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Kapitel 1: DER GOTTSCHLÄCHTER

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Es war der neunte Tag, da er da hing. Silberne Nägel in die Glieder gerammt, vom Baum der Anklage herab röchelnd. Gespreizt die Arme, gespreizt die Beine. Das gekreuzigte Fleisch am kalten Stamm. Halb erblindet, nackt und fast tot. Das Weiß des Winters legte sich auf das Rot seiner Wunden. Der gefrorene Atem kam abgehackt zwischen zerschlissenen Lippen hervor.

Der neunte Tag. Nicht, dass er die Tage überhaupt noch zählen konnte, mit eingeschlagenem Schädel, vor Hunger berstenden Leib und zugleich vom Schmerz bestimmten Geist, aber andere zählten, viele andere mit ihrem Schmerz: ein ganzer Klan von Kriegern und ein ganzer Zirkel von Zauberinnen. Die Werwölfe ritzten es in den Baum, in seine Haut und schrien es in seine Ohren. Seine Hölle war gewiss längst bereit für ihn im jenseitigen Reich, aber zuvor sollte er noch in der Dieswelt so lange wie möglich erfahren müssen was es hieß, seinen eigenen Gott und Vater getötet zu haben.

Ein verkrusteter Strom aus Blut herab der Rinde, eine stinkende Lache zu seinen Füßen. Immerhin der Schnee verbarg ein wenig das Ekelhafte, immerhin der Schnee brachte etwas Kühle und Taubheit in die frischen Wunden. Eis im langen Haar, im dunklen Bart. Das rechte Auge war verletzt und zugeschwollen. Somit sah er nur noch mit einem, dem Blick von gelber Farbe. Weiß, rot, blau und violett die Haut. Abgemagert, kraftlos. Narben von Klauen quer, gekreuzt und tief. Bissspuren von Wölfen.

Das, was da hing, war kein Krieger des Wilden Heeres mehr, auch kein Mann und kein Mensch. Es war eine aufgerissene, gefolterte und allein dem Tode entgegen siechende Hülle aus Fleisch, die nur den so stumpfen wie brennenden Wunsch nach einem endgültigen Ende hatte. Doch wäre er nicht mehr als ein Mensch, so wäre er seinen Verletzungen längst erlegen. Noch heilte die regenerierende Gabe des Werkriegers die immer neuen Verwundungen, noch ertrug er mit seiner Widestandskraft die Entbehrung von Nahrung und Wasser. Noch gab nichts in ihm auf.

Mochte auch gewiss keine Erlösung für ihn jemals mit dem Ende im Diesseits folgen, so gäbe es wenigstens keine Blicke der Anklage, des Hasses und der Verzweiflung seiner Brüder mehr, so würde er wenigstens nicht mehr das andauernde Heulen der Trauer hören müssen, das Tag und Nacht im Wald der Welt angestimmt wurde.

Mit dem Winter war das Ende von Klan Wolf gekommen und allein er trug die ganze Schuld daran.

Der Himmel war schwarz, mondlos und es war bitterkalt. Warug zitterte fast beständig mit äußerster Heftigkeit, denn der Frost kroch tief in sein Fleisch bis an die Knochen. Tatsächlich hatte er den Winter noch nie so sehr und so schrecklich gespürt wie zu jenen finsteren Stunden. Immer wieder brauste ein Wind auf, der zuerst über die weißen Kronen tanzte, zwischen die Stämme hindurch fuhr, ehe dieser wie eine Faust aus Eis seinen Leib umkrallte. Gänzlich dunkelblau waren Finger und Zehen und weiter noch kroch die immer schwärzer werdende Farbe seine Gliedmaßen hoch. Bevor ein Körperteil abfror, brannte dieser wie Feuer, so hatten ihm die älteren Krieger dereinst erzählt und so erfuhr er es jetzt auch. Alles, war noch an Regenerationskraft in ihm mobilisiert werden konnte, arbeitete gegen das Ende an. Schlafen war unmöglich, bloß das Fallen in Bewusstlosigkeit gewährte gnadenvolle Ruhe.

Und so forderte die Qual wieder einmal zu viel und der Geist gab gänzlich nach, doch war es dieses Mal nicht verlorene Dunkelheit, die ihn umfing, sondern ein Alptraum, in dem er sich schließlich wieder fand und den er niemals vergessen sollte. Es war wie eine Erinnerung an etwas, das er so nicht erlebt hatte und doch genau so geschehen sein musste.

