Читать книгу Ein letzter Tag mit dir - Patrick Osborn - Страница 8
Kapitel 2
ОглавлениеEin Sonnenstrahl fiel durch das Fenster und kitzelte Emma im Gesicht. Sie streckte sich ausgiebig und stellte erschrocken fest, dass sie gut zwölf Stunden geschlafen hatte. Emma erhob sich und sah, dass ihr Gepäck im Zimmer stand. Sie hatte nicht bemerkt, wann und wer es dort abgestellt hatte. Mit einem Blick auf ihr Handy bemerkte sie enttäuscht, dass Timo sich nicht gemeldet hatte. Wahrscheinlich hatte er sie bereits vergessen. Emma wuchtete den größeren der beiden Koffer aufs Bett, öffnete ihn und entnahm frische Wäsche – ihre Lieblingsjeans und ein Shirt von Calvin Klein. Vor dem Anziehen gönnte sie sich eine ausgiebige Dusche. Während das Wasser auf ihren Körper niederprasselte, keimte der Gedanke auf, dass New York vielleicht doch nicht so schlecht war. In diesem Moment kamen ihr Timo und sein trauriges Gesicht am Flughafen in Erinnerung, und Emma verfluchte ihre Mutter dafür, die Entscheidung ohne sie getroffen zu haben. Mit einem flauschigen Handtuch rubbelte sich Emma trocken, zog sich an und schlüpfte in ihre Chucks. Auf Schminke verzichtete sie, vielmehr beschloss sie, nach der Küche zu suchen, da sie Hunger und vor allem Durst verspürte. Vielleicht war ja Rosalie schon wach.
Emma verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter. Sie hoffte, dass ihre Mutter nicht zu böse war, dass sie Hector gestern nicht mehr begrüßt hatte. Andererseits sagte sie sich, dass sie sie ja hätten wecken können. Während sie die Stufen hinunterging, warf sie einen Blick auf die Wand, die als Galerie für unzählige Fotos herhielt. Auf jedem war Hector Gonzales mit jemand anderem zu sehen. Emma staunte nicht schlecht, als sie auf einem Bild Bono, den Sänger der irischen Band U2, und auf einem weiteren die Schauspielerin Natalie Portman erkannte. Von der Treppe aus entdeckte sie die Küche. Erneut verschlug es ihr den Atem, denn die Showküchen, die Emma aus dem deutschen Fernsehen kannte, waren im Vergleich zu dem, was Hector sein Eigen nannte, eher kleine Küchenzeilen. Sie steuerte auf den Kühlschrank zu, öffnete ihn und entnahm einen Kanister mit Orangensaft. Sie kam sich vor wie in einer amerikanischen Fernsehserie, als sie eine Tür klappen hörte. Kurz darauf erschien der Hausherr in der Küche.
„Guten Morgen, Emma“, sagte er freundlich und trat ein paar Schritte auf sie zu. „Hast du gut geschlafen?”
„Äh, ja”, antwortete sie verlegen.
„Das freut mich.” Hector umrundete den Tresen und ging zur Kaffeemaschine.
„Wo ist Mum?”
„Schläft noch”, erwiderte er. „Im Gegensatz zu dir hat sie gestern auf mich gewartet. Ist leider später geworden.”
„Ja … ich …” Emma wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Kein Problem. Der Jetlag fordert nun mal sein Recht.” Hector schaltete die Kaffeemaschine an und wandte sich dem Tiefkühler zu.
„Macht Rosalie das Frühstück?”, fragte Emma, um überhaupt etwas zu sagen.
„Nein. Heute ist Sonntag, da hat Rosalie frei.” Hector verteilte sechs Bagels auf einem Backblech und heizte den Ofen vor. Währenddessen leerte Emma ihr Glas und schenkte sich ein weiteres ein. „Und? Gefällt dir dein Zimmer?”
„Ja, es ist okay.”
„Wenn nicht, können wir es nach deinen Wünschen umgestalten. Du musst nur …”
„Es ist okay!” Emmas Stimme klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
„Guten Morgen, ihr zwei! Was ist okay?” Emmas Mutter betrat die Küche.
„Warum bist du denn schon wach?” Hector erhob sich und nahm sie in die Arme.
„Ich habe gespürt, dass du nicht mehr neben mir liegst.”
Emma rollte mit den Augen, holte tief Luft und betete inständig, dass sich die beiden nicht auch noch küssen würden. Ihre Mutter schien ihre Reaktion bemerkt zu haben.
„Und du, mein Schatz”, sie umarmte Emma, „musst doch fit wie ein Turnschuh sein.”
„Es geht”, antwortete sie kurz angebunden.
