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Kapitel 3: HEILUNG IN DUNKELHEIT
Оглавление„Es war nicht Gorond, der nach euch geschickt hat“, hörte Warug die Erzmatrone sagen. „Ich war es.“
Der Werwolf reagierte vorerst fast geschockt und ungläubig. Aber außer, dass er den Kopf in die Richtung ihrer Stimme drehen konnte und ihm ein kurzes Aufstöhnen entkam, vermochte er nicht viel mehr an Reaktion auf diese Offenbarung Gava Medunas.
Es war nun fast eine Woche her, dass der Gottschlächter vom Baum der Anklage herab genommen worden war um sodann in einen eigens vorbereiteten Raum unter dem Tempel von Sonne und Mond gebettet zu werden. Dämmriges Licht durch Geisterfeuer und vereinzelte Kerzen. Mit Kreide aufgemalte Runen und Symbole an allen Wänden, an der Decke und am Boden. Amulette in verschiedensten Formen und Größen hingen von oben herab. Manchmal stießen sie aneinander und die Kristalle ertönten kurz mit sanftem Klingen. Warug lag auf einem großen Bett inmitten, von dicken Fellen eingehüllt. Dies war die Kammer der Heilung, in der nur jene ruhten, die besonders schwere und extreme Verletzungen hatten und die viele Wochen oder gar Monate hier verharren mussten um so gut wie irgend möglich zu gesunden.
Tatsächlich heilte er gut. Und es gab sogar Hoffnung darauf, dass er vielleicht sogar wieder sprechen, in jedem Fall aber wieder mit beiden Augen sehen können würde. Täglich vollführten die Matronen mehrstündige Rituale, die jede noch so geringe, aber natürlich in erster Linie die besonders schweren Verletzungen genesen sollten. Bald würde er wieder über die volle Regenerationskraft und Stärke eines Werkriegers verfügen. Neben besonderen Zaubern und vielen aufgemalten Runen auf seiner Haut war es aber nicht zuletzt das wohl erlernte und gewissenhaft ausgeführte Handwerk der Heilkunst, welches mit Wasser und Feuer, sowie einer Vielzahl von Kräutern, Tränken, Verbänden und ebenso Nadel und Faden ihre Wirkung tat.
Die Erzmatrone war die Erste, die überhaupt länger mit ihm sprach. Allen Werwölfen oder gar irgendwelchen einfachen Sterblichen war der Zugang in diese Kammer ohnehin verboten worden. Lediglich die oberste Heilerin Adeina Melithandra hatte ihn nach Verletzungen gefragt und mit Worten überprüft, ob er überhaupt noch bei Verstand gewesen sei. Sein Geist hatte sehr viel durchlitten, aber kein Wahn hatte ihn befallen. Tatsächlich war er gerade jetzt bei klarstem Verstand. Warug sah sie aber nicht, da abgesehen vom Großteil seines Körpers auch die Augen verbunden waren.
„Ich weiß ihr versteht mich gut“, setzte Gava Meduna nach einer ganzen Weile fort. „Und ihr werdet als Stummer ein guter Zuhörer sein. Beste Dienste der Gesundung leisten meine Schwestern an euch. Wieder müsst ihr uns dankbar sein.“
Sie saß ihm nur halb zugewandt auf einem kleinen Schemel. Die Ermatrone trug ihr silbrig-weißes Haar offen und hatte sich in ein Wollkleid von grüner Farbe gehüllt. Ihren Stab oder sonstige Insignien von Macht brauchte sie gerade in dieser Kammer nicht. Sie fühlte sich wohl hier, zu Hause, hier im Tempel, von dem sie jeden Winkel kannte. Die alte Frau rieb ihre mit Runen verzierten Hände aneinander. Ihr war gerade doch ein wenig kalt, auch wenn die magische Wärme den Raum erfüllte. Mit einer einzigen Geste ließ sie ein kleines Geisterfeuer heller und stärker werden.
