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Kapitel 2: AM BAUM DER ANKLAGE

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Es war Nacht und eigentlich hätte es mit dem verschneiten Himmel dunkler sein müssen, aber allein die Schatten waren schwarz, alles andere zeigte sich mit der Klarheit von tiefem Blau. Es war recht still, denn der Chor in Trauer war vor einer Weile verstummt und nur vereinzelt ertönte die Klage eines Wolfs.

Die Luft klirrte mit Kälte. Der Wind begann aufzubrausen und trug ein lautes Stampfen im Schnee herbei. Ein brummendes Atmen von einem gewaltigen Tier, ein Grunzen von einem großen Rüssel. In der Richtung, in der sich das uralte Wesen bewegte, neigten sich fast unmerklich die Bäume zur Seite, an dünneren Stellen schmolz es und der Boden wurde frei. Wild und Kleintiere wurden wach, zeigten sich aufgeregt, selbst Vögel stimmten wie zum plötzlichen Morgen zum Gesang an. Kleine, blasse Baumgeister, die entfernt an menschliche Föten erinnerten, erschienen, erwarteten in den Kronen und am Boden die Ankunft eines Gottes. Schneeflocken fielen etwas langsamer herab, bremsten weiter im Fall zum Boden hin, bis sie beinahe starr verweilten um erst dann ins Weiß einzugehen. Tatsächlich wurde es sogar noch heller auf der Lichtung vor den Bäumen der Anklage.

Warug hob unter Stöhnen den Kopf. Er spürte eine Woge der Macht, die ein wenig seinen Schmerz linderte, seine geistige Taubheit und sogar seine Trauer etwas vertrieb. Für einen Augenblick konnte er klarer denn je sehen: ein Keiler von enormer Größe kam aus dem Wald heraus. Er hatte ihn bereits früher schon gesehen, den Wilden Gott Toruskorr, den donnernden Herrn des Ostens. Hörner krönten sein Haupt. Hauer im Maul, Hufe an stämmigen Läufen. Mit Muskeln berstend war sein massiver Leib. Grau und Weiß das kurze Fell. Dunkel glänzend der Kamm besonders langer Borsten entlang von Haupt und Rücken. Die Augen glühten kurz mit Rot auf. Worin sich sonst alle Ruhe, alle Macht der Welt zeigte, war es für einen Moment allein ein tiefer Zorn, der nur Warug gelten konnte. Der halbtote Werwolf wollte mit irgendeiner Geste dem Gott vor ihm Respekt erweisen, aber er konnte bloß röchelnd seinen Kopf anheben, ehe dieser wieder unter gänzlicher Aufgabe des Fleisches zur Brust sank.

Erde und Wald zitterten, als der Große Vater Keiler schließlich vor dem mit Blut verkrusteten Baum der Anklage stehen blieb, seinen Schädel hob und roch, roch am angenagelten Frevler vor ihm, roch in dessen Seele. Gefrorener Atem wie Dampfstrahlen aus seinem Maul, aus den Nüstern. Bald schon ließ er ab, dann grunzte er erneut, aber nicht im Zorn, sondern in beinahe resignierender Erkenntnis.

Nun trat Gava Meduna hinter dem Wilden Gott hervor. Sie schien die einzige Begleiterin. In einen dichten Fellmantel mit Kapuze war sie gehüllt, ihren gewundenen Stab hatte sie natürlich bei sich. Ihr Blick auf den Gottschlächter war sehr streng und ermattet zugleich. Die langen Nächte von Zusammenkünften, Beratungen und auch der Trauer zehrten bereits an ihrer Substanz.

Toruskorr schien länger im inneren Geist verweilend. Für eine Zeit war auf der Lichtung nur sein lautes Atmen und der Wind zu hören. Der Große Vater Keiler dachte nach, vielleicht rief er auch hinaus, hinaus in die höheren Sphären mit seiner göttlichen, stummen Stimme, so vermutete Gava Meduna. Er sollte eine Antwort bekommen, die allein ihm gebührte und die allein er ertragen konnte.

Er erhob erneut sein heiliges Haupt, grunzte und sprach sodann mit endlos tiefem, dröhnenden Ton.

