Читать книгу Mrs. Lewis - Patti Callahan - Страница 20
Februar 1952
ОглавлениеDer Tee im Becher neben meiner Schreibmaschine war kalt geworden, aber ich nahm trotzdem einen Schluck heraus. Ich war versunken in den Artikel über die Zehn Gebote, an dem ich gerade schrieb. Er ist die Quelle aller Freuden; er ist Vergnügen und Licht und Lachen. Ich kam jetzt schnell voran und näherte mich dem siebten Gebot.
Unten im Erdgeschoss lag ein Stapel Sachen, die für die Jungen zu nähen und zu flicken waren. Das würde ich bald in Angriff nehmen. Seit einiger Zeit schon war ich langsam auf dem Weg der Genesung und ich schlief besser, da ich aus Bills Schlafzimmer in mein eigenes umgezogen war.
Ich wollte ihn verlassen, wie gern wollte ich Bill verlassen, aber ich sah keinen Ausweg. Und Gott helfe mir, ich liebte ihn ja! Die Liebe verschwindet nicht einfach, selbst wenn sie nicht mehr erwünscht ist; sie macht sich nicht wegen der leisesten Provokation gleich aus dem Staub. Wenn sie es nur täte!
Da saß ich nun und schrieb über den Willen Gottes und dachte gleichzeitig über Scheidung nach. Aber wir hatten nicht genug Geld, um uns zu trennen; außerdem mussten wir unsere Söhne schützen. Zudem verschlechterten sich die Rahmenbedingungen, da meine Cousine Renee mit ihren zwei Kindern zu uns kam. Die kleine Familie würde bei uns einziehen, damit Renee ihrem alkoholkranken Ehemann in Mobile, Alabama, entkommen konnte. Dahinter steckte ein geheimer Plan. Meine und ihre Eltern schoben eine angebliche Krise in New York City vor. Stattdessen zog sie in Wirklichkeit zu mir, wo ihr Mann sie nicht finden konnte.
Ich zuckte zusammen, als ich eine Autotür zuschlagen hörte. Waren sie etwa schon hier? Es kam mir vor, als wäre Bill gerade erst losgefahren, um sie von der Grand Central Station abzuholen. Ich schaute aus dem Fenster und sah drei Menschen, die mein Leben verändern würden: Renee und die beiden Kleinen, Bobby und Rosemary. Sie bot einen eindrucksvollen Anblick von Eleganz, wie sie auf der Beifahrerseite ausstieg und mit einer behandschuhten Hand ihren schwarzen Hut festhielt. Ich hatte fast vergessen, wie umwerfend sie aussah. Ein Zweireiher aus blauer Wolle schmiegte sich an ihre grazile Silhouette, und ihr langes dunkles Haar ergoss sich in einer schimmernden Kaskade über ihre Schultern. Ihre Kinder, sechs und acht Jahre alt, sprangen aus den hinteren Türen des Autos und machten staunende und ehrfürchtige Gesichter. Ich stand auf, um nach unten zu gehen und sie zu begrüßen.
Jack:
Es stimmt, dass wir, wenn wir die Freiheit haben, gut zu sein, auch die Freiheit haben, schlecht zu sein. Doch diese Wahl ist es, was die Liebe, die Freude und das Gute, die zu genießen sich lohnt, erst möglich macht.
Joy:
Die Freiheit, schlecht zu sein. Ach, wie gern würde ich mit Gott über diese Wahl diskutieren. Aber wie könnte ich das? Wenn ich diese Wahl doch ständig treffe, und wenn ich doch unbedingt will, dass es bei mir liegt, diese Wahl zu treffen.
Seltsam, dachte ich, als ich langsam die Treppe zur Vordertür hinunterging, dass Renee und ich beide Alkoholiker geheiratet hatten. Und nun kam sie den weiten Weg und suchte Schutz bei mir, wo sie mir doch immer als leuchtendes Vorbild vor Augen gestellt worden war – die Messlatte, die meine Mutter stets dazu benutzt hatte, mir meine Unzulänglichkeiten vor Augen zu führen, als ich noch klein war und Renee bei uns wohnte.