So sprach die Erzmatrone des Zirkels weiter: „Hört nun weiter alle Wahrheit, die euch zu dieser Stunde gebührt, Gottschlächter.“
Sie drehte kurz den Kopf zu ihm. Er schien zu nicken, was ihr als Reaktion genügte. Ihr entkam ein halb unterdrücktes Seufzen. Wie sehr sie sich doch schon um diesen da in verschiedenster Weise bemüht hatte, so dachte sie. Er muss es einfach wert sein, so hoffte sie.
„Der Große Vater Wolf war schon länger nicht mehr zu klaren Entscheidungen fähig gewesen. Und die Allmutter sprach nicht mehr zu ihm. Vielleicht hatte sie es noch getan, aber Gorond hatte sie vielleicht nicht mehr verstehen können oder gar mit früher Verderbnis nicht mehr verstehen wollen. So blieb allein noch ich, die ihr heiliges Gebot im Zirkel des Waldes der Welt und als höchste Matrone im Revier des Klans Wolf zu empfangen vermochte. Es war im Traum gewesen, natürlich. Und so rief ich dann im Namen Goronds nach euch aus, denn der Klan und der Zirkel sollten nicht wissen, dass er nicht mehr im Sinne der Allerhöchsten wirken konnte. Und so wusste auch niemand außer ich, dass ihr einer der Auserwählten sein werdet und der Pfad eures Schicksals noch vor diesem Winter in eurer Heimat beginnen musste.“
Wieder schwieg sie eine Weile. Sie wollte ihm Zeit geben zu begreifen und zu verinnerlichen. Zugleich fühlte sie eine gewisse Reue, denn im Grunde hatte sie für eine ganze Zeit Brüder und Schwester belogen, bloß damit keiner am göttlichen Willen des Großen Vaters Wolf zweifeln würde. Manche hatten es aber dennoch getan und die größten Frevler wollten ihn gar viel eher aufgrund seiner Schwäche vernichtet sehen. Der Gebettete zitterte ein wenig, dann nickte er knapp.
Gava Meduna wollte gerade ihre Rede fortsetzen, doch eine kleine Erscheinung ließ sie kurz inne halten. Hinter einem Podest kroch eine weiße Schlange hervor. Ein Natterngeist. Die Schuppen glänzten in Reinheit und Wärme. Gelegentlich tanzten andersfarbige Reflektionen über sie hinweg. Manchmal, wenn viele Zauber der Heilung hier unter dem Tempel gewirkt worden waren, erschienen jene guten Wesenheiten zufällig in der Dieswelt, denn dünner war hier der Schleier zum Geisterreich des Weltschattens. Sie verschwand schließlich hinter dem Bett, worauf ganz leise noch kurz ein glasklares Klirren zu hören war.
Ohne die Erscheinung zu erwähnen setzte Gava Meduna mit etwas leiserer Stimme fort: „Meine beste Schwester, Sanara, habe ich nach euch entsandt, denn nur jene, so ließ es mich die Allmutter vernehmen, die mir als die Würdigste für eine solche Aufgabe erschien, durfte die Begleiterin für eure Rückkehr sein. Doch selbst als ich von der von euch so geliebten Frau hörte, was euch alles widerfahren war und was ihr alles auf eurer Reise gesehen habt, wollte ich es noch nicht ganz wahr haben. Die Offenbarung eines Allsagenden Haupts der Katzen kann nur einem Auserwählten passieren. Nur ein Schwarzer Drache, der gerade aus einem Berg erwacht ist, kann sofort einen Auserwählten erspähen um sogleich alles daran zu setzen, dass dieser durch sein