„Er soll leben. So ist entschieden.“

Zuerst glaubte Warug ihn nicht zu verstehen, aber dann erfasste er die volle Bedeutung der göttlichen Worte. Es sollte also wieder nicht der Tod, sondern das Leben sein. Er würde also nicht am Baum der Anklage sein Ende finden.

Die Erzmatrone wagte nach gebührender Andacht eine Nachfrage: „Oh Großer Vater Toruskorr, ich akzeptiere euer heiliges Gebot. Doch wie genau soll weiter mit ihm verfahren werden?“

Langsam neigte der Wilde Gott den Schädel zur Seite. Sein Blick traf den ihren. Soviel Ehrfurcht er auch immer gebieten mochte, einen gewissen sanften Respekt hatte er stets für die Schwesternschaft übrig, vor allem für eine solch verdienstvolle Matrone, wie es Meduna schon immer gewesen war.

„Zunächst soll er noch leiden.“ Mit nur angedeuteten Bewegungen von Maul und Mund ertönte das Wort aus der Tiefe seiner Kehle. „Lasst ihn hängen, lasst ihn bluten, bis zum Abend des Zwölften. Bettet ihn zur Heilung. In alter Sprache die Wunde des Vaters auf seinen Rücken, auf dass er immer seinen Namen spüre, bis zu seinem Ende. Dann seht zu, dass er wieder stehen kann und dass ihn niemand bis dorthin tragen muss, wo ihn alle sehen werden. Er soll sein Urteil aufrecht erhören. Tut wie euch geheißen, höchste Matrone der Allmutter.“

Die Angesprochene nickte, fragte noch weiter: „Oh Großer Vater Torruskorr, ihr habt doch gewiss seine Seele erkannt? Sehr ihr Verderbnis, die mir verborgen ist oder seht ihr es, was prophezeit wurde? Ist er ein Auserwählter?“

Der grauweiße Keiler, der die Erzmatrone bei weitem überragte und direkt ins Gesicht des hoch hängenden Werwolfs blicken konnte, grunzte in seltsamer Tonlage. Es klang beinahe wie ein Seufzen.

Erst nach einer Weile gab er zur Antwort: „Der Eine Feind windet sich nicht in ihm, dies seid gewiss. Und er hat bereits eine Prophezeiung erfüllt. Er ist es.“

Der große Wildschweinschädel nickte. Die Matrone neigte tief ihr Haupt und blickte sodann auf den Gekreuzigten.

Toruskorr wandte sich Warug zu und dröhnte: „Doch welcher dieser da es zur Dämmerung der Letzten Schlacht sein wird, sollt ihr jetzt noch nicht wissen. Verkündet es noch nicht, denn dies soll später geschehen. Nennt ihn vorerst so, wie ihr ihn alle nennt. Warug Gottschlächter, der du einst der Geächtete warst und dann der Gnadenwandler. Und jetzt erneut, eine Gnade für dich. Selbst wenn du, Kind des Wolfs, bis ans Ende deiner Tage nur noch beten würdest in Dankbarkeit und Reue, dann wäre deine Schuld immer noch nicht getilgt. Aber sterben musste er, mein Gottbruder, der mit letztem Atemzug nur noch Dämon war. So war deine Klaue der Vollstrecker. Niemand wird es je vergessen. Ein Opfer, ja, ein Opfer wie es sein musste. Arda wollte es so, Erennos hat es erwirkt.“

Warug verstand die heiligen Worte mit aller Klarheit. Jede Silbe der heiligen Stimme stach in seinem Inneren, doch konnte er nicht darauf antworten. Er konnte nur weinen, leise und verloren.

Der Große Vater Keiler starrte den vor ihn Hängenden noch eine längere Weile genauer an. Er musterte ihn und schien wieder zu überlegen. Eine Botschaft hatte er sodann noch für den Geächteten von Einst.

Der Tonfall des Wildschweingottes klang mit folgenden Worten erstaunlich sanft: „Kind des toten Wolfvaters, ich werde nicht vergessen, dass du eines meiner Kinder dereinst gejagt und vernichtet hast. Es war verderbt und gefallen, daher musste es sterben. Ihr brachtet es zur Strecke, ehe es entkam, so wie andere zuvor und den Einen danach. Mein Dank dafür. Niemals wart ihr in allen Dingen und Taten schlecht, aber der Preis muss immer gezahlt werden. Wenn nicht im Leben, dann im Tod.“

Die Erzmatrone an der Seite des Gottes senkte tief das Haupt. Warug verstand ebenso.