Er sah sich selbst, wie er da lag am Fuße des Weltenbaums, kurz nachdem er seinen Gott enthauptet hatte. Wie ein hilfloser Beobachter schwebte er über allem, kurz nachdem sein damaliges Ich zusammengebrochen war und lange nichts mehr bewusst erfahren hatte. Alles fühlte sich real an, viel zu real und zugleich völlig irreal. Wie fürchterlich war all dies, das er so erneut und doch zum ersten Mal erblicken musste. Dort, auf dem heiligen Hügel zwischen den gigantischen Wurzeln. Unter einer himmlischen Baumkrone, im wieder erstarkten Licht der Allmutter. In schwarzes und rotes Blut war sein Fell gebadet. Sein Schwert im weißen Gras. Der abgetrennte Schädel seines zum Dämon gewordenen Vaters lag mit einem letzten Zucken der Tentakel, die dem Ding aus dem Maul hingen, daneben. Die Berge von gefallenen Feinden ringsherum, sich langsam zersetzend, auflösend.

In träumender Gestalt, ganz nackt und ungläubig, stand Warug plötzlich inmitten der grässlichen Szenerie. Ein Rabe landete auf seiner rechten Schulter, begegnete mit schwarzem Funkeln seinem Blick. Er krächzte und gebot ihm, die Augen vor sich selbst zu verschließen, aber der Werwolf entschied sich dagegen und wollte weiterhin ohnmächtiger Zeuge bleiben.

Er drehte sich um und sah ihn, seinen jungen Bruder, den einzigen anderen Überlebenden der Dämmerwanderer: Brander Flammenkrieger hatte wieder und wieder das Gjallarhorn geblasen um den Klan in Kriegsgestalt und durch Geistertore herbei zu rufen. So kalt und laut der Ton des uralten Artefakts. Ungehört war es zuvor gewesen, als der Eine Feind die Sphäre verfinstert hatte und die Wogen verderbter Geister über die Karawane von Gorond und seiner Kinder hergefallen waren. Nun aber traten sie alle durch eine Tausendschaft von flackernden Portalen, bereit für Kampf und Verteidigung, doch sollten sie nicht mehr zur Hilfe eilen können, sondern nur noch den Tod ihres Gottes bezeugen müssen. Dem entsetzten Schweigen folgte heulendes Wehklagen und schließlich zornige Rufe, denn schnell begriffen sie, dass Warug derjenige war, der das Sakrileg begangen und damit den Untergang des Klans besiegelt hatte. Sie stürmten auf den Hügel, tausende Werwölfe in Kriegsgestalt, die sich vor dem Träumer teilten, so als ob sie seine Präsenz unbewusst wahrnahmen, ihn aber gleichzeitig nur ignorieren konnten. Er wollte sich ihnen entgegen stellen, ihnen erklären, was eigentlich geschehen war und dass er so handeln hatte müssen, doch niemand hörte oder sah ihn, wie auch? Wieder bat ihn er Rabe auf seiner Schulter, sich von allem abzuwenden, aber Warug starrte weiter und sein Entsetzten sollte nicht geringer werden.

Brüllend rissen sie den schwarzen Werwolf auf ihren Armen in die Höhe und so viele wollten sein sofortigen Tod. Über der Menge der Mörder und Frevler, für alle sichtbar und mit heulendem Schimpf bekundet. Es solle ihm genau das angetan werden, was er soeben Gorond angetan hatte und die ersten Pranken rissen bereits an seinem Schädel, doch plötzlich wurden Stimmen dagegen laut, plötzlich schritten einige Rüdelführer ein. Jener heilige Ort im Lichte der Allmutter war schon genug besudelt worden und gerade jener Frevler durfte hier nicht auch noch sein Ende finden. Ein schneller Tod wäre ohnehin viel zu gnädig, denn zumindest Folter an einem Baum der Anklage musste ihm zuvor noch widerfahren. Und letztlich sollte er der Gava und schließlich den anderen Göttern überantwortet werden, denn nur sie könnten so schrecklich wie gerecht über ihn urteilen. Nach Tumult, Widerworten und einer kurzen Auseinandersetzung wurde den Führern Folge geleistet und der noch immer bewusstlose Warug wurde in die irdische Sphäre gebracht. Zurück in den Wald der Welt, zurück in das Revier der nun für immer verdammten und gottlosen Werwölfe.