teuflisches Feuer vernichtet werde. Und nur ein Auserwählter vermag in ein Reich von Morgen nach dem Untergang einzukehren und von dort lebendig wieder zurückzukommen. Oh, aber ich wollte es nicht glauben, Gottschlächter, ich wollte nicht glauben, dass es ein Geächteter sein soll, einer wie ihr, der solch große Sünde begangen hatte, schwach und dumm gehandelt hatte. Ich wollte es nicht einmal glauben, als die Wahl der Neun geschah und die Knochen euch als Auserwählten nannten. Ich glaubte es erst, als ihr euren Gottvater enthauptet hattet, da glaubte ich es endlich.“
Warug keuchte kurz auf. Dies war tatsächlich gerade etwas zu viel für ihn. Er glaubte es ja selber nicht, noch immer nicht, wie konnte er auch? Sie sprach nur die Wahrheit, aber was sollte gerade ihn dazu befähigen oder dazu berufen, die Letzte Schlacht gegen den Einen Feind zu entscheiden um die Menschheit und die Welt zu erretten? Er war nur ein Werkrieger unter so vielen, er war ganz gewiss keiner der Besten unter den Seinen und all sein Handeln hatte doch bisher nur Übel und Untergang über seinen Klan gebracht. Selbst wenn er seinen zum Dämon gewordenen Vater unbedingt töten hatte müssen, so war sein Verfall ja nur deshalb soweit fortgeschritten gewesen, weil Warug so viele Jahre zuvor darin versagt hatte, den ersten Erwählten Empfänger lebendig in das Revier der Wölfe zu bringen. Und jetzt doch er? Der Gottschlächter als einer der Auserwählten?
Einen Nachsatz musste sie noch beinahe murmelnd anführen: „Und die letzte Gewissheit hat mir und damit auch euch Toruskorr gegeben, mit seinem Wort unter dem Baum der Anklage.“
Gava Meduna konnte Warugs gehetzte Gedankengänge und seinen bebenden Unglauben an jeder seiner Zuckungen und an seinem Antlitz ohne Blick leicht, nur allzu leicht ablesen. Sie brauchte nicht einmal mit ihrer Macht in seinen Geist hinein zu reichen, um zu sehen und zu verstehen. Er würde dies noch länger mit sich tragen, diesen Widerstand gegen sein Schicksal.
So sprach sie dann im lauten Tonfall: „Selbst wenn ihr in der Letzten Schlacht im größten Unglauben fallen werdet, so wird sich euer Schicksal erfüllt haben. Ihr müsst nichts begreifen, ihr müsst nur handeln und dies werdet ihr, so ihr denn bis zuletzt der Verderbnis durch den Einen Feind entsagen könnt. Zu oft habt auch ihr selbst erlebt, wie groß die Macht aus dem Abgrund bereits geworden ist und das der Schatten selbst an den heiligsten Orten erscheinen kann. Sogar die Kinder der Wilden Götter können nun also zu Verrätern werden, zu Gefallenen. Wappnet euch, denn zu viel hängt nun allein von euch ab.“
Er zitterte wieder. Sie seufzte und erhob sich. Sie ging einige Schritte durch den Raum, streifte mit den Fingern über die von Runen verzierte Felswand. Genau spürte sie die Korrektheit der Linien, sah mit prüfenden Blick, auf dass ja kein Kreidestrich zu sehr verblasst sei oder eine Matrone beim Zeichnen auch nur den kleinsten Fehler gemacht hätte. Zufrieden bemerkte sie, dass ihre Schwestern hier gänzlich sorgsam und gewissenhaft am Werk gewesen waren.
