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Kapitel 5: DER TOTE NAME UND DAS HEULEN DES HAINS

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Die Nadel bohrte sich in den Rücken Warugs. Auf dem Bauch lag er in einer Kammer unter dem Tempel von Sonne und Wolf. Kalt war der steinerne Altar, auf dem er reglos zu verweilen hatte. Eine Matrone war über ihn gebeugt. Sie stach und ritzte mit einer silbernen Nadel in die Haut des Werwolfs, währenddessen gleichzeitig eine andere Matrone mit den Fingern ein farbiges Gemengsel aus Wasser, Asche und einem besonderen Karmesinrot aus einem Gefäß heraus in das äußere Fleisch des minimal penetrierten Leibes einrieb. Die beiden kundigen Tätowiererinnen der Schwesternschaft murmelten in rhythmischen Abständen immer wieder Worte des Gebets und Formeln besonderer Zauber.

Das Ritual dauerte nun schon eine ganze Weile an, doch natürlich ließ es Warug geduldig und gänzlich schweigsam über sich ergehen. Sanara stand etwas abseits mit einer Weihrauchschale in den Händen und beobachtete nicht ohne Faszination, wie ihre beiden Schwestern dabei vorgingen. Ihre Rolle in der Zeremonie war zwar von keiner allzu großen Bedeutung, aber es war wichtig, dass sie als Dritte des Zirkels anwesend war und sie von Zeit zu Zeit kreisförmige Bewegungen vollführte um Geruch und Schwaden weiter zu verteilen.

Sanara selbst hatte ja wie alle Matronen diverse magische Tätowierungen am Körper, die ihr die Ausübung vieler ihrer Kräfte erlaubten und verstärkten. Manche dienten auch als Schutz, andere hatten eine gänzlich mystische Symbolik, galten als sichtbares Bekenntnis zu einem Klan oder waren allein zur Zierde. Tatsächlich war das Wissen um diese miteinander wirkenden Muster und wie sie und an welcher Stelle des Körpers aufgetragen wurden eine höchst komplexe und in vielen Belangen geheime Lehre, die allein die Matronen, genauer gesagt die so genannten Hautmalerinnen, kannten und seit mehr als zweitausend Jahren mündlich und in gesegneten Schriftrollen weiter gaben.

Da Brander Flammenkrieger gestört hätte mit seiner Anwesenheit und er vieles hier ohnehin nicht sehen durfte, musste er vorerst in einem anderen Teil des Tempels warten. Das Gebot hatte er gänzlich ohne Knurren oder andere milde Formen des Protests akzeptiert, denn auch wenn er inzwischen nicht mehr von Warugs Seite weichen wollte, so folgte er natürlich stets und gewissenhaft den Befehlen der Schwesternschaft.

Es war der Name Gorond, der da auf dem Rücken des Gottschlächters in alten Runen eintätowiert wurde. So hatte es Gott Toruskorr geboten, denn niemals sollte Warug seinen Großen Vater vergessen und für den Rest seines Lebens sollte er ihn in seinem Fleisch mit sich tragen. Er konnte ihn zwar nicht direkt und unter Bekleidung konnte er ihn verhüllen, aber mit dem ersten Licht des Mondes sollte er ihn in jeder Nacht spüren, den Namen seines Gottvaters auf seinem Rücken. Der Schmerz einer jeden einzelnen Rune wäre keine allzu große Qual, aber ein Gemahnen bis in den Tod.

Die ältere Matrone vollführte mit der Silbernadel den letzten Ritz. Die jüngere Matrone rieb fest das Gemengsel ein. Damit war nun Gorond quer über den ganzen Rücken von Schulter zu Schulter zu lesen. Gefäß und Instrument wurden zur Seite gelegt. Sanara löschte das Glimmen und stellte die Weihrauchschale zur Seite auf einen Podest, dann schloss sie die Augen und streckte ihre Arme abgewinkelt aus. Die Hautmalerinnen wiesen mit flachen Händen auf ihre gemeinsames Werk. Zunächst summten sie, dann sprachen sie eine weitere Formel. Warug knurrte kurz, als sich das Mal auf seinem Leib noch tiefer einprägte. Die Runen wurden wie von selbst ein wenig größer und breiter, die Farbe wurde kräftiger. Eine Desinfektion war bei einem Werkrieger nicht nötig.

Dem Gottschlächter wurde erlaubt sich zu erheben. Die etwas erschöpft wirkenden Hautmalerinnen verließen wortlos den Raum. Sie verabschiedeten sich mit knapper Geste nur bei ihrer Schwester.

Der Werwolf stand noch eine Weile mit dem muskulösen Rücken zu Sanara, die neugierig die magische Tätowierung begutachtete, und streckte die Glieder. Knackende Knochen. Er wagte es erst gar nicht mit der Hand die Runen in seinem Fleisch zu betasten. Er spürte sie ohnehin mehr als deutlich.

„Wie sieht es aus?“, fragte er unvermittelt ohne sein Gegenüber anzusehen.

Die junge Matrone neigte den Kopf zur Seite und sprach: „So, als ob es weh tun würde.“

„Hm. Das soll es ja auch. Wie viele Stunden habe ich da gelegen?“

„Es müssen etwa drei Stunden gewesen sein. Die Nacht ist bald vorbei.“

Langsam drehte er sich zu ihr um und hielt Ausschau nach seinem Mantel. Sanara nahm diesen von einem Tisch und übergab ihm das schwarze Leder. Er verzog das Gesicht, als er ihn anzog.