Der Träumer kam mit ihnen und viel größer noch wurde sein Schmerz, viel größer noch die Verzweiflung. Brander Flammenkrieger, der lange nicht begreifen sollte, was überhaupt geschehen war, wurde auf der Hainstatt von Klan Wolf bejubelt, während die Leichname der anderen Dämmerwanderer in den Sümpfen der Ahnen bestattet wurden. Unter ihnen der einstige Anführer und Magnor Sigthun Silberklaue, dessen entstellter Körper zuletzt im Morast versank. All dessen wurde Warug in seinem Alptraum Zeuge, der sich wie ein Unbeteiligter inmitten der Ansammlung seiner Brüder wiederfand und so dem Begräbnis beiwohnte. Mehr als einmal schrie er sie alle an, bat um Vergebung, doch kein einziger reagierte auf ihn, wie auch? Der Rabe krächzte immer wieder und wieder auf seiner Schulter, doch er wollte nicht hören.

Schließlich wurde er Zeuge seiner eigenen Kreuzigung. Auf der Lichtung und im Forst rundherum stand die gewaltige Schar, blickte auf den Baum der Anklage, wo gerade die silbernen Nägel Hände und Füße des entblößten Frevlers geschlagen wurden. Laut und hasserfüllt brüllte die Menge. Immer wieder heulten die Wölfe, während die Matronen mit gesenkten Häuptern schwiegen. Die alte Anführerin des Zirkels stand mit kalter Miene inmitten.

Der schlafende und doch wache Werwolf mit dem Raben auf der Schulter dachte an seine Gefährtin von Einst, suchte nach ihr und betete zugleich, dass sie nicht zugegen war, denn er hätte es zu jener Stunde nicht ertragen in Sanaras Augen sehen zu müssen. Ehe der Träumer wieder begreifen sollte, dass er bloß ein Träumender war, geschah jener grässliche Moment, als sein gekreuzigtes Ich gänzlich zu Bewusstsein kam und von allem Schmerz überwältigt aufschrie. Vision wurde zur Erinnerung. Alptraum zum Erlebnis. Mit einem Mal stand er nicht mehr als unbeteiligter Außenstehender unter den Seinen, sondern war wieder jener am Baum.

Brutal erwachte er, schrie noch immer, auch wenn es bloß ein heiseres Krächzen war, denn zu mehr waren Körper und Stimme nicht mehr fähig. Da bemerkte er, dass da noch immer der Rabe auf seiner Schulter hockte und seinen Blick erwiderte.

Der Vogel sprach: „Du hättest eben nicht hinsehen sollen.“

Der dunkle Schnabel fuhr plötzlich direkt nach vorne, hinein in seine linke Augenhöhle. Zuerst ein Stich wie von einer heißen Nadel und dann vollkommene Schwärze.

„Bei allen Göttern, was hast du nur getan?“, schrie Deva Sanara.

Fast völlig aufgelöst, mit Zorn im Wort und Trauer in den Augen stand sie da, allein im Schnee, vor dem Baum der Anklage, auf dem derjenige hing, dem sie fast ihre Liebe geschenkt und der dann ihren Gott getötet hatte.

Er konnte sie kaum hören, konnte sie mit seinem unverletzt gebliebenen Auge kaum sehen und kurz verlor er das Bewusstsein. Nur ein Röcheln und ein in Scham verzerrtes Gesicht blieb ihm als Antwort auf ihre schreckliche Frage. Die Fähigkeit zum Sprechen hatte er inzwischen eingebüßt, denn ein wahnsinnig gewordener Bruder hatte ihm die Zunge heraus gerissen.

„Ich kann nicht glauben, dass du dazu fähig warst!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Dein Vater, unser Gott... Wie, warum? Du bist doch sein Kind und bist ein eingeschworener Krieger des Wilden Heeres! Es kann keine größere Sünde geben, als die deine. Dafür habe ich keinen Geächteten heimgeholt. Dafür habe ich dich nicht gerettet!“

Der Stab der Matrone glühte, als sie fast unbewusst Magie zu bewirken begann und beinahe einen zerstörerischen Zauber gegen ihn geworfen hätte. Als er dies bemerkte, hatte er den äußersten Wunsch, dass sie und allein sie es zu Ende brachte.