„Es ist Zeit“, dröhnte Toruskorr unmittelbar hierauf. „Kehren wir zurück zum Hain. Die Meinen werden mich wieder begleiten. Mein Heerführer wird mit der Abgesandten der Mada noch drei Tage länger hier bleiben. Ihr werdet weiter beraten, höchste Matrone vom Wald der Welt. Die Götter sind mit euch, alle Götter. Wer aber mit ihm ist, wird sich erst entscheiden.“

Der Boden zitterte, als sich der grauweiße Keiler umwandte. Langsam stampfte er davon, wieder in den Wald hinein. Die Natur und die Geister zeigten sich erneut in Demut.

Gava Meduna blieb noch einen Moment stehen und blickte auf den plötzlich stark zitternden Frevler am Baum der Anklage.

„Lebe also“, murmelte sie. „Leide noch zwei Tage. Dann kommen wir und du sollst heilen. Was vom Fleische übrig ist, wird gesunden. Deinen Geist kann aber nur deine Gnade retten. Nicht der Erste, aber der Letzte, der dir verzeihen muss, bist du selbst.“

Dann wand sie sich ab und ging ebenso davon.

Erst nach einer gewissen Weile hatte der hängende Werwolf begriffen, dass er soeben wieder verlassen worden war. Er glaubte, dass er zumindest Gava Meduna vielleicht noch etwas hinterherzurufen vermochte. Mit aller Kraft, zu der Warug noch irgendwie fähig war, versuchte er etwas zu sagen, aber alles was er aus seinem Mund hörte war ein ersticktes Krächzen. Für einen schrecklichen Moment war es ihm gar so, als könne er nichts mehr sagen, weil er keinen Mund mehr hatte. Allein mit Würgen gefrorener Hauch, Speichel mit Blut. Er hätte ohnehin nicht mehr gewusst, ob es ein Wort des Dankes hätte werden sollen oder irgendetwas anderes.

Die Kälte riss ihn in den Morgen. Beständig laut brauste nun der Wind durch den Wald der Welt. Wie ihm zu Diensten wogten die Kronen.

Anders begann dieser Tag, denn aus welchem Grund auch immer wurde kein Klagen der Werwölfe angestimmt. Beinahe unheimlich war dies, und unerwartet. Allein das gleichmäßig anhebende und wieder etwas weniger laute Heulen und Rauschen von Luft und Zweig herrschten vor. Nur ganz selten mischten sich Laute von Getier darunter, noch seltener knisterte etwas am bedeckten Boden.

So kamen sie lautlos, die Werwölfe. Es mochten gar mehrere Rudel sein, die in ihrer Tiergestalt aus dem Wald heraus traten. So elegant wie langsam bewegten sie sich und jedes Mal, wenn ihre Pfoten die Schneedecke berührten, war nicht ein Geräusch zu vernehmen. Leicht gesenkt die Häupter, bohrend die wilden Blicke. Schwarz, grau, weiß, rot und braun waren die Fellfarben der Bruderschar. Manche davon schienen mit erblassten Strähnen und ausgeprägteren Schädelcharakteristika, während andere deutlich jünger in Bewegung und Gestalt wirkten. Ebenso unterschieden sie sich in der Größe und in manchen Merkmalen wie deutlich sichtbaren Narben, auffälligen Mustern im Pelz oder magischen Artefakten wie einem Reif ums Vorderbein.

Sie taten aber vorerst nichts, sondern nahmen eine seltsame halbkreisförmige Formation vor ihm und dem Baum der Anklage ein. Dann verwandelten sie sich auffällig langsam. Pfote wurde zu Hand, Bein zu Arm, Schädel zu Kopf, Fell zu Haut. Zuerst auf allen Vieren und dann auf Zwei. Alle trugen Kleidungsstücke, die zunächst wie ein flüssiger Film aus dem Pelz heraus traten und sich schließlich über den nun menschlichen Körper legten. Ihre Blicke bohrten sich währenddessen noch eindringlicher in den Seinen.