Davy und Douglas hatten bereits die Tür geöffnet. Ich stand in der Diele und rieb mir fröstelnd die Arme. In dicken weißen Flocken schneite es. Bill war in seinen langen schwarzen Mantel gehüllt und sah galant aus, als er das Gepäck aus dem Kofferraum des Wagens hievte und auf der schneebedeckten Einfahrt abstellte. Renee beugte sich zu meinem Mann, um ihre Hand auf seine zu legen und etwas zu sagen, was ich nicht verstehen konnte. Sie lächelte; er lachte. Ja, er konnte charmant sein, und in seinen besten Momenten sogar ausgesprochen liebenswürdig.
Als sie die Eingangstreppe erreichten, trafen sich Renees Blick und meiner, und sie lächelte so breit und dankbar, dass ich beinahe in meinen Socken durch den Schnee auf sie zu gerannt wäre. Sie war meine Cousine, meine Blutsverwandte und liebe Freundin. Davy und Douglas standen still und aufmerksam hinter mir.
Sie kam schnellen Schrittes die Stufen empor, und wir nahmen uns in die Arme. Ich strich den Schnee von den weichen Schultern ihres Mantels. „Komm rein“, sagte ich. „Wie ich mich freue, dich zu sehen!“
„Oh, Joy, wie kann ich dir jemals danken?“ Sie legte behutsam die Hände auf die Köpfe ihrer Kinder. Ich schaute an ihnen hinab. Bobby mit kurz geschnittenen braunen Haaren, eingepfercht unter einer Mütze, auf der sich Schneeflocken sammelten. Rosemary, ein dunkelhaariges Kind mit großen Augen, herausgeputzt wie zum Kirchgang, ihre Lackschuhe so glänzend, dass sich für einen Augenblick das Licht der Wandleuchte in ihnen spiegelte.
„Geh hinein, Joy“, sagte Bill, als er mit dem Gepäck beladen den Treppenabsatz erreichte und sich den Schnee von den Stiefeln stampfte. „Es ist zum Erfrieren hier draußen.“
„Herein, herein“, sagte ich. Und dann spürte ich es wie ein Beben unter meinen Rippen: eine kaum merkliche Verschiebung unter dem Fundament unseres Zuhauses, die Veränderung, die diese drei gestrandeten Seelen mitbrachten.
Wir ließen uns in der warmen Küche am Tisch nieder, und ich servierte ihnen Tee und Sandwiches mit Grillkäse. Ich bemutterte sie und wir unterhielten uns über dies und das. Renee hatte ihren Wollmantel über die Lehne ihres Stuhls drapiert und zog sich Nadeln aus dem Haar, um den mit Schnee beflockten Hut zu lösen und auf der Anrichte abzulegen. Ihr Tweedkleid war ein wenig hochgerutscht, und ich erhaschte einen Blick auf die schwarzen Nylonstrümpfe, die ihre Beine zierten. Ich saß neben ihr und hätte gegensätzlicher nicht aussehen können in meinen Männer-Cordhosen und meinem Hemd.
Ich betrachtete das vertraute Gesicht meiner Cousine. Sie war noch keine fünfunddreißig, aber etwas Gealtertes lag in ihrem Blick. Ein Schmerz, wie man ihn eigentlich nur nach einem Krieg erleiden sollte, eine Qual, wie ich sie in den Augen meines Mannes gesehen hatte. Doch hier saß nun eine Frau auf der Flucht, mit makellosem Eyeliner und Mascara. Sie gab wie in einer Electrolux-Werbung das perfekte Bild einer Hausfrau aus den Fünfzigern ab. Schon immer hatte meine Cousine viel Wert auf Schönheit gelegt, und sie war ihr trotz aller Kämpfe, die sie auszufechten hatte, erhalten geblieben. Ich steckte mir eine lose Strähne in meinen Haarknoten und fing an, verlegen zu plaudern.