Sie begann: „Wolf, ich...“

Fast gleichzeitig begann auch er: „Sanara, du...“

Sie unterbrachen sich gegenseitig und schwiegen vorerst einmal gemeinsam. Ihre Blicke trafen sich nur kurz. Sie versuchte es mit einem verständnisvollen Lächeln. Er unterdrückte nur halb ein verdrossenes Knurren. Beiden war der Moment gerade etwas peinlich, obwohl eigentlich nichts peinlich war.

„Was wolltest du sagen?“, fragte Warug.

„Eigentlich wollte ich nur das Gebot Gava Medunas verkünden, dass du dich sogleich in eine andere Kammer begeben sollst. Ein letztes Ritual musst du heute noch erdulden. Es ist wichtig, dass es mit der Dämmerung des neuen Morgens passiert. Folge mir bitte.“

Ungewöhnlich lange verweilte er ohne jegliche Reaktion. Sanara wusste das gerade nicht wirklich zu deuten, aber ehe sie ihn noch einmal mit einer gewissen Verärgerung auffordern wollte, ging er direkt auf sie zu und wartete schließlich, dass sie ihn weiter führen möge.

„Es wird wohl nicht so lange dauern“, begann sie. „Aber ich werde dabei sein müssen.“

„Dann musst du eben wieder dabei sein.“

Mehr hatten sie einander vorerst nicht zu sagen.

Gava Medunas Knie schmerzten. Eigentlich wäre dies eine gute Gelegenheit gewesen, das Alter wieder einmal zu verfluchen, aber sie hatte sich zu fokussieren. Sie konzentrierte sich auf den Werwolf vor sich im Pentagramm und auf den Weltschatten, in welchen sie weit und mit intensivierter Macht hinausreichte. Es galt einen Geist zu beschwören.

Deva Sanara kniete in ähnlicher Haltung neben ihr. Sie war ihre Assistentin für dieses Ritual der Bindung. Drei ihrer älteren Schwestern standen gerade summend in einem Kreis um Warug Gottschlächter, der im Schneidersitz hockte, herum. Die junge Matrone ließ mit dem hölzernen Schlagstock auf ihrer Trommel ein weiteres Mal den Takt erklingen. Hierauf bewegten sich die drei Zauberinnen des Zirkels etwas weiter voran. Diese beschritten kreisförmig von rechts nach links den durch das aufgezeichnete Pentagramm vorgegebenen Pfad. Über eine Stunde passierte dies nun schon so und der Morgen war außerhalb des Tempels bereits angebrochen.

Warug musste sich ebenso konzentrieren. Die Augen geschlossen. Die Körperhaltung ruhig und aufrecht. Er versuchte seinen Geist gänzlich zu leeren und gleichzeitig seine Gabe zu spüren, in den Weltschatten hinüber treten zu können, aber ohne dass er dies tatsächlich auch tat. Dies war gewiss keine leichte Übung, aber die drei Matronen um ihn herum gaben ihm ein Geleit durch ihre Macht, auf dass er in der Dieswelt bliebe.

Sanara spürte kurz, dass ihre Herrin ihr gebot, in die nächste Phase des Rituals überzuleiten. Offenbar war es nun endlich soweit. Sie schlug nun die Trommel in einem merklich schnelleren Rhythmus. Ihre Schwestern, die langsam in einen Trance-Zustand übergingen, hörten dies und erhöhten das Tempo ihrer Kreisbewegung. Aus ihrem Summen wurde nun das laute Aufsagen ganz bestimmter Formeln.

Gava Meduna wirkte noch ruhiger und in sich gekehrter. Wie eine Statue verweilte sie. Kaum merkbar war noch ihr Atmen. Die Hände hielt sie weiter im Schoß verschränkt. Die junge Deva an ihrer Seite hatte die Aufgabe auf jede ihrer Bewegungen und Reaktionen zu achten, seien diese auch noch so subtil und scheinbar unbedeutend. Selbst das Aufstellen der Haare am Arm vermochte auf etwas zu verweisen. Im schlimmsten Fall hatte Sanara nämlich die allerwichtigste Aufgabe: sie musste ihre Herrin retten, wenn denn etwas Verderbtes über die Schwelle trat und die Schutzzauber durchbrechen konnte.

Da begannen die Augenlider der Meduna zu flattern. Sie keuchte leise auf. Gleiches war bei Warug zu beobachten. Im Raum intensivierte sich für alle spürbar die Macht. Die Kerzen im Raum brannten nun heller. Vom Pentagramm ging ein sanftes Glühen aus und über dem Kopf des Klanskriegers schien sich etwas mit unruhigem Flackern zu manifestieren. Ein außerirdisches Klingen ertönte. Es war also soweit.

Was dann geschah, erlebten allein der Werwolf und die Erzmatrone in dieser Weise und allein die Gava konnte sich zur Gänze daran erinnern.

Meduna und Warug sahen sich an. Sie saßen in derselben Haltung im selben Raum direkt gegenüber, waren aber offenbar allein. Ihr äußeres Erscheinungsbild hatte sich verändert. Die Erzmatrone wirkte deutlich jünger, ihre Kleidung hatte kräftigere Farben. Ihr strahlendes Haar hob sich teils so an, als wäre sie unter Wasser. Warug war in der mächtigen Kriegsgestalt eines Werwolfs und aufgrund seiner so gesteigerten Größe verdeckte er im Schneidersitz fast den gesamten Runenzirkel. Halb zur Brust gesenkt war der große Wolfsschädel. Seine Pranken mit den langen Klauen ruhten ineinander. Durch sein schwarzes Fell schien ein steter, sanfter Wind zu fahren. Völlig ruhig und beinahe starr wirkte er weiterhin, lediglich sein buschiger Schwanz zuckte etwas unruhig. Die tätowierten Runen auf seinem Rücken wirkten wie vom Pelz frei gebrannte Narben. Der Blick durch die beinahe geschlossenen Lidern geschlitzt: sein rechtes Auge glühte blau, sein Linkes rot.