Es galt noch ein paar Dinge zu sagen, also setzte sie fort: „Was ich nicht weiß, ist, wie es euch weiter ergehen wird. Was ich nicht weiß, ist, in welcher Weise genau ihr als Auserwählter agieren sollt. Vielleicht sollt ihr gar lange vor der Letzten Schlacht sterben, vielleicht werdet ihr auch der Allerletzte auf blutigen Bergen sein. Vielleicht stürzt ihr euch in den ewigen Schlund des Weltendrachens und erlischt für immer oder vielleicht habt ihr noch weitere Wilde Götter zu vernichten. Vielleicht ist die Zukunft in Asche, die ihr gesehen habt, die einzig wahre. Vielleicht kommt es so oder doch ganz anders, aber eines ist gewiss: weitere Auserwählte werden noch in Erscheinung treten. Alles wird sich zeigen, alles wird offenbart werden, noch vor der letzten Stunde für diese Welt, die dann zugleich die erste Stunde für eine neue Welt sein mag.“
Die Erzmatrone schritt direkt auf ihn zu und beugte sich über den Gebetteten. Sie horchte mit geneigtem Kopf. Regelmäßiges Atmen aus gesunden Lungen. Durch den halb geöffneten Mund erkannte sie, dass die Zunge tatsächlich weiter nachgewachsen war. Sehr bald würde er wieder sprechen können. Er war jetzt ganz ruhig, so fiel ihr auf. Er nahm alles wieder mit Fassung an. Würde er etwa eher begreifen?
Sie konnte nicht anders, als auch hier genauer zu prüfen, ob die Verbände richtig gewickelt waren, ob die Kräuterpasten noch frisch genug rochen und ob die Wundheilung ausreichend weit voran geschritten war. Alles war erneut zu ihrer vollen Zufriedenheit. Gava Meduna nahm sich vor, Aedeina Melithandra später ausdrücklich zu loben.
Die Rune mit Bluterde, die Sanara auf seine Stirn gemalt hatte, nachdem er vom Baum der Anklage genommen worden war, glänzte aufgefrischt. Gava Meduna erkannte an der feinen Linienführung sofort, dass die neu erkorene Deva dies getan hatte. Sie war also wieder hier gewesen, ihre einstmals beste Schülerin, die ihrer Überzeugung nach für noch Höheres berufen war. Die Erzmatrone beschloss, das Schweigegelübde ihrer jungen Schwester aufzulösen. Sie hatte mit dem Werwolf zu reden. Er sehnte sich gewiss schon länger danach, aber auch Sanaras Wahrheiten würden für ihn nicht einfach anzunehmen sein. Die Gava spürte bezogen darauf praktisch kein Mitempfinden, denn dieses prolongierte Naheverhältnis hatte sie eigentlich von Anfang an gestört.
Das von Tätowierungen verzierte Gesicht Medunas verfinsterte sich etwas.
„Eine weitere und die für heute letzte Wahrheit, die die Konsequenzen eures Handelns verdeutlicht, soll euch nicht erspart bleiben: der Erwählte Empfänger, der für die Wiedergeburt Goronds gefunden und in den Hort des Klans gebracht worden war, starb einen mehr als grässlichen Tod. Als euer Vater zum Dämon wurde, formte und entstellte sich sein Fleisch bereits. Etwas wollte durch seinen Körper über die Schwelle treten, eine Abscheulichkeit aus dem Abgrund. Die Matronen, die im Kreis um ihn herum saßen, konnten es für eine ganze Weile noch aufhalten. Zu spät sah ich die Schlacht am Weltenbaum, zu spät sah ich euch im Duell mit Goronds Dämon. Eines aber muss zu jener Stunde tatsächlich mit göttlicher Lenkung geschehen sein: das Wunder der silbernen Klinge, der Waffe Graufeuer, die euch geschickt wurde, müssen Allmutter oder Allvater erwirkt haben. Nur mit ihr hattet ihr eine Chance. Im Augenwinkel sah ich noch, wie sie aus dem Tempel wie von selbst verschwand. Und als ihr schließlich mit entflammter Klaue zum Gottschlächter wurdet und ihm dem Kopf abschlugt, drängte die Abscheulichkeit sich noch einmal mit aller Gewalt in diese Welt. Zwei der Schwestern tötete es, ehe wir es vernichten konnten. Vom Erwählten Empfänger, von diesem kleinen Jungen von dreizehn Jahren, blieb nur noch verformtes und schwarzes Fleisch inmitten des von Blut besudelten Runenzirkels. Oh grausam sind die dunklen Mächte. Oh schrecklich die bösen Geister.“
Er reagierte nicht darauf, aber sie spürte die Trauer in ihm. Erneut hatte sie ihn nach den vielen Worten an seine Tat erinnert. Es ließ sie jedoch hoffen, dass er eine Empathie für die Sterblichen, vor allem für deren Kinder von Unschuld, noch nicht verloren hatte. Sooft hatte er bereits getötet und so verhasst waren ihm die Menschen in vielen Dingen, aber dies ließ ihn nicht kalt, dies erweckte noch das rechte Gefühl in ihm.