Jack:
Die Geschichten aus Ihrem Leben – die Ankunft Ihrer Cousine, Ihre Tiere und die Farm – amüsieren Warnie und mich sehr.
Oh, und wie Davy versuchte, eine wilde Schlange zu fangen, um sie als Haustier zu halten. Bitte erzählen Sie uns mehr davon.
Joy:
Ich bezweifle, dass ich jetzt noch damit aufhören könnte.
Später, als Renee und ich nach oben gingen und endlich allein waren, sagte ich zu ihr: „Wir teilen uns ein Zimmer. Wie in alten Zeiten.“
„Schläfst du denn nicht bei Bill?“ Sie stellte ihre große schwarze Handtasche auf der Kommode ab und sah mich mit großen Augen an. „Claude hätte mir niemals erlaubt, in einem anderen Zimmer zu schlafen, nicht einmal in den schlimmsten Zeiten zu Hause.“
„Nun, hier liegt der Unterschied“, sagte ich. „Bill hat mir nichts zu erlauben oder zu verbieten. Sein letztes Techtelmechtel mit einer anderen Frau hat mir fast den Rest gegeben.“ Ich machte eine weit ausholende Handbewegung. „Sieh dich an – du hast nicht nur Claudes Bett verlassen, du hast ihn gleich ganz verlassen!“ Ich zwinkerte ihr zu.
Renee seufzte, als hätte sie jahrelang den Atem angehalten, und setzte sich auf das Bett gegenüber. „Ich bin dir so dankbar, dass du uns hast herkommen lassen“, sagte sie. „Ich weiß wirklich nicht, was ich sonst gemacht hätte. Ich verspreche dir, dass ich dir nicht zur Last fallen werde. Ich helfe mit.“
„Hör schon auf, Süße. Wir sind doch eine Familie. Gemeinsam werden wir das schaffen. Und ehrlich gesagt, ich freue mich riesig über die Gesellschaft und darüber, eine Freundin hier zu haben, mit der ich reden kann. Ich war in letzter Zeit ziemlich … durcheinander. Es wird wunderbar sein, dich wieder in der Nähe zu haben.“ Ich wischte mir eine Strähne aus den Augen. „Auch wenn Mutter immer gesagt hat: ‚Warum nimmst du dir kein Beispiel an Renee?‘“
„Ach Joy, das hat sie doch nie so gemeint.“ Tränen drängten sich in ihre Augen wie der Schnee auf der Fensterbank. „Ich bin so froh, hier zu sein. Es war einfach schrecklich! Wir brauchen etwas Festes, worauf man sich verlassen kann. Jeder von uns.“
„Ich weiß.“ Ich lehnte mich zu ihr hinüber und ergriff ihre Hände. „Jetzt komm erst mal richtig an. Wir unterhalten uns später.“
Joy:
Müssen denn die schrecklichsten Erlebnisse der Kindheit sich immer in irgendwelche unbewussten Triebe verwandeln, die unser Leben für alle Zeit beeinflussen? Warum ist es so schwer, die Vergangenheit zu überwinden und eine größere Liebe zu finden, sodass unser wahres Selbst unser Leben leiten kann? Das sollte doch eigentlich das Einfachste auf der Welt sein. Aber, ach, wir kommen immer und immer wieder auf dieses Wort zurück – Hingabe.
Jack:
Und wie empfinden wir es, wenn wir entdecken, dass wir nicht unser eigener Herr sind? Gerade wenn wir glauben, wir wünschten, dass unser Leben uns ganz allein gehört, entdecken wir, dass wir unser Leben nur haben können, indem wir es dieser größeren Liebe hingeben, von der Sie sprechen.
Nachdem wir gegessen, die Kinder ins Bett gebracht, eine Runde Halma gespielt und ein paar Gläschen Rum getrunken hatten, krochen Renee und ich in unsere Betten.