Dort wo vielleicht die Anderen saßen oder standen, waren nur unterschiedlich farbige Schemen zu erkennen, die die Echos ihrer Seelen aus der Dieswelt darstellten. Das Pentagramm leuchtete im gleißenden Weiß. Die Kerzen glitzerten Sternen gleich und schwebten frei in der Luft. Von der Kammer selbst waren nur noch die Umrisse grob zu erkennen. Die Umgebung blieb dunkel, aber von der Decke herab schienen immer stärker Lichtgarben und Reflektionen, wie sie in ähnlicher Weise unterhalb der Wasseroberfläche auftraten. Keinerlei Geräusche waren zu hören, bis auf ein leises Trommeln und das Wiederhallen von Zauberformeln.

Die Matrone und der Werwolf waren mit ihren Seelen in die Geisterwelt hinüber geglitten. Dies hätten sie auch ohne ein Ritual und damit wesentlich schneller vermocht, aber hier ging es um etwas anderes und zudem war es sehr wichtig, dass ihre Körper noch in der stofflichen Welt verweilten.

Ein glasklares, sanftes Klingen ertönte und hinter dem schemenhaften Eingang zur Kammer bewegte sich etwas. Die Erzmatrone, die inzwischen die Augen geöffnet hatte und deren Blick mit purem Weiß erstrahlte, hatte es gerufen und so zeigte es sich nun also. Vorerst aber blieb es etwas vorsichtig, musterte die beiden sterblichen Kreaturen, wagte sich nicht näher heran. Es spürte die sehr große Macht der Menschenfrau, wusste aber zugleich, dass es eigentlich wegen dem Wandler zu erscheinen hatte.

Ohne den Mund zu öffnen hallte die Stimme Gava Medunas durch den Raum: „Die Erzmatrone mit der Macht der Allmutter hat dich beschworen. Komm, komm herbei, oh Geist der Wacht, komm und tritt an mich heran.“

Eigentlich verstanden Geister die menschliche Sprache nicht, denn allein mit Gefühlen und Gedankenbildern konnte mit ihnen kommuniziert werden, aber einfache Worte und Sätze vermochten diese zu bestärken. Noch mächtiger waren natürlich gesprochene Zauber oder geheime Namen, um sie zu rufen, zu binden und ihre Macht zu nutzen, doch gerade die Matronen zogen es sooft es ging vor, zunächst das Vertrauen eines spirituellen Wesens zu gewinnen um erst dann einen gewissen Dienst zu erbitten. Und so kundig die Matronen im Umgang mit der Geisterwelt auch sein mochten und so stark ihre metaphysische Verbindung allein durch ihre Berufung bereits war, manchmal erschien trotz bester Vorbereitung das falsche Wesen aus dem Weltschatten. Mit Glück war es harmlos, mit Unglück konnte es aber sogar ein Dämon sein. Zu jener Stunde verlief aber alles bisher so wie gewollt und wie erhofft.

Schließlich trat es tatsächlich mit einem schlurfenden Geräusch herein, das groteske Geschöpf. Es glich in erster Linie einem riesigen Igel, dessen Stacheln über dem ganzen Leib jedoch wie sichelförmige Dornen waren. Sein Kopf konnte als halb menschlich bezeichnet werden, auch wenn gerade die Augen in ihrer Größe und ihrem Glanz gänzlich unmenschlich waren. Anstatt Pfoten hatte es Füße wie die einer Echse und es zog einen geschuppten Schwanz hinter sich her. Mit glühendem Rot zeigten sich die Stacheln, während alle anderen Gliedmaßen von einer eher bläulichen Farbe waren. Obwohl die Erscheinung durchaus ein wenig furchterregend wirkte, so war der Ausdruck im Blick gänzlich von Sanftmut und Neugier geprägt.

Als Skuli Grineog bezeichneten die Matronen diesen Schutzgeist, der in ähnlicher Gestalt mehrfach an besonderen Ort im Weltschatten zu finden war. Zu dieser Stunde aber hatte die Gava ihn direkt zu sich gerufen um ihn an Warug für eine gewisse Zeit zu binden. Da der Tempel als Ganzes eine fokussierende Stätte der Macht war, dessen spirituelles Leuchtfeuer weit in die nahen Sphären hinaus reichte, konnten sich Geister hier leichter einfinden und manche besuchten aus gänzlich freien Stücken diesen Ort sogar sehr gerne.

„Komm, komm herbei, oh Geist der Wacht“, setzte sie nun lauter fort. „Die Erzmatrone der Allmutter braucht dich. Den Mannwolf sollst du beschützen. Er braucht dich. Sein Geist und sein Fleisch müssen von deinem Reich aus bewacht werden, denn Üble und Verderbte wollen ihn gewiss vernichten und mit deiner Hilfe kann die Zerstörung seines Geistes und seines Fleisches abgewendet werdet. Komm, komm herbei oh Skuli Grineog.“

Der gute Geist befand sich nun genau zwischen dem Werwolf und der Matrone inmitten des Raums. Sein glänzender Blick wanderte hin und her zwischen den beiden. Offenbar war er noch etwas unschlüssig. Die Macht der Menschenfrau war ihm aber wohl bekannt und er wollte gerne von dieser geleitet werden. So fühlte er hinein in die Seele des schwarzen Mannwolfs, um diese zu erkunden und um in seinem wahren Inneren zu prüfen, ob er denn das Geschenk eines Geistes überhaupt verdient hätte.

Gava Meduna wusste, dass nun eine besonders kritische Phase im Ritual begonnen hatte. Der Geist durfte nämlich gerade jetzt keinesfalls in Angst oder Zorn geraten, denn sonst würde er alles um sich herum attackieren.