Leiser als beabsichtigt sagte sie: „Verratet niemandem, was ich euch gerade offenbart habe, Warug Gottschlächter, denn all dies war allein für euch bestimmt. Vieles wissen nur die Matronen und ihr, vieles wissen jetzt nur ihr und ich. Alles jedoch, wissen die Götter.“
Gava Meduna wurde im nächsten Augenblick sehr melancholisch. Ein wenig froh war sie, dass der Werwolf, der da ohne Sehvermögen lag, ihr Antlitz gerade in jenem Moment nicht erblicken konnte, denn darin war nicht mehr jene Stärke und jener Stolz, den sie sonst für jeden anderen und an jedem Tag zu zeigen hatte.
Letztlich war sie doch einsam, in ihrer Funktion an der Spitze. Seit ihre innigst vertraute Freundin bereits vor längerer Zeit gestorben war, hatte sie niemanden mehr, gegenüber dem sie alle Verletzlichkeit zeigen konnte oder wollte. Sie kam gut zurecht, mit dem Alleinsein und es geschah soviel, sie hatte soviel an Verantwortungen und Notwendigkeiten, mit denen sie beschäftigt war, die sie alle ablenkten, aber auch wenn sie natürlich für Götter, Schwesternschaft und Klan alles mit Freude aufopferte, so war sie nicht nur eine Erwachte mit außerordentlicher Macht, sondern ebenso ein Mensch mit einfachen Wünschen und Sehnsüchten. Manchmal vergaß sie dies tatsächlich. Das Alter mochte auch das seine beitragen. Wie viele Jahre blieben ihr wohl noch, so fragte sie sich? Würde sie an der Letzten Schlacht überhaupt noch teilnehmen? Würde sie das Ende von diesem da, dem Auserwählten, der eigentlich nur lebte, weil sie gehorcht hatte, noch sehen?
„Unglücklich das Zeitalter, das Helden nötig hat.“, entfuhr es ihr fast ungewollt.
Er hörte sie wohl. Sie begriff gerade, dass sie sich in diesem Moment zumindest ein gewisses Maß an Schwäche und Verletzlichkeit ausgerechnet gegenüber ihm zu erlauben schien.
Mit festerer Stimme frage sie noch: „Wird es je ein Zeitalter geben, das keine Helden nötig hat?“
Ein letztes Mal blickte Gava Meduna noch so fragend wie zweifelnd in Warugs verbundenes Antlitz. Er konnte natürlich keine Antwort geben, aber vielleicht war gerade er die Antwort? Vielleicht war er einer der letzten Auserwählten, die die Welt der Allmutter jemals nötig hatte. Vielleicht würde mit seinem Ende alles wieder von vorne beginnen, im ewigen Zyklus, so wie es für alles andere galt. Vielleicht würde aber am Ende tatsächlich alles enden. Freilich wollte und konnte sie dies nicht glauben, aber sie musste es fürchten.
Dann verließ sie den Raum. Sie war sehr müde geworden, die alte Frau. Etwas Schlaf würde ihr bestimmt gut tun. Nur wenige Stunden blieben ihr für einen erholenden Schlummer, denn die nächste Versammlung musste wieder vorbereitet werden. Und noch so vieles andere gab es zu tun, so vieles andere. Zuerst seufzte sie, aber dann begann sie spontan zu lächeln.
„Ein großes Wunder wird geschehen, sehr bald schon“, so flüsterte sie in sich hinein.
„Hörst du mich, Wolf?“, fragte Sanara.