So standen sie aufrecht da, fast fünfzig Krieger von Klan Wolf. Ihr Atmen war nicht zu hören, aber zu sehen. Viele waren eher von höherem Alter und Rang, die teils bereits ergraute Bärte, unübersehbare Narben und auffällige Tätowierungen trugen. Veteranen, ja sogar einige der weithin bekannten Rudelführer wie Swikull Grimmbringer. Doch ebenso gab es so einige junge Brüder unter ihnen, die ihre erste Verwandlung vor weniger als einem Jahr durchlebt hatten.

Für eine Weile rauschte der Wind sehr laut. Eine seltsame Mischung aus Anspannung und Bedrücktheit lag in der Luft. Warug begann den Moment etwas klarer wahr zu nehmen, die Schemen schärften sich, die Laute wurden deutlicher für ihn. Sollten sie endlich mit ihm verfahren, wie sie wollten, so dachte er. Hier, mein Leib, mein Opfer für euch, so dachte er.

Fast gleichzeitig gingen sie auf die Knie und senkten ihre Häupter. Ein überraschtes Stöhnen entfuhr dem Gottschlächter.

So verweilten die Werwölfe in ihrer offensichtlichen Bezeugung von Respekt für einen Gekreuzigten, vielleicht sogar Dankbarkeit und Demut. Es verging eine Weile, ehe einer nach dem anderen sich langsam erhob, nach vorne trat und - ohne den Bruder am Baum der Anklage anzusehen - berührten sie kurz mit drei Fingern seinen rechten Fuß. Dann verschwand die seltsame Prozession wieder im Wald.

Warug hatte keinerlei Begriff, was hier gerade geschehen war.

Erst nachdem ihm kurz rot und schwarz vor dem einen Auge wurde, bemerkte er, dass da noch immer ein Bruder stand. Zunehmend schlechter wurde seine Sehkraft, aber diesen da sah er noch klar vor sich. Er erkannte ihn sogleich. Es war Brander Flammenkrieger, an dessen Seite er mit Gorond zum Weltenbaum gezogen war. Der junge Werwolf mit rotblondem Haar war mit Warug der einzige der auserwählten Neun gewesen, der die Schlacht gegen die Heerschar des Einen Feindes überlebt hatte. Der Geächtete von Einst konnte sich noch an die blutigen Tränen seines Bruders erinnern, an diesen unvergesslichen Ausdruck in seinem Gesicht, als er den mit Triumph taumelnden Gottschlächter über den enthaupteten Leib seines Gottvaters gesehen hatte.

Aber jetzt stand er so vor ihm, mit einem seltsam leeren Blick, der aber zugleich irgendwie von Achtung geprägt war. Oder täuschte sich Warug gerade so sehr, so fragte er sich?

Brander trat nun ebenso nach vorne, drei Finger berührten den dunkelblau gefrorenen Fuß des Halbtoten am Baum.

Irgendetwas flüsterte er noch kurz, ehe er wie die anderen in den Wald gehen sollte. Der Geächtete von Einst war sich nicht sicher, was er gerade gehört hatte, aber es klang wohl wie: „Wir für dich, Bruder. Befreier vom gefallenen Vater.“

So gänzlich ohne einen Laut wie er erschienen war auf der Lichtung, verschwand Brander Flammenkrieger auch wieder.

Es war der zwölfte Tag, da er da hing. Bald schon würde der Abend dämmern, bald schon würde die silbernen Nägel aus seinem Fleisch gezogen werden und nimmermehr müsste er das zur Schau gestellte Opfer für alle sein.

Warug Gottschlächter spürte eigentlich seit einer Weile so gut wie nichts mehr im ganzen Leib. Inzwischen wusste er auch nicht mehr, ob er nun erblindet sei. Abgefrorene Zehen und Fingern lagen neben der fast schwarzen Zunge vor ihm im Schnee. Der Wind hatte die dunkelbraune Lache wieder etwas frei geweht. Sein getrocknetes Blut am Baum hatte beinahe die Farbe der Rinde angenommen. Kaum eine Wunde glänzte noch feucht und frisch, aber selbst wenn sie von Taubheit und Kälte beherrscht wurden, so bedeutete dies noch keinerlei Form von ausreichender Heilung. Am Gefährlichsten waren für ihn die schweren Bauchverletzungen. Offen klafften die Schlitze, die gerade noch so keine heraus quellenden Darmschlingen zeigten. Was seine Brüder und Schwestern noch an mit Leben verbliebenen Fleisch herunterholen konnten, wagte er sich gerade nicht vorzustellen.