Dann geschah etwas Unerwartetes: Warug streckte die Pranke aus und bot sie dem Skuli Grineog an. Eigentlich hätte er sich nicht bewegen dürfen, aber Meduna bemerkte auch am Rande ihres fokussierten Bewusstseins, dass dieser es eigentlich unbeabsichtigt und nicht aus sich heraus tat. Zum ersten Mal spürte die Erzmatrone bei dem Auserwählten ganz deutlich, dass dieser weit mehr als die Seele eines sterblichen Erwachten mit sich trug. Da glühte etwas auf in seiner schwarzen Klauenhand, aber sie konnte es nicht erkennen.

Der Geist des Skuli Grineog hob den Kopf an und gab einen gänzlich seltsamen Laut von sich, der nicht mit nichts zu vergleichen war. Der ganze Raum wurde davon erfüllt und übertönte Trommeln und Wort von drüben. Gava Meduna hatte den Laut in ähnlicher Weise schon öfter gehört: es stimmte zu.

Der Geist kroch zuerst weiter auf den großen Werwolf zu, der seine Pranke wieder im Schoß ruhen hatte. Dann löste sich das Skuli Grineog langsam auf und wie flüssig gewordenes Licht glitt es über Warugs Leib hinweg und mit einem letzten Glühen war klar, dass sich das herbei gerufene Wesen an ihn gebunden hatte. Von nun an würde es ihn vor allen Übeln aus der Geisterwelt zu beschützen versuchen.

„Blau und Rot war dieser Geist?“, fragte Deva Sanara mit kauendem Mund und einer leicht bemühten Neugier.

Warug Gottschlächter, der ihr gegenüber am niedrigen Tisch am Boden saß, nickte. Der vorerst letzte große Bissen galt dem Fleischstück auf dem Teller, das er sich mit der Hand in den Rachen warf. Das gekochte Wild mundete ihm wahrlich sehr. Er genoss diese größere Mahlzeit ausgesprochen, vor allem weil sie für ihn die erste in dieser reichlichen und bestens zubereiteten Art seit sehr langer Zeit war. Zu dritt saßen sie an diesem Abend in einer der gut beheizten Langhütten, die zu den Behausungen der Matronen hinter dem Tempel gehörte, zusammen. Brander Flammenkrieger war mit Bruder und Schwester zugegen. Er hatte keinen Hunger mehr und schwieg wieder einmal.

„Du glaubst ja nicht“, setzte Sanara fort „dass dies ein Zufall war?“

„Warum?“, frage der Werwolf nach.

Sanara verdrehte die Augen. Vor einer Antwort hatte aber jedenfalls der Hühnerknochen Vorrang. Dies bekundete sie mit einem deutlich hörbaren Schmatzen. Manchmal war er ausgesprochen schwerfällig bei geistigen Prozessen und beim Ziehen offensichtlicher Schlussfolgerungen, so dachte sie.

Sie blinzelte ihn auffällig an, aber es schien nichts zu nützen. Dafür verzog er die Miene etwas verärgert. Sanara zeigte mit ihrerm Daumen auf ihr linkes Auge. Wieder begriff er nicht sofort, aber dann nickte er, als es ihm endlich aufging.

Er brummte: „Hat wohl schon vorher die Farben meiner Augen angenommen. Und wieder dieses Rot.“

Die Matrone sellte fest: „Das muss eine höhere Bedeutung haben, ganz bestimmt.“

„...oder vielleicht ist es einfach nur beschissen verheilt und der Geist hatte seinen blauroten Tag“, murmelte Warug in seinen Bart hinein.

Die kleine Verhöhnung ignorierte Sanara ausnahmsweise.

„Der Rabe hat dir ein rotes Auge geschenkt“, meinte Brander. „Der Rabe als Bote des Allvaters hat in besonderer Weise gewirkt und sogar die Geister reagieren darauf.“

Die junge Matrone nickte. Wenn er mehr aus sich herausginge, dann würde er ganz gewiss sympathischer auf sie wirken, so befand die Deva gerade. Nicht zuletzt hatten er eine ähnliche Haarfarbe wie sie selbst und das gefiel ihr neben anderen Vorzügen seiner Erscheinung durchaus.

Der Geächtete von Einst hatte dieses Mal die üblichen Floskeln etwas satt und meinte bloß: „Jaja, die Boten des Allvaters... Heilig sind ihre Zeichen, die zunächst nur selten Klarheit bringen und uns in Unkenntnis grübeln lassen.“

Brander war doch etwas überrascht vom abschätzigen Tonfall des Auserwählten, aber natürlich wagte er keinerlei Form von noch so mildem Widerwort.

„Ich vermisse Rhugni“, entfuhr es Sanara plötzlich und mit lautem Seufzen.

Warug, der gerade einen Becher Wasser trank, hielt kurz inne im letzten Schluck. Sein Blick war auffällig.

„Wen meinst du?“, fragte der jüngste Anwesende in der Runde.

„Rhugni Sturmzwinger“, sprach der Geächtete von Einst, nachdem er den Becher wieder auf den Tisch aufgesetzt hatte. Er wischte sich über Lippen und Bart.

Da er nichts weiter sagte, musste Sanara weiter erklären: „Er war ein Werkrieger von Klan Rabe, der mich und den Wolf für eine Weile im Tal von Kaillach begleitet hatte. Eigentlich hatte er einen wichtigen Botendienst zu verrichten, aber er schloss sich uns an, als einfach weiter zu fliegen. Wie sich herausstellte tat er dies hauptsächlich aus Furcht vor seinem Tod, der ihm prophezeit worden war. Mehr als tapfer war er aber zuletzt, als er den Schwarzen Drachen für eine entscheidende Weile aufhalten konnte, damit ich und Warug ins... Geisterreich fliehen konnten. Dann verbrannte er im unheiligen Feuer seines Mörders von Verderbnis und später begruben wir seine verkohlten Knochen, damit er auch wusste, dass er gestorben war.“

Die Pause vor dem Wort fiel Brander natürlich auf, aber er fragte nicht genauer nach.