Sanara starrte lange auf ihn und schließlich konnte sie ihn nicht mehr länger verabscheuen. Sie kannte ihn nach ihrer gemeinsamen Zeit viel zu gut und las schnell in seinem geschundenen Ausdruck. Sie sah sein Flehen. All der Gram überkam sie wie in den Tagen zuvor und beinahe wäre sie auf die Knie gefallen, aber sie stützte sich auf und verweilte bloß mit gesenktem Kopf.

„Arda, steh mir bei“, flüsterte sie zitternd.

Sie begann zu schluchzen, wollte schon wieder zurückgehen zum Heiligen Hain, aber dann drehte sie sich doch wieder zu ihm um.

„Sie nennen dich jetzt den Gottschlächter. Warug Gottschlächter, der größte Frevler in der Geschichte des Klans.“ Immer resignierender wurde ihr Tonfall, während sie ihm aus irgendeinem Grund heraus seine Situation zu erklären begann. „Und doch... Alle, die nicht in Trauer oder gar Wahn versunken sind, sagen manchmal, dass du es tun musstest, weil er zum Dämon geworden war. Ich kann dies fast so wenig glauben, wie deine Tat.“

Warugs Wahrnehmung und Geist wurde für einen Moment viel klarer und trotz all der Pein hatte er sie gut verstanden. Unbedingt hätte er ihr jetzt antworten wollen, aber aus seinem Mund, der nur noch wie eine blutende Höhle inmitten einer erbleichten Ruine war, kamen bloß wieder Röcheln und Speichel.

„Viele wollen dich tot sehen, aber sie erlaubt es nicht. Gava Meduna sagt, dass du am Leben bleiben musst. Es war allein ihre Anordnung und alle müssen folgen. Und dabei bin gerade ich es, die ihr gerade jetzt nicht gehorcht.“

Sie drehte sich um, entfernte sich langsam von ihm. Dann hielt sie inne, blickte über die schneebedeckten Wipfel hinauf in einen viel zu grauen Himmel. Langsam glitten die Flocken hernieder, auf sie, auf den Wald, auf die Bäume der Anklage, wo seit jeher die größten Verbrecher und Verräter gehangen hatten, doch noch nie war es ein Mörder am eigenen Gott als Gekreuzigter gewesen.

Im Dunkel des Forstes erblickte Sanara Wölfe, die sie lautlos beobachteten und langsam um die Lichtung schlichen. Brüder in Tiergestalt, die vielleicht sogar auf dem Geheiß Gava Medunas anwesend waren und von denen sie manche an der Fellzeichnung erkannte.

„Ich bin niemals hier gewesen und ich sprach kein Wort zu ihm“, flüsterte sie leise.

Sie wusste ganz genau, dass sie gehört wurde.

„Manche meinen, dass wir dich brauchen“, begann sie und ging wieder einige Schritte auf den Gekreuzigten zu, aber ohne den Kopf zu heben. „Der Schmerz ist für alle unerträglich, aber dich, dich können wir anschreien, verfluchen und sogar quälen. Dich können wir als den einen Schuldigen für unseren größten Verlust benennen. Und du musst es ertragen, du hast keine Wahl. Aber hast du es auch wirklich verdient? Sind wir wahrhaft gerecht mit dem, was wir dir antun? Will ich, dass du...?“

Die rothaarige Frau brach ab. Der schwarzhaarige Mann röchelte.

Wieder konnte er keine Antwort geben, aber innerlich war er sich gewiss, dass er all das verdient hatte. Warug wusste zwar ganz genau, dass er einen Dämon erschlagen hatte, aber er trug alle Schuld an dessen Verfall zuvor. Einst Geächteter, dann Gnadenwandler und nun Gottschlächter: das Schicksal meinte es wahrlich nicht gut mit ihm.