„Was heißt denn, es geht? Du hast doch mehr als genug geschlafen.”
„Ja und? Ich habe hier ja nichts zu tun!”
Emmas Ausbruch sorgte für unangenehme Stille. Nur das Blubbern der Kaffeemaschine war zu hören.
„Das kenne ich.” Hector löste die belastende Ruhe auf. „Ich brauche nach solchen Interkontinentalflügen auch ein paar Tage, um wieder der Alte zu sein.” Er öffnete einen Schrank und entnahm zwei Tassen. „Möchtest du auch einen Kaffee, Emma?”
„Wie … nein, danke.”
Hector goss zwei Tassen voll und reichte eine Emmas Mutter. Anschließend schob er das vorbereitete Backblech mit den Bagels in den Ofen und stellte die Uhr auf acht Minuten.
Claudia nahm neben ihrem neuen Partner Platz. „Hector will uns heute ein wenig die Stadt zeigen. Ist das nicht toll, Liebes?”
„Ja, ganz toll.” Emmas Ton machte deutlich, was sie von dieser Idee hielt.
„Du klingst aber nicht wirklich begeistert.”
„Ich habe echt keinen Bock, hier einen auf glückliche Family zu machen!”
Emmas Mutter wollte gerade etwas erwidern, als Hector ihr eine Hand auf den Arm legte. „Das habe ich auch nicht vor, Emma.” Er goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. „Mir ist klar, dass du mit der Entscheidung deiner Mutter alles andere als glücklich bist. Trotzdem freue ich mich, dass ihr hier seid.”
Er hatte eine angenehme, warme Stimme, und Emma konnte durchaus verstehen, warum ihre Mutter auf ihn flog, zumal er wirklich nicht schlecht aussah.
„Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht mit uns herumziehen möchtest. Du wirst sicher noch genug Gelegenheiten bekommen, um zu sehen, was New York zu bieten hat. Für den Moment habe ich eine andere Überraschung für dich. Was meinst du? Gibst du mir diese Chance?”
Auch wenn Emma dagegen ankämpfte, spürte sie, wie ihre innere Barriere bröckelte. Sollte sie Hector eine Chance geben? „Okay”, antwortete sie zaghaft.
In diesem Moment erklang das Signal des Ofens. Hector nahm das heiße Blech heraus und stellte es auf ein Brett. Ein verführerischer Duft breitete sich in der Küche aus. „Sehr schön.” Hector deutete auf die Bagels. „Greift zu!”
Zögerlich griff Emma einen und musste sich nach dem ersten Bissen eingestehen, dass sie nicht nur verführerisch rochen.
Nachdem alle Bagels verputzt waren, lächelte Hector Emma an. „Ich zieh mir nur schnell was anderes an. Dann können wir los.”
Emma blickte ihre Mutter an, die genauso ratlos war. Ein paar Minuten später befand sich Emma mit ihm im Aufzug, der sie in die Tiefgarage brachte. Dort ging Hector zielstrebig auf einen SUV zu.
„Wo fahren wir hin?”, fragte sie und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
„Lass dich überraschen.” Hector ließ den Motor aufheulen und verließ die Garage. „Hör zu, Emma”, ergriff er etwas unbeholfen das Wort. „Ich kann mir vorstellen, dass es für dich keine einfache Situation ist, aber ich liebe deine Mutter und bin sehr froh, dass ihr beide hier seid.”
Emma blickte verlegen nach draußen und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie hatte sich fest vorgenommen, den Lackaffen nicht zu mögen, musste sich jedoch eingestehen, dass er nicht so unsympathisch war.
„Schon gut, solange du nicht versuchst, den großen Ersatzdaddy zu spielen.”
„Versprochen! Allerdings sollst du wissen, dass ich jederzeit für dich da bin, wenn dich etwas bedrückt. Okay?”
Emma zögerte ein paar Sekunden. „Einverstanden”, sagte sie schließlich. Hector schien wirklich nicht übel zu sein. Und hey, sie waren immerhin in New York!
Auf einmal konnte sie das Eingangstor eines Tierparks erkennen. „Arbeitest du hier? Ich dachte, du bist Banker.”
Hector lachte auf. „Weder noch. Ich habe eine Firma, die Konsumgüter im- und exportiert.“
Die beiden stiegen aus, und Hector deutete auf das Eingangsschild, auf dem „Central Park Zoo“ zu lesen stand. „Und was den ersten Teil deiner Frage angeht: Ich kenne hier einige Leute. Was würdest du davon halten, hier ein wenig auszuhelfen?”
„Ich?”, fragte Emma mit einer Mischung aus Verwunderung und Begeisterung. Schließlich waren Tiere, neben der Literatur, ihre große Leidenschaft.