„Ein Auge weniger hat der Schwarze Drache aufgrund von Rhugnis Pfeil.“ Warug grinste etwas spöttisch. „Sie haben nicht alle die gleiche Gestalt, diese mächtigen Lakaien des Einen Feindes, aber daran werden wir ihn gewiss wiedererkennen, wenn er vom Himmel ein weiteres Mal auf uns herab stürzen sollte.“

Sanara nickte und in ihrer Miene zeigte sich ein Anflug von Trauer. Der Verlust des gefiederten Bruders tat ihr noch immer etwas weh. Zu viele waren gestorben, zu viele vernichtet worden, die sie gekannt, gemocht oder gar geliebt hatte.

„Mir ist zu Ohren gekommen“, sagte Brander „Dass ein Schwarzer Drache südöstlich des Reviers von Klan Keiler aufgetaucht sein soll. Von Velric wissen wir, dass sich aus den nördlichen Gebirgsketten zumindest ein weiterer Diener des Einen Feindes erhoben hat. Einer nach dem anderen erwacht also. Die Harpyiengötzen sollen sie alle zu sich zu rufen, auf dass sie sich in ihrer Feste Khyraz Draag zusammenfinden.“

Die Matrone spuckte mit verhasstem Ausdruck im Gesicht sofort zu Boden.

„Erwähnt diese Abscheulichkeiten, diese elenden Verräterinnen an der Allmutter nie wieder in meiner Gegenwart!“, rief sie laut.

Brander verweilte erschrocken und mit dem Oberkörper wich er unwillkürlich zurück. Schnell erinnerte er sich wieder daran, dass die meisten Matronen äußerst ergrimmt reagieren konnten, wenn es um die schrecklichen Herrinnen der Schnabelbrut ging und vor allem, wenn man sie direkt benannte.

Warug verbarg sein leichtes Grinsen hinter dem Becher, aus dem er gerade wieder trinken wollte. Er kannte das Temperament seiner erneuten Begleiterin deutlich besser, als sein junger Bruder. Allerdings verstand er gänzlich, weshalb die Harpyiengötzen so verhasst bei der Schwesternschaft und damit ebenso bei Sanara waren, hatten die gefiederten Dienerinnen des Einen Feindes doch das größtmögliche Sakrileg begangen. Ein Sakrileg, das seiner Untat im entfernten Sinne glich.

Kopfschüttelnd nahm die Deva einen Schluck Wein, ehe sie an einer getrockneten Wildwurzel nagte.

„Du hast mir nie gesagt, was der wiedergekehrte Geist des Werraben dir später offenbart hatte“, sprach Warug mit unverhohlener Neugier. „Willst du es in dieser Runde nicht verkünden?“

Sie war etwas überrascht von der Wendung im Gespräch und antwortete knapp: „Nein.“

„Ist es zu Nos Saman passiert?“, brachte Brander ein. „Auch ich bin den Toten zu jenem Feste begegnet. Viele unserer Ahnen haben sich uns gezeigt, auch wenn sie nur wenigen etwas offenbarten.“

Der Gottschlächter ignorierte ihn einfach: „Rhugni Sturmzwinger ist vielleicht zu einem ruhelosen Geist geworden, dem wir wieder begegnen könnten. Vielleicht war allein das Bestatten seiner stofflichen Überreste zu wenig oder es hat gänzlich andere Bewandtnis mit ihm. Vielleicht hat es etwas mit dem Raben zu tun, der anstatt mir ein Auge auszupicken eines mit roter Iris geschenkt hat.“

Da war er auf einmal wieder der Schlaue, so dachte Sanara etwas spöttisch.

„Ist das jetzt wichtig?“, fragte sie mit einem bewusst desinteressierten Tonfall. „Wenn die Boten des Allvaters oder ein ruhmreicher Toter uns erneut etwas sagen wollen oder uns mit weiteren Zeichen beehren, dann werden sie dies tun.“

„Du bist also gar nicht neugierig, wie sonst sooft?“

„Ich stelle bloß keine dummen und sinnlosen Fragen, das ist alles.“

„Ich dachte nur du wüsstest gerne mehr darüber und dir läge soviel an dem toten Raben?“

„An wem mir viel oder gar nichts liegt, bestimme noch immer ich, Gottschlächter.“

Mit seinem ehrlosen Zunamen sprach sie ihn zum ersten Mal an. Warug war fast ein wenig geschockt darüber und eigentlich wollte er mit aufwallendem Zorn noch schnell etwas Schlagfertiges erwidern, doch ihm fiel zuerst nichts ein und dann würgte er ein beleidigendes Wort mit hartem Schluck hinunter.

Es mochten nun böse Blicke folgen, die Brander, der sich gerade völlig ausgeschlossen fühlte, durchaus bemerkte. Dass er nun ein Teil dieser Schicksalsgemeinschaft war, gefiel ihm im Moment nicht besonders. Irgendwie hatte er das Bedürfnis das längere Schweigen zu unterbrechen und gänzlich das Thema zu wechseln.

„Ist euch eigentlich je aufgefallen, wie kalt dieser Winter nicht ist?“

Merklich genervt waren nun die beiden Blicke, die jetzt allein ihm galten.