Warug spürte nicht einen Funken an verbliebener Regenerationskraft mehr in ihm. Alles war nur noch ein gleichförmiger, unbeweglicher, dumpf pulsierender Klumpen, zusammengeschnürt mit rissiger Haut, gestopft mit klammen Knochen und scheinbar zerfetzten Innereien, in dem eine Seele mit dem brechenden Rest von Stofflichkeit eingekerkert war.

Und so dämmerte der Abend. Als er sie zum ersten Mal nach all den vielen Tagen wieder roch, bemerkte er erstaunt, dass er überhaupt noch riechen konnte.

Er mochte nicht mehr sehen können, auch wenn er es noch einmal fast verzweifelt versuchte. Aber er konnte immer noch hören und er konnte ihren Duft in sich aufsaugen, ja das konnte er. Und er konnte träumen von ihr, im Geiste ein Bild von ihr formen. Er stellte sie sich vor, in all ihrer Schönheit, mit ihrer wundervoll blassen Haut, dem roten Haar, den grünen Augen, dem wohl geformten Leib. Er wünschte sie sich mit strahlendem Lächeln, das ihm dereinst alle Ruhe und alles Glück zu versprechen vermocht hatte, aber egal wie sehr er sich mühte mit seiner Fantasie, ihr Antlitz blieb immer traurig und ernst.

Da wurde ihm gewahr, dass er beinahe vergessen hatte, wie stark die Sehnsucht sein konnte, so stark nach einem Anderen. Und wie sehr sie schmerzen konnte, wenn die Erfüllung so nah, so unmittelbar schien und doch so unmöglich sie zu leben.

So trat Deva Sanara aus dem Wald der Welt heraus, so nahmen es seine Sinne wahr, ebenso erkannte er noch andere. Schwere Schritte von Brüdern, leichtere von zwei anderen Matronen, die ihre Stäbe vor sich in den Schnee aufsetzten. Sie kamen näher, mochten nun direkt unter ihm sein. Sie sprachen miteinander, aber er verstand sie kaum. Was noch an Leben in ihm war, entwich langsam und fast war er froh darüber, denn damit ging endlich ein vollkommenes Loslassen von Seele und Leib einher, was gerade so wohltuend und gerecht erschien.

Ein Klanskrieger kletterte mit Klauen den Stamm hoch. Der silberne Nagel in seiner linken Hand wurde herausgerissen, dann der aus seiner Schulter, dann der nächste. Er hatte nur noch die Wahrnehmung von einem kurzen Ziehen irgendwo in seinem Körper, was mehr als einmal geschah. Er sank trotz Erfrierungen und Steifheit langsam nach vorne und weiter in sich zusammen, aber man hielt ihn fest, fing ihn auf. Iirgendwann glaubte er sich tatsächlich wieder auf dem Boden liegend wieder zu finden. Kalt knisterte es entlang seines gesamten Rückens. Seine Finger spürten keine Kühle mehr, aber den Widerstand der obersten Schicht der Schneedecke, die ihm gerade wie eine undurchdringliche Steinplatte vorkam.

Er hörte die Matronen lauter sprechen, aber er verstand nicht ein Wort. Gava Meduna war jedenfalls nicht dabei. Warug versuchte Sanaras Stimme herauszuhören, aber es gelang ihm nicht und irgendwann fiel ihm auf, dass sie tatsächlich nichts zu ihm sagte oder gar überhaupt nicht sprach. Ihr Schweigen gegenüber ihm war gewiss eine weitere, schreckliche Strafe, die allein ihm und seiner Sünde gebührte.

Die Zauberinnen des Zirkels begannen ihr heilendes Werk. Er nahm die Bewegungen ihrer Arme und Hände wahr, ihrer Stäbe über ihm. Und dann wollte alles Leben wieder in ihn kehren, plötzlich und schmerzhaft. Er stöhnte laut auf, zitterte und warf den Kopf von links nach rechts. Da war sie wieder, die berstende Regenerationskraft eines Werkriegers, die von den tiefsten Innereien herauf stürmte und jeden Nerv, jeden Knochen, jeden Muskel und jede Faser seines Körpers gänzlich zu erfassen begann. Doch ehe alles zu viel wurde, war da allein Entspannung und