Emmas Mutter wurde eine Oktave höher, was immer dann der Fall war, wenn sie sich über etwas freute oder aufgeregt war. Emma hasste diesen Ton. Die beiden Frauen umarmten sich so herzlich, als würden sie sich ein Leben lang kennen, dabei konnte sie die Frau nur bei ihrem ersten und einzigen Besuch getroffen haben.

„Emma“, verkündete sie mit der immer noch erhöhten Stimme, „das ist Rosalie, Hectors guter Geist.” Sie machte eine Pause, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. „Und sie ist eine begnadete Köchin!“

Emma hielt der Küchenfrau schlaff die Hand hin und drosselte sogar die Lautstärke. Allerdings hielt sie es nicht für nötig, die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen. „Dann hat er ja echt Glück gehabt.“ Ihre Mutter sah sie fragend an. „Na, dass Hector nicht deine grandiosen Spaghetti mit Kochkäse ertragen muss.“ Bei dem Wort grandios deutete Emma zwei imaginäre Anführungszeichen an. Ohne Rosalie eines weiteren Blickes zu würdigen, ging sie auf die breite Fensterfront zu, von der man eine imposante Aussicht auf die Skyline hatte. „Cooler Ausblick!“ Emma wandte sich um. „Kann ich jetzt mein Zimmer sehen? Ich würde mich gern hinlegen.”

„Willst du nicht warten, bis Hector da ist? Außerdem solltest du versuchen, noch ein wenig wachzubleiben, um den Jetlag zu minimieren.“

„Boah, Mum, nerv nicht! Hector wird mir schon nicht wegrennen. Schließlich“, die folgenden Worte betonte Emma besonders giftig, „muss ich ihn jetzt jeden Tag sehen.“

Bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, ergriff Rosalie das Wort. „Kein Problem, ich zeige dir dein Zimmer. Ich bin sicher, du wirst begeistert sein.“ Rosalie griff nach Emmas Hand und zwinkerte ihrer Mutter zu. Sie gingen in ein imposantes Wohnzimmer, von dem eine Treppe in den nächsten Stock führte. Erst jetzt merkte Emma, wie riesig das Penthouse war. „Soll ich dir die anderen Räume zeigen, oder möchtest du nur dein Zimmer und dein Bad sehen?“

„Ich habe ein eigenes Badezimmer?”, fragte Emma überrascht.

„Naturalmente”, antwortete Rosalie mit sanfter Stimme. „Du hast in der obersten Etage dein Reich. Ich bin mir sicher, dass es dir gefallen wird.”

Emma folgte ihr nach oben. „In welchem Stockwerk befinden wir uns?”

„Im 42.”

„Hat Hector eigentlich eigene Kinder?”, wollte Emma wissen, auch wenn sie die Antwort von ihrer Mutter bereits kannte.

„No. Señor Gonzales erste Frau konnte keine Kinder bekommen. Und das, wo er sich doch immer welche gewünscht hat.”

„Was ist mit seiner Frau passiert?”

„Schreckliche Sache. Sie litt an Depressionen und hat es irgendwann nicht mehr ausgehalten.”

„Und?” Emmas Neugier war geweckt. Sie erreichten das Ende der Treppe, und Rosalie blickte sich um, als wollte sie sichergehen, keine unliebsamen Zuhörer zu haben. „Die junge Frau Gonzales hat sich umgebracht.”

Emma war überrascht. Ihre Mutter hatte ihr nur erzählt, dass Hector nicht mehr mit seiner Frau zusammen war. „Wie …“

Abermals blickte sich Rosalie um und senkte die Stimme. „Tabletten …” Bevor Emma noch etwas sagen konnte, wurde Rosalies Tonlage lauter. „Genug von den alten Geschichten. Jetzt sind deine Mutter und du da, und das ist gut so. Seit Señor Gonzales deine Mutter kennt, ist er wieder ein fröhlicher Mensch.” Rosalie stoppte vor einer Tür und öffnete sie. „Willkommen in deinem Reich!”

Emma trat ein, und im ersten Augenblick blieb ihr die Luft weg. Sie hatte sich fest vorgenommen, sich nicht von dem Reichtum des Lackaffen einlullen zu lassen. Aber das Zimmer besaß echt Klasse. Auch hier gab es eine breite Fensterfront, von der Emma einen schier unglaublichen Ausblick auf eine riesige Parkanlage hatte. Sie vermutete, dass es sich um den Central Park handelte.

„Gefällt es dir?”, wollte Rosalie wissen.

„Ja, ist ganz nett.” Emma bemühte sich, die Aufregung in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Rosalie schien zu bemerken, dass ihr das Zimmer gefiel. „Und hier ist dein Badezimmer.” Abermals blieb Emma die Luft weg, was Rosalie mit einem weiteren Lächeln kommentierte. „Dann ruh dich ein bisschen aus. Vielleicht”, dabei zwinkerte sie Emma verschwörerisch zu, „kommst du nachher doch noch herunter, wenn Señor Gonzales kommt. Er würde sich sicherlich freuen, dich zu begrüßen.“

Emma wollte etwas erwidern, aber Rosalie hatte schon kehrtgemacht und war dabei, die Tür hinter sich zu schließen. Emma ließ ihren Rucksack zu Boden gleiten und warf sich aufs Bett. Immer wieder ermahnte sie sich, sich nicht von Hectors Reichtum beeindrucken zu lassen. Sie steckte die Kopfhörer in die Ohren, ließ erneut die Stimme von Robert Smith erklingen und war ein paar Sekunden später eingeschlafen.

Ein letzter Tag mit dir

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