Warug ging unwillig, aber dennoch darauf ein: „Simpler Palaver über das Wetter also? Euch fällt wirklich nichts anderes ein?“

Der junge Werwolf erklärte sich ausführlich: „Ich kann mich an keinen so derartig strengen Winter erinnern. Auch die älteren Brüder können es nicht. Natürlich haben wir manchmal auf unseren Reisen außerhalb des Reviers diese Jahreszeit hart und entbehrungsreich für die einfachen Sterblichen erlebt. Vielleicht auch noch in jenen Tagen, als wir noch keine Erwachten waren und als Kinder oder in jüngerem Alter mit dem Sturm vor unseren Hütten hungern und frieren mussten. Für mich ist dies noch nicht so lange her. Da uns als Werkrieger die Kälte nichts mehr ausmacht, haben wir vielleicht vergessen, wie kalt ein Winter sein kann. So tief ist er der Schnee, so gänzlich bedeckt er unseren Wald.“

Sanara, die dann doch aufmerksam zugehört hatte, stimmte zu: „Die Stämme der Menschen in den Dörfern nördlich unseres Reviers leiden unter der harten Witterung. Die Druiden und die Anführer hatten nicht damit gerechnet, dass es in diesem Monat so kalt werden würde, denn sie haben es in den Winden und an der Himmelsfarbe in den Wochen vor dem ersten Kälteeinbruch anders gelesen. Das Land ist erfasst von einem besonders gnadenlosen Weiß, wie vielleicht noch nie zuvor in diesem Teil der Welt.“

„Ein weiteres Vorzeichen für das nahe Ende der Dinge?“, fragte Warug.

„So wie eure Taten und ihr selbst?“, begann die Matrone zunächst schnippisch. „Der Tod des Wolfsgottes ist wohl der wichtigste Grund. Auch die Geister seines Reiches haben getrauert und wohl weint die Natur mit gefrorenen Tränen, denn seine Macht lag schützend über dem Wald der Welt, und ebenso über den freien Marken Dalrida und Kecht, dort wo unser verbündetes Volk der Kelltonen noch immer ungebrochen an ihn glauben. Jemand wird ihnen bald erzählen müssen, dass ihr Gott tot ist.“

Warugs Lippen wurden schmal. Er spürte einen stechenden Schmerz auf seinem Rücken.

„Wer wird entscheiden, wie für sie den Alten Glauben ohne Gorond weiter leben sollen?“, fragte Brander nach.

„Das Allthing entscheidet es“, sagte sie. „Für manche mag es nur eine unwesentliche religiöse Problematik am Rande sein und wahrlich Wichtigeres gilt es zu entscheiden, aber gerade in den okkupierten und freien Stammlanden nördlich des Klanreviers wurde der Wolfsgott sehr verehrt. Einige von ihnen haben sich auch freudvoll als Menschenopfer dargeboten, als es darum ging, seinen Geist und seinen Leib vor weiterem Verfall zu bewahren. Letztlich waren diese Opfer wohl umsonst.“

Sanara senkte den Kopf. Es tat ihr wahrlich leid, dass es soweit gekommen war. Warug erinnerte sich an die Schreie eines Menschenopfers, die aus der Höhle Goronds heraus ertönt waren, als die gläubigen Sterblichen zu seiner Fütterung hinein marschiert waren.

Zuerst hörte es Warug. Die Ohren eines Werwolfs vernahmen es schneller und lauter, demnach entging es Brander mit seinen verbesserten Sinnen ebenso wenig. Aufgeregte Stimmen von draußen. Schnelle Schritte im Schnee. Lautes Heulen. Etwas musste passiert sein und der Aufruhr auf der Hainstatt verhieß nichts Gutes.

Ein Blutfolger kam mit Kälte und Schneeflocken herein gestürmt, beinahe wäre er gestolpert und längs zu Boden gefallen. Eigentlich durfte der Halbwüchsige nicht so einfach und ohne Erlaubnis eine Behausung der Matronen betreten, aber offensichtlich ging es um etwas von äußerster Dringlichkeit. Zudem wirkte er so, als hätte ihn niemand geschickt, sondern in aller Aufregung verbreitete er eilig die Botschaft, die ihm zu Ohren gekommen war. Keuchend und mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die drei Erwachten, die ihre Köpfe zu ihm hin gewandt hatten.

„Krieg!“, schrie er gänzlich unvermittelt.

„Was?“, fragte Warug so streng wie überrascht.

Sanara sprang auf. Brander erhob sich mit Warug.

„Krieg!“, schrie der junge Mann erneut. „Die Skrael greifen an! Der Lange Wall wird attackiert. Es ist soweit! Der Feind marschiert gegen das östliche Königreich der Menschen!“

Dann stürmte er so plötzlich hinaus, wie er hinein gekommen war.

Das Thing der Werwölfe war mit aller größtmöglicher Eile einberufen worden. Keiner der verantwortlichen Führer von Klan und Zirkel hielten sich mit Ritualen oder Formalitäten länger auf, als es im Mindesten erforderlich war. Die Matronen entsandten ihre Botschaften durch das Geisterreich noch in derselben Stunde, da vom Angriff der Skrael berichtet worden war. Die besten Heuler wurden entsandt, auf dass sie mit eilender Pfote und lautem Ruf alle im Revier und an dessen Grenzen ehe baldigst informierten. So schnell ging alles vonstatten, sodass man schließlich nicht einmal darauf gewartet hatte, dass die Rudel aus der Ferne, wie aus dem Lande Korgard oder im tiefen Weltschatten, rechtzeitig eintreffen konnten.