Warug nickte und atmete tief ein. Seine verbundene Hand, die gerade noch auf seiner Brust geruht hatte, suchte etwas zittrig die ihre. Sie umfasste sie ohne Zögern. So saß sie für eine Weile neben ihm, ruhig und abwartend. Der Werwolf war sehr froh, sie zu riechen, sie atmen zu hören, sie wieder an seiner Seite zu wissen.
Die junge Matrone Sanara saß auf dem selben Schemel wir ihre Herrin zuvor. Sie trug ihr mehr als schulterlanges rotes Haar gänzlich offen und nicht wie zumeist üblich zu einem ausladenden Zopf zusammengebunden. Ihren Umhang hatte sie auf einem Schrank abgelegt. Ihr blaugrauer Stab lehnte am Holzrahmen der Eingangstür. Über ihre Lederkluft trug sie einen winterfesten Überrock aus Wolle, Kaninchenfellen und ausgeklopfter Rinde. Der Tag war lang gewesen, aber nun hatte sie sich nach ihren Pflichten hier eingefunden.
„Ich weiß nicht wie ich es dir sagen soll, wo ich beginnen soll“, sprach sie zögerlich und mit leisem Ton. „Ich... Einmal war ich bei dir, am Baum der Anklage und ich habe dir damals schon so viel gesagt, auch wenn du bestimmt nicht mehr alles davon weißt.“
Er nickte und ein leichtes Zittern durchfuhr ihn.
„Ich war aber nicht dabei, als sie dich zuvor am Baum kreuzigten. Ich konnte es nicht. Ich hätte es nicht ertragen, dich so zu sehen und ich wollte bloß allein sein mit meinem Schmerz. Er war ja auch mein Gottvater. Als Rabe flog ich so weit mich die Winde trugen, aber selbst dort oben fand ich keinen Frieden, denn sogar zwischen den Wolken hörte ich das Klagen der Wölfe. Nach meiner Rückkehr verbot mir Gava Meduna zu dir zu gehen und noch dazu legte sie mir das Schweigegelübde auf. Es war falsch gewesen und ich habe zu viel gesagt, so wurde es mir sofort danach klar. Ich bereue es, so wie ich anderes bereue.“
Warug wollte schon ablassen von ihren Händen, aber sie hielt ihn fester.
„Du sollst wissen, dass manche Konsequenzen deiner Tat ein blutiges Ende fanden und ich daran beteiligt war. Ich habe mit den Rudeln auf Anordnung meiner Herrin jene gejagt, die nach dem Tod unseres Gottes dem Wahn verfallen waren. Zu viele mussten getötet werden, auch wenn es immer die Klaue der Brüder war und nicht ein einziges Mal meine Hand, aber ich habe mit meiner Macht dabei geholfen. Es hat weh getan, sie leiden und dann sterben zu sehen. Ja, Wolf, es hat sehr weh getan. Alles hier tut sehr weh seit einiger Zeit.“
Sie schluchzte kurz. Sein Stöhnen bedeutete, dass es ihm zutiefst leid tat, alles. Und er fühlte zutiefst den Schmerz, den sie mit sich trug. So gern hätte er sie davon befreit, aber es war ihm, gerade ihm, natürlich gänzlich unmöglich. Er drehte den Kopf zur Seite.
Sie rückte mit dem Schemel etwas näher an ihn heran. Dann ließ sie mit einer Hand ab, berührte mit dieser seine rechte Wange und drehte sein Haupt wieder zu sich. Sie glaubte seinen Blick zu spüren, durch die Leinen des Augenverbands hindurch.