„Manche meinen sogar, dass es ohnehin im Sinne der Allmutter geschehen sei“, setzte Sanara mit einem Blick auf die Wölfe im Dunkel des Forstes fort. „Die Dritte Niederkunft des Einen Feindes naht und Krieg wird über die Welt ziehen. Kein Gott, keine Hoffnung, bloß Untergang. Vielleicht wäre der Klan mit dem Fatalismus, der seine Klauen und Zähne von nun an führen wird, wichtiger für das Wilde Heer, als wir es jetzt noch zu ahnen vermögen. Die erste Schlachtreihe würde ohnehin zur Gänze fallen, warum also nicht mit der verzweifelten Raserei von Verlorenen, die alles mit sich reißen? Ein höherer Plan vielleicht, aber ein erbarmungslos berechnender. Bei Arda und Erennos, was rede ich da eigentlich?“

Deva Sanara seufzte laut, rieb sich die Augen und setzte sich auf einen Stein am Rande der Lichtung. Inzwischen fiel es ihr sehr schwer, zu ihm hoch zu sehen. Mehr und mehr verflog der Zorn in ihr und sie fühlte mit einem Mal sehr viel Mitleid, fast Angst um ihn. Sie wollte nicht, dass es für ihn auf eine solch erbärmliche Weise enden würde, egal was er getan hatte und ob es nun richtig gewesen war oder eben nicht. Ihr Gefährte von Einst wurde gefoltert, war zutiefst verhasst und verachtet, doch durfte auch sie über ihn so urteilen wie die anderen? Hatte sie ihn auf langer Reise nicht besser kennenlernen können und sein wahres Wesen erkannt? Hatte sie schließlich ihm nicht nur ihren Respekt, sondern auch ihre Zuneigung geschenkt?

Wieder Tränen auf ihrem Gesicht, die sie zunächst gar nicht bemerkte. Nun wurde ihr völlig klar, weshalb Gava Meduna ihr verboten hatte, auch nur in seine Nähe zu kommen oder gar mit ihm zu reden. Sie begann sich für ihr Fehlverhalten zu schämen.

„Der Zirkel wird ohne sein spirituelles Licht nicht untergehen, aber der Klan wird es, so viel ist gewiss. Und ich muss es mitansehen, so wie die gesamte Schwesternschaft. Ohne Gorond wird es keine neu erwachten Werkrieger mehr geben können. Ohne Gorond wird das Revier nicht mehr ausreichend bewacht werden können. Der Feind hat wieder einen großen Sieg über einen Klan errungen und so wie andere zuvor wird dieser vom Antlitz der Schöpfung getilgt werden. Der Magnor ist mit seinem Vater gefallen. Gottlos und führerlos seid ihr, daher greifen Wahn und Disziplinlosigkeit um sich. Schlimme Dinge sind passiert, viele schlimme Dinge. Manche Werwölfe sind verschwunden, manche nahmen sich das Leben und andere warfen sich gegen unbezwingbare Gegner. Manchmal mussten wir es beenden...“

Sanara kam mit ihren Worten an einen ganz besonders schrecklichen Vorfall in den Sinn. Ein Rudel hatte bereits am vierten Tag nach dem Tod ihres Gottes auszurücken um einen Werwolf zur Strecke zu bringen, der in einer kleinen Kirche am Rande des Königreichs Avandor ein Massaker angerichtet hatte. Sie erblickten ihren in Blut getränkten Bruder auf einem Leichenberg von unschuldigen Sterblichen, wo er leise winselnd Gorond betrauert hatte. Es hatte keine Gegenwehr von ihm gegeben, als er niedergestreckt worden war. Dies war schließlich auch jener Tag gewesen, als Sanara ihre Herrin zum ersten Mal laut weinen gehört hatte. In den Katakomben unter dem Tempel von Sonne und Wolf, alleine und hinter der verschlossenen Pforte ihres Raums.

Die Deva schreckte aus ihren Gedanken auf, als sie ein lautes Heulen in unmittelbarer Nähe hörte. Sie sollte endlich gehen, so wurde es ihr schnell klar. Sie war ohnehin schon viel zu lange hier, hatte viel zu viel gesagt und eigentlich hätte sie ihn gar nicht sehen dürfen.