Etwas beschwipst und schläfrig ließ ich mich ins Bett sinken. Ich verschränkte die Hände unter meinem Kopf und streckte die Ellbogen zur Seite. „Wie haben wir das bloß angestellt, Renee? Wie haben wir es geschafft, uns beide in Alkoholiker zu verlieben und sie zu heiraten?“
„Das habe ich mich auch schon oft gefragt, Joy. Wir haben getan, was von uns erwartet wurde. Und jetzt schau, was daraus geworden ist. Liegt es an irgendetwas in unserer Kindheit? Irgendetwas, was uns unbewusst eingetrichtert wurde? Ich weiß es nicht.“
„Ich glaube schon, dass man uns beigebracht hat, unser Licht unter den Scheffel zu stellen, damit die Männer strahlen können oder zumindest ein gutes Bild abgeben. Wir wurden darauf trainiert, ihre Bedürfnisse zu stillen, ihnen zu gefallen, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Wir waren Geiseln des Jähzorns meines Vaters und seiner Perfektionsansprüche – immer voller Angst, so zu sein, wie wir wirklich waren, einfach wir selbst zu sein. Und jetzt – wie hätten wir es mit unseren Männern anders machen können?“
„Von jetzt an werden wir es anders machen, Joy. Das müssen wir.“
„Ja.“ Ich setzte mich auf und starrte durch die Dunkelheit zu ihr hinüber. „Es muss einen anderen Weg geben, als Frau zu leben – unser eigenes Leben zu führen. Ich will herausfinden, wer ich bin, jenseits all dieser Erwartungen, die uns in ein hübsches kleines Kästchen zwängen. Ich will mich entfalten. Wie aber machen wir das?“
„Darauf habe ich auch keine Antwort. Ich versuche nur zu überleben – und dank deiner Hilfe gelingt mir das vielleicht.“
„Hier ist es auch nicht viel besser, Süße. Bill greift immer wieder zur Flasche. Er will, dass ich etwas bin, was ich nicht sein kann: eine Hausfrau, Haushälterin und unterwürfige Gattin. Er kannte mich, als er mich heiratete. Jetzt will er jemand anderen, als könnte mich die Ehe zu einem folgsamen Püppchen machen. Ich will dich nicht dazu verleiten, ihn zu hassen, aber er hat schreckliche Sachen gesagt und getan.“
„Hat er dich geschlagen?“, fragte sie flüsternd.
„Nein. Das ist es nicht. Er schlägt andere Dinge – wie zum Beispiel, als er seine Lieblingsgitarre auf einem Stuhl zertrümmerte, oder als er sein Gewehr quer durchs Zimmer schmiss. Meistens ist es nur sein Brüllen und Schreien. Diese wahnsinnige Wut.“ Ich hielt inne. „Renee, er hat zu einem Freund gesagt, er sei nicht so erfolgreich, wie er sein könnte, weil ein Schriftsteller zwei Dinge brauche, eine Schreibmaschine und eine Frau – und beide sollten funktionstüchtig sein.“
„Was für ein dämlicher Spruch.“
„Ich sollte mich nicht beklagen. Es ist ja nicht so schlimm wie deine Situation. Meinen Kinder geht es gut. Niemand liegt im Sterben oder ist krank. So schlimm ist es also gar nicht, es fühlt sich nur manchmal so an.“
„Ich will das nicht vergleichen, Joy. Es gibt viele Möglichkeiten, in einer Ehe unglücklich zu sein. Claude hat uns geschlagen und gedroht, uns umzubringen. Er hat uns herumgestoßen und sich fast zu Tode getrunken. Aber es können noch andere Dinge passieren, die sich so anfühlen, als müsstest du sterben. Wenigstens hast du dir deine Leidenschaft fürs Schreiben bewahrt. Ich habe gar nichts.“
„Das ist schon eine Hilfe“, gab ich zu. „Aber, meine Liebste, jetzt hast du ja uns, und deine Kinder haben meine.“
„Ja, jetzt bin ich ja hier“, sagte sie.
Es fühlte sich so an, als wäre sie gekommen, um uns zu retten, und nicht umgekehrt.