„Ich muss dir sagen, Wolf“, so setzte sie fort. „Dass ich beinahe begonnen hatte, dich zu lieben. Lange waren es nur deine Gefühle gewesen, die nach mehr drängten, aber als wir uns vor deiner Reise zum Weltenbaum in jener Nacht vereinigten, da wurde mir klar, dass es auch mir nach mehr verlangte. Ich ließ es zu, in mir, und so hatte ich noch größere Angst um dich. Ich wollte wahrhaftig, dass du lebst, dass du wieder in meine Arme zurückkehrst und ich dich wieder fest und innig an mich zu drücken vermag. Gebetet habe ich... oh, wie sehr habe ich gebetet. Vielleicht sogar mehr um dich, als um deinen Vater.“
Sanara seufzte, schüttelte den Kopf. Sie musste es ihm sagen und er musste es hören.
„Aber in dem Moment, da dein Vater fiel, fühlte ich in dieser Welt nicht nur sein Ende, sondern auch das Ende aller Zuneigung für dich. Ich verstand erst viel später, warum. Zunächst verstand ich nämlich nichts, gar nichts. Ganz ungläubig war ich und verwirrt. Irgendwie kann ich mich an manche Stunden danach gar nicht mehr erinnern. Und dann floh ich ohnehin als Vogel. Erst lange nach deiner Kreuzigung begriff ich alles und erst nachdem ich dich am Baum der Anklage sah, erst dann begriff ich wirklich, dass du es gewesen warst, allein du. Wie könnte ich einen Mann jemals lieben, der seinen und meinen Gott getötet hat?“
Ein eisiges Schweigen erfüllte nun gänzlich die Kammer der Heilung. Sein Griff der Hand war nun ganz schwach geworden. Nur kurz jedoch bebten seine Lippen, dann presste er sie hart aneinander. Er schluckte mit schmerzendem Kloß im Hals. Dann atmete er aus und neigte wieder den Kopf zur Seite, dieses Mal aber nicht in Scham. Fast greifbar entfaltete sich eine emotionale Kälte zwischen ihnen beiden.
Sie ließ seine Hand los und rieb sich die Stirn. Sanara dachte nach, wie sie und ob sie die Unterredung fortsetzen sollte.
„Weißt du,“ begann sie dann etwas zögerlich. „Ich bin mir nicht sicher... Verdammt, es fällt mir schwer so zu reden. Jedenfalls aber hasse ich dich nicht mehr. Gelitten hast du, ich weiß nicht, ob genug, aber gelitten hast du. Zumindest ein Teil deiner Schuld ist getilgt und vielleicht konnte es nur so kommen und dein Handeln war nur so möglich, nur so richtig. Und jetzt... Lange war ich wohl jemand, auf den du gehofft hast, aber das kann ich jetzt auch nicht mehr sein. Vielleicht habe ich dir mehr gegeben, als ich dir hätte geben sollen, aber das bedeutet jetzt ohnehin nichts mehr. Wir waren aneinander gebunden und ich fürchte, das Schicksal wird uns gemeinsam noch einiges abfordern.“
Die Deva sagte dann eine Weile lang nichts mehr und es gab eigentlich auch nichts mehr zu sagen, so befand sie. Bloß eines war da noch, dass sie nach all den Ereignissen überhaupt keinen Sinn für sie ergab und auch wenn sie natürlich keine Antwort von ihm bekommen konnte, selbst wenn er denn des Sprechens mächtig wäre, so brach es gerade jetzt aus ihr hervor und richtet sich allein an ihn.
„Ein Auserwählter sollst du sein, aber ist es auch wirklich wahr? Was heißt das für mich, für unsere Gemeinschaft hier, für die Welt? Soviel ist durch dich verloren und doch... Vielleicht ist dies der Preis, den wir alle zahlen müssen, damit am Ende das Licht Ardas triumphieren wird?“
Er reagierte mit keiner Bewegung keinem Laut darauf.
Sanara fühlte sich gerade sehr unwohl und doch irgendwie leer zugleich. Es war einfach zu viel passiert in den letzten Wochen. Alles hatte begonnen mit ihrer gemeinsamen Reise zurück in den Wald der Welt. In jener Zeit war eigentlich auch schon zu viel passiert. Bis auf das Fest zu Nos Saman und vielleicht die letzten paar Tage war alles von einer steten Unruhe, von einer steten Eile, einer steten Dramatik, einem steten Kämpfen geprägt gewesen. Nun schien nur noch quälende Trauer zu bleiben. Wenigsten hatte der Eine Feind keine weiteren Angriffe vollführt und die Harpyiengötzen hatten mit ihrer Schnabelbrut den Krieg noch nicht begonnen, so sinnierte Sanara für eine Weile über alles nach.