„Ja”, antwortete Hector. „Da deine Schule erst in ein paar Wochen beginnt, dachte ich, dass es ganz gut passen würde, wenn du hier ein wenig mitarbeitest.”
Emma war sprachlos. Gemeinsam betraten sie das Gelände, und Hector steuerte zielstrebig auf ein flaches Gebäude zu.
Ein Mann kam ihnen entgegen. „Guten Morgen, Frank”, rief er.
„Guten Morgen, Mister Gonzales. Wen haben Sie denn da im Schlepptau?”
„Das ist Emma, eure Verstärkung. Die Tochter meiner Lebensgefährtin.”
„Stimmt!”, rief Frank und schüttelte Emma die Hand. „Ihr seid gestern aus Deutschland gekommen, oder?”
„Ja.”
„Wie war der Flug?”
„Lang. Aber okay.“
„Das freut mich.”
„Wo ist Josh?”, wollte Hector wissen.
„Im Büro. Er wollte kurz telefonieren.“
„Danke. Einen schönen Tag, Frank.”
„Ihnen auch, Mister Gonzales. Und herzlich willkommen, Emma.”
Hector machte sich auf den Weg. Emma wusste nicht, was sie von all dem hier halten sollte. Sie folgte ihm in das flache Gebäude. Klimatisierte Luft schlug ihnen entgegen. Zielstrebig ging Hector auf ein Büro zu. Als sie es betraten, sah Emma einen Mann am Telefon stehen. Auf seinem Arm hielt er ein Affenbaby, das begeistert mit seinem T-Shirt-Kragen spielte.
„Das ist Josh”, sagte Hector leise zu Emma, um das Telefonat nicht zu stören.
In diesem Moment beendete Josh das Gespräch und wandte sich seinen Besuchern zu.
„Hallo Hector.“
„Josh, das ist Emma.”
Josh trat näher auf Emma zu. „Hallo, Josh Weaver.”
Emma ergriff seine Hand. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er war groß, braun gebrannt und hatte einen kräftigen Händedruck. Man sah ihm an, dass er viel im Freien arbeitete. Mit einem Nicken deutete er auf das Affenbaby auf seinem Arm. „Das ist Lucy.”
Emma streckte die Hand aus und kraulte die Affendame am Köpfchen, was dieser sichtlich gefiel.
„Josh wird dir alles Weitere erklären und zeigen, nicht wahr?” Hector zwinkerte ihm zu. „Ich hole dich gegen fünf zusammen mit deiner Mutter ab. Einverstanden?”
„Einverstanden”, antwortete Emma, die noch immer nicht wusste, wie sie das Ganze einordnen sollte. Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Hector. Emma und Josh waren allein.
„Komm mit, wir bringen Lucy zurück ins Gehege. Willst du sie nehmen?” Er reichte Emma die kleine Affendame. „Du bist also die Tochter von Claudia Chapman.”
„Du kennst meine Mutter?”, fragte Emma überrascht.
„Kennen wäre übertrieben. Natürlich kenne ich ihre Fotos, tolle Frau. Und dann habe ich sie einmal gesehen, als sie mit Hector hier war. Zwischen den beiden scheint es ja die große Liebe zu sein.”
Emma rümpfte die Nase. Genau das wollte sie nicht hören.
„Woher kennst du Hector?”, wechselte sie das Thema. Es interessierte sie, wie ein reicher Geschäftsmann dazu kam, Kontakte zu einem Tierpark zu haben.
„Das ist eine lange Geschichte”, antworte Josh ausweichend. „Sagen wir mal so: Hector ist für mich ein väterlicher Freund.”
Emma merkte, dass er ihr nicht mehr erzählen wollte, und beschloss, nicht weiter zu bohren. „Du arbeitest hier?”, fragte sie stattdessen.
„Nur vorübergehend. Hector hat mir den Job für drei Monate besorgt. Und als klar war, dass deine Mutter und du nach New York kommen, hat er mich gebeten, dir eine Aufgabe zu verschaffen. Er hofft, dass es dir die Eingewöhnung erleichtern würde.”
„Eingewöhnung?”
„Na ja …” Josh druckste ein wenig herum. „Hector hat mir erzählt, dass du partout nicht aus Deutschland wegwolltest. Da er von deiner Mutter erfahren hatte, dass du vernarrt in Tiere bist, wollte er dir mit diesem Job eine Freude machen.“
„Und was wird meine Aufgabe sein?”
Josh deutete mit einem Nicken auf Lucy. „Du hältst deine Aufgabe gerade auf dem Arm.”
Abrupt blieb Emma stehen.