Nach nicht einmal einer Stunde war die Wahl zum Magnor entschieden und mit dem klaren Licht des frühen Nachmittags war der erste Abschnitt der gemeinsamen Tagung bereits erledigt. Zu Ungereimtheiten kam es dabei nicht, aber auffällig blieb eine Minderheit, die zuerst den chancenlosen Kandidaten Swikull Grimmbringer aufstellen wollte und sich dann gänzlich ihrer Stimme enthielt. Wie von vielen erwartet und auch von der Mehrheit erhofft, wurde es Velric Sigthunson Eisheuler, der mit gebührendem Dank annahm und vom Hohesitz des Magnors herab die beste Rede seines Lebens hielt. Das Brüllen der Wölfe heulte mit seinen abschließenden Worten über den gesamten Hain hinweg und hallte weit hinein in die Tiefe des Forstes.

Dann wurde von einem Ausrufer und Botenläufer, der sich zuvor mit einer kleinen Delegation von Werraben im Norden des Waldes getroffen hatte, offiziell verkündet, dass die Schnabelbrut, angeführt von den Harpyiengötzen und im Bunde mit Schwarzen Drachen gegen das östliche Königreich Talarun gezogen war. Sein vorläufiger Kriegsbericht offenbarte alle soweit bekannten Details. Neben der geflügelten Garde und mutierten Abscheulichkeiten waren sogar Hexer in den Reihen des Heereswurms erblickt worden. Noch hatten sich nicht alle herbei marschierenden Kontingente und Kolonnen des Feindes zu einer massierten Streitmacht zusammengefunden. Noch hielt der Lange Wall, der dereinst in der Zeit der Letzten Allianz errichtet und durch Zauber verstärkt worden war, den ersten Attacken stand, aber es war lediglich eine Frage von Wochen oder wenigen Monaten, bis dieser brechen und die Schnabelbrut in einer so großen Zahl wie nie zuvor über das Königreich herfallen würde. Noch war die Moral der gepanzerten Ritter, der Militärsoldaten und der Söldner hoch, denn auch das Banner der Kirche wehte mit ihnen und die entsandten Kontingente von Kampfpriestern spien ihre weißen Zauber auf den Feind. Trotz mehrerer offizieller Bittgesuche wurden aber keinerlei Hilfstruppen vom westlichen Königreich Avandor entsandt, wie es angesichts dieser schrecklichen Bedrohung zu erwarten gewesen wäre. Bald schon würde die Belagerung mit voller Heeresstärke an ganz gezielt gewählten Stellen des Langen Walls beginnen und die gesamte, berstende Wucht der Lakaien des Untergangs würde dann gegen die wichtigste Abwehrlinie der Königreiche der nördlichen Welt prallen. Wenigstens die Schwarzen Drachen wurden vorerst noch zurückgehalten und die mächtigen Harpyiengötzen beobachteten das Geschehen bisher bloß aus weiter Ferne.

Für das Wilde Heer und seine Götter war gänzlich klar: wenn erst die Reiche der Menschen fielen, so zog der Sturm schnell weiter gegen die Reviere aller Klans. Am Rande des Waldes der Keiler, dessen Ausläufer im Osten bis an die Suwanische Steppe heranreichten, und im letzten verbliebenen Stammesgebiet der Inu Suwasi gab es bereits erste Geplänkel mit kleineren Verbänden der Schnabelbrut, die natürlich allesamt gänzlich vernichtet worden waren, aber deren bloßes Auftreten deutete auf eine gesteigerte Dreistigkeit des Feindes hin. Gegen Korgard zogen noch keine Truppen der Skrael, denn dies würde für sie eine weitere Front bedeuten und vorerst strategisch keinen Sinn ergeben. Der Große Vater Bär brüllte laut und befahl seinen Werkriegern bereits Attacken im Hinterland um wenigstens die Versorgungslinien zu unterbinden und vorerst zurück bleibende Reserveeinheiten zu schwächen. Klan Rabe sorgte vom Gebirge des Ehernen Rückens hinauf eilend für Unterstützung aus der Luft. Die mehr als eigensinnigen Werflederbiester machten zwar von ihren Höhlen im Nordosten aus bereits Jagd auf die Brut, doch ohne jegliche Absprache mit ihren Bruderklans. Noch zeigte sich aber natürlich kein Soldat und kein Gott des Wilden Heeres offen vor den Augen der Menschen, denn nach wie vor galt des Gebot des Verhüllens und dies hieß auch vorerst, dass es keinen Großangriff auf die Legionen der Skrael geben würde.

Als ein einzelner Werwolf unvermittelt alle Brüder dazu aufrief vereinigt und mit eiliger Klaue gegen die Schnabelbrut zu ziehen, bekam er sofort die Antwort durch einen wilden Chor. Das Heulen über den Hain hinweg hätte nicht lauter sein können und übetraf noch den Jubel nach der ersten Rede Sigthunsons. Tatsächlich fiel dabei ein guter Teil der Schneedecke, die auf dem Tempel lag, krachend und knarzend herunter. Manche hielten dies für ein gutes Omen, andere lachten einfach darüber.

Zu jener Stunde des Things schien die lähmende Melancholie, die nach Wut und Trauer so lange vorgeherrscht hatte, zum ersten Mal fast gänzlich verschwunden. Die Kriegslust war groß und sollte sich noch steigern. Dafür waren sie geboren worden und kein Klan hatte mehr Grund und Antrieb, sich in die erste Reihe zu werfen und im eigenen Blut freudvoll zu vergehen.

So schrien sie alle: „Für den Allvater! Für Gorond!“

Er mochte tot und vernichtet sein, aber durch ihn waren sie geboren worden und seit mehr als einem Zeitalter geleitet worden. Sein Blut floss in all ihren Adern. Seine Kinder waren sie für immer. Dies alles konnten sie niemals vergessen.

Warugs Tätowierung auf dem Rücken brannte einem Feuer gleich und floss mit Rot, als sie seinen Namen brüllten. Sein Mantel aber verbarg das Mahnen vor den anderen.

Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er inmitten einer so großen Schar der Seinen wandelte, doch überraschend selten zeigten seine Brüder auffällige Reaktionen. Von so manchen, die Warug teils von jener seltsamen Begegnung am Baum der Anklage wiedererkannte, erntete er tatsächlich anerkennendes Nicken oder respektvolle Worte, was ihm allerdings nur wenig behagte und andere argwöhnisch beobachteten. Die meisten ignorierten ihn aber ganz bewusst oder versuchten ihm weitestgehend aus dem Weg zu gehen. Andere spuckten ihm vor die Füße und knurrten seinen Namen wie einen Fluch. Einige wagten provozierende Gesten in Kriegsgestalt, aber eine körperliche Attacke gab es nie, denn noch immer galt das Gebot der Unberührbarkeit, und er hatte seine Wächter. Sanara und Brander verweilten demonstrativ an der Seite ihres Schutzbefohlenen.

Dass Warug kein abgefallener Bruder mehr sei, mit dem nach seiner Strafe am Baum der Anklage, nach Belieben und mit freiem Zorn verfahren werden konnte, hatte Gava Meduna höchstselbst noch einmal während des Things laut betont, aber mit keinem weiteren Wort wurde weiter auf ihn und seine Tat eingegangen. Nicht einmal der gerade eben ernannte Magnor verlor darüber ein Wort. Er hatte zwar in seiner Rede oft vom Tode Goronds gesprochen, aber dass er zum Dämon geworden war erwähnte er ganz bewusst nicht, denn manche hätten schlussfolgern können, dass der Makel der Verderbnis sich von Gott auf Klan übertragen könnte.

Stolz verkündete die Gava schließlich, dass schon sehr bald ein Allthing der Wilden Götter stattfinden werde. So großer Jubel brandete darüber auf, sodass manche fast überhörten, dass es Warug Gottschlächter dorthin zu eskortieren galt, damit er sein Urteil von den Großen Väter und Großen Müttern empfangen würde. Neun besonders ruhmreiche Rudel erhielten die besondere Ehre mit einer Delegation von Matronen dorthin zu pilgern. Dass bei der Ausrufung der Erkorenen wiederum ein lautes Heulen aufbrandete, war in der Tradition des Klans selbstverständlich. Die Zauberinnen klopften mit ihren Stäben laut auf den Boden, was auffälligerweise kaum von der Schneedecke gedämpft wurde. Als sie sich schließlich um Gava Meduna herum versammelten und vor ihr knieten, waren nun sie es, die lautes Wort erhoben.

Und so tönte es über den heiligen Hain hinweg: „Für die Allmutter! Für Arda!“

Der heilige Berg Cairn Urathan war seit jeher der Ort für ein Allthing der Wilden Götter. Der einzigartige Massiv lag weit im Süden und war ohne allzu langen Marsch relativ schnell erreichbar. Die Reise dorthin würde zunächst durch das Sphärenportal im Forst der Wölfe erfolgen, welches auch mit jenem im Revier der Wildschweine direkt verbunden war. Sodann würde Toruskorr die Kolonne von vereinigten Rudeln der Seinen und der Werkrieger ohne Gott gemeinsam mit den Matronen der jeweiligen Zirkel anführen. Unter seinem Geleit würden sie den heiligen Berg hinaufsteigen und zu jenen stoßen, die bereits warteten und wachten.

So war alles beschlossen und verkündet worden auf der Hainstatt der Werwölfe. Damit hatte diese so bedeutende Zusammenkunft ihr Ende gefunden und das weitere Schicksal von Klan Wolf war somit bestimmt worden. Doch sollte mit der sich herab senkenden Nacht weder die Stunde des befreiten Umtrunks mit Met erfolgen, noch das lange Feiern bis zum Rot des nächsten Morgens, sondern ein letztes, langes Gemahnen an den verlorenen Vater, Herrn und Gott.

Für Gorond wurde das längste Heulen angestimmt, welches jemals in der Geschichte über den Wald der Welt hinweg ertönt war und für immer in der Tiefe des Forstes selbst erinnert werden würde. So verwandelte sich zunächst ein ganzer Hain voll von Männern zu Wölfen, ehedem alle anwesenden Kinder ihres Gottes ihre Stimmen anhoben und sangen, sangen in Trauer und Schmerz, sangen in Wut und in Hoffnung, sangen für einen Sieg über alle Dunkelheit. Alle Tiere im gesamten Revier hörten es und hielten inne. Mehr und mehr Geister zeigten sich und verweilten starr. Selbst der Wind schwächte ab und vermochte keinen Baum mehr zu neigen. Der gesamte Zirkel der Matronen ging auf die Knie und senkte in stummer Andacht tief die Häupter. So erinnerten sie sich alle, so nahmen sie erneut und gemeinsam Abschied vom Großen Vater Wolf: Gorond, dem Wilden Gott der Wölfe, dem ewigen Jäger der Verderbten, dem Anführer des Heeres der Werwölfe, der nicht mehr war und nie wieder sein würde.

Warugs Tränen flossen wie das Blut auf seinem Rücken und rote Tropfen zeigten sich im Weiß. Sanara verweilte noch lange in ihrem stummen Gebet zum letzten Abschied. Brander heulte mit den Seinen, aber in ihm war nur noch Taubheit und Leere.

Während dieser so lauten Andacht, die einige fast in eine Form von Ekstase versetzte, bemerkte niemand die sich langsam davon schleichende Schar von Brüdern, die keinesfalls Trauer bekunden wollten, denn für sie hätte der zu schwach gewordene Gott schon viel eher sterben müssen und bald schon wollten sie dem Klan beweisen, was wahre Stärke verhieß.

Der Sturm der Krieger

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