„Wirst du uns, wirst du mich retten, Wolf?“, fragte sie plötzlich.
Zuerst wollte er schreien als Antwort auf diese Frage. Der Ton in ihrer Stimme, die Art wie sie die Frage gestellt, was die Frage überhaupt bedeutete, war nicht einfach zu ertragen. Sie hatte es wieder getan, ihn überrascht und überfordert zugleich, mit nur einem Satz. So kannte er sie, seit ihrer ersten Begegnung.
Was er dann tat, musste er einfach tun. Unter Stöhnen richtete er sich im Bett auf. Nach hinten stützte er sich mit der rechten Hand ab, während die andere zittrig den Augenverband zu ergreifen versuchte. Mit einer einzigen, schnellen Bewegung riss er ihn herunter. Zunächst war alles gänzlich verschwommen, aber erstaunlich schnell erlangte er wieder die volle Sehschärfe. Ihre roten Haare. Ihre grünen Augen. Ihr Gesicht von blasser Haut. Mit zunächst zusammengekniffenen, dann weit aufgerissenem Blick sah er sie an, sah er sie endlich wieder an. Sie wirkte fast völlig geschockt.
„Ich...“, begann er mit halber Zunge und angestrengter Stimme für die Antwort zu stammeln. „Ich... wei... weiß... es... nicht, Sanara!“
Ihre bebender Hand bedeckte sie ihren offenen Mund. Sie war überrascht von seiner plötzlichen Geste, seiner Antwort, mit der sie nicht gerechnet hatte. Und da war noch etwas anderes, in seinem Gesicht, das sich verändert hatte.
„Dein Auge, Wolf“, begann sie irgendwann. „Dein gelbes Auge... Die Farbe ist anders... Es ist ganz rot geworden.“
Mit ansetzender Geste fuhr er sich ins Gesicht, fast so, als wolle er es allein durch Tasten überprüfen, ob es denn stimmte.
Dann stand sie auf, neigte sich nach vorne und umarmte ihn heftig. Sie verstand nicht ganz, warum sie ihm gerade jetzt wieder diese Zuneigung gönnte. Er stöhnte, weil es weh tat, weil er sie spürte. Doch zunächst konnte er ihre innige Nähe nicht erwidern.
Stammelnd begann sie: „Es... Es tut mir leid... Wolf, ich... ich glaube daran. Ich glaube wirklich daran, dass es, dass alles irgendwann gut sein wird, wahrhaftig gut. Das Ende kann kein Schreckliches sein. Niemals. Und wenn alles dunkel ist, dann ist es nicht das Ende.“
Sie ließ kurz ab von ihm, dann umfasste sie mit beiden Händen seinen Kopf und sah ihm tief in die wässrig glänzenden Augen. Er konnte sich nicht abwenden, selbst als ein erster Impuls es wollte.
Ihre Daumen strichen über seine Schläfen, als sie dann sagte: „Bitte, wenn du auch sonst nichts glaubst, dann glaube wenigstens an meine Worte.“
Warug erinnerte sich. Genau dies hatte sie zu ihm gesprochen, ehe er zur Dämmerwanderung und damit zum letzten Marsch mit seinem Gott und Vater aufgebrochen war.
„A... Dan... Danke“, waren das Einzige, was er mit wegbrechender Stimme hervorbrachte.
Erst jetzt umarmte er sie. Fester noch drückte er sie an sich. Er wusste ganz genau, dass er sie so bald nicht mehr in seinen Armen haben würde, wenn denn jemals wieder.
So erfüllte sich in jenem Moment ihr beider Wunsch von einst.