„Ihre Mutter ist leider an einem Virus verstorben. Aber Lucy scheint nichts abbekommen zu haben. Allerdings muss sie ein wenig aufgepäppelt werden. Das wird dein Job sein, zumindest bis dein Studium wieder losgeht. Dann sollte Lucy so weit sein.”
„Wieso Studium? Ich geh noch zur Schule.”
Jetzt war es Josh, der abrupt stehen blieb. „Wie alt bist du denn?”
„Sechzehn”, antwortete Emma, „aber ich werde in diesem Jahr siebzehn.”
Joshs Augen wurden groß. „Echt? Ich bin siebenundzwanzig und habe dich deutlich älter geschätzt.”
„Ist das ein Kompliment?” Mit leichter Genugtuung sah Emma, dass er ein wenig errötete.
„Wie dem auch sei. Hast du Lust, dich um Lucy zu kümmern?”
Emma warf einen Blick auf die Affendame in ihrem Arm. „Natürlich!”
„Na, dann komm.”
In den folgenden zwei Stunden machte Josh sie mit allem vertraut. Er zeigte ihr Lucys Gehege, erklärte ihr, wann und womit sie gefüttert werden musste und wo sie Materialien zur Reinigung fand. Emma hörte aufmerksam zu und machte sich mit Eifer an die Arbeit. Auch wenn sie es nur ungern zugab, aber Hectors Plan schien aufzugehen. Den Tag über verschwendete sie nicht einen Gedanken daran, dass sie sich mit Händen und Füßen gegen den Umzug gewehrt hatte. Gegen drei Uhr war sie ziemlich fertig. Lucy forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit, und Emma merkte, dass sie die Zeitumstellung noch nicht verkraftet hatte. Gegen fünf trafen Hector und Claudia wie verabredet ein, um sie abzuholen. Begeistert führte Emma sie herum und zeigte ihnen Lucys Platz. Ein letztes Mal fütterte Emma das Affenbaby, bevor sie sich verabschiedete.
„Bis morgen.” Sie strich Lucy sanft über Kopf und Rücken. Dann wandte sie sich ihrer Mutter zu. „Ich merke zwar immer noch den Jetlag, aber …”, sie machte eine kurze Pause, „vielleicht ist es hier ja doch nicht so schlecht.”
Emma sah, dass ihre Mutter mit den Tränen kämpfte.
„Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.”
Emma wehrte sich nicht gegen die Umarmung, sondern gestand sich vielmehr ein, dass sie in letzter Zeit die Nähe zu ihrer Mutter vermisst hatte. Durch die zahlreichen Streitereien waren ihre Vertrautheit und die innige Beziehung, die sie besonders nach dem Tod von Steven hatten, ein wenig verloren gegangen zu sein. Hector schien die Versöhnung von Mutter und Tochter mit Freude zu sehen.
„Hallo, Miss Chapman, Hector.” Josh war ebenfalls dazugekommen. „Emma hat sich richtig gut gemacht.”
Sie spürte, wie sie bei diesem Lob errötete.
„Lucy kann man aber auch nur liebhaben.”
„Dann bist du morgen wieder dabei?”, wollte Josh wissen.
„Was denkst denn du?” Sie zwinkerte ihm zu, und Josh lächelte sie an. „Wann soll ich da sein?”
„So gegen neun? Dann kannst du noch die Frühversorgung übernehmen.”
„Abgemacht.” Emma umarmte Josh zum Abschied und bemerkte, dass er verdammt gut roch.
„Was halten die beiden Damen von einem Essen?”, fragte Hector. „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe einen Bärenhunger.”
„Den muss er in der Tat haben”, antwortete Claudia fröhlich. „Wir sind heute die 5th Avenue einmal hoch- und wieder runtergelaufen.”
„Na dann”, lachend hakte sich Emma bei ihrer Mutter und Hector ein, „sollte er sich stärken. Schließlich muss er uns noch eine ganze Weile ertragen.” Emma blickte ihre Mutter an und sah, wie glücklich sie darüber war.
Zum Abendessen gingen sie zu Luigi, das italienische Restaurant zählte zu Hectors Stammlokalen. Emma war überrascht, wie schnell ein Platz für sie frei gemacht wurde, obwohl sie keine Reservierung hatten. Die Zeit verging wie im Flug. Sie aßen und lachten, und Emma musste sich zum wiederholten Male eingestehen, dass es vielleicht doch eine gute Idee ihrer Mutter war, nach New York zu ziehen. Die Uhr zeigte bereits kurz vor Mitternacht, als sie wieder in ihrem Zimmer war. Ihr letzter Gedanke galt Lucy, und nur Sekunden später war sie eingeschlafen.