Sie musste sich sehr überwinden, um noch einmal auf den Gekreuzigten zu blicken. Er hatte offenbar das Bewusstsein wieder verloren, so stellte sie fest. Fast war sie froh darüber, denn so musste sie nicht mehr in ein so vollkommen gequältes Gesicht sehen und vielleicht waren ihm sogar einige ihrer schlimmen Worte erspart geblieben, da er sie nicht mehr hören hatte können. Sie konnte, sie wollte nicht mehr länger hier sein.

„Es tut mir leid“, entkam es ihr plötzlich. „Es tut mir leid um dich, um... uns...“

Dann sprang sie auf und lief davon, hinein in den Wald, zurück zum Heiligen Hain. Sie weinte und stolperte, sie schrie und betete. Manch ein Wolf sah ihr hinterher und mehr als einer senkte winselnd sein Haupt.

Warug Gottschlächter hatte sie tatsächlich schon länger nicht mehr hören oder sehen können, aber als er später wieder zu sich kam, schrie er nicht nur wegen der Pein in seinem Körper, sonder auch weil sie nicht mehr da war.

Am Abend des neunten Tages wurde die Hainstatt der Wölfe erfüllt von einem magischen Licht. Durch das Sphärenportal im Wald der Welt war er mit den Seinen gekommen und schließlich über einen Geisterpfad direkt hierher gelangt. Die Luft erglühte und zuerst berührte ein doppelt behuftes Bein von enormer Größe den Boden zwischen den Megalithen des Hauptplatzes. Nach dem Tod Goronds betrat zum ersten Mal ein anderer Wilder Gott den Wald der Welt: der Keilergott Toruskorr. Eine Leibgarde seiner Werkinder und Matronen-Botschafterinnen vom Zirkel im Osten begleiteten ihn. Tatsächlich wusste so gut wie niemand davon, außer der Erzmatrone, dass diese heilige Audienz für wenige Stunden stattfinden würde, ehe Toruskorr wieder in sein Reich zurückkehren sollte. Demnach fanden sich so überraschte wie neugierige Werwölfe, Matronen und Blutfolger auf dem Hain ein. In Ehrfurcht knieten sie nieder und senkten die Häupter.

Gava Meduna und ihr Gefolge traten aus dem Tempel von Sonne und Wolf um den göttlichen Besucher in Empfang zu nehmen. Seit vielen Tagen hatte die Erzmatrone dieses Treffen vorbereitet, denn es ging nicht nur um das Urteil über den Gottschlächter, sondern auch um die Zukunft des Klans, der unbedingt wieder Führung und Einigung brauchte. Noch sollten die anderen trauern, noch sollten sie ihre Klauen in Warugs Körper rammen, aber die Erzmatrone und jene Rudelführer, die genau in dieser Situation klaren Kopf und Weisheit bewahren wollten, hatten sich bereits mehrfach zu Beratungen zusammengefunden.

Durch den Weltschatten hindurch hatten sich die Gavas und Madas der Schwesternschaft permanent Botschaften zugesandt. Die Raben hatte man gemäß ihrer Pflicht zu offiziellen Gesandten von Klage und Kunde ernannt, die die geflügelten Werkrieger bis in den letzten Winkel der Welt trugen. Geister und Knochen waren befragt worden, besondere Schutzzauber wurden über das Revier und den nun gottlosen Hort mit der Höhle Goronds gewoben. Darüber hinaus mussten die Grenzen des Waldes der Welt weiterhin bewacht, die einfallenden Skrael in den Hinterlanden bekämpft und andere Feinde diesseits und jenseits des Schleiers zur Strecke gebracht werden. Es musste weiterhin der Bund mit den freien Marken der Kelltonen im Norden des Reviers aufrecht erhalten werden. Es mussten Pflichten erfüllt und Funktionen ausgeübt werden und kein Sterblicher im Alten Glauben durfte vorerst vom Tod ihres Gottes Gorond erfahren.

All dies und mehr musste nun die Erzmatrone von Angesicht zu Angesicht mit dem Vater der Keiler besprechen. Und er wollte den Gottschlächter sehen. Am allerwichtigsten wären aber die Vorbereitungen für ein Ereignis, wie es zuletzt vor zweihundert Jahren zur Zeit der Brennenden Hetze geschehen war. Ein großes und heiliges Ereignis, wie es die Welt nur sehr selten zu sehen bekam. Ein Ereignis, bei dem alles Schicksal entschieden werden würde.

Der Sturm der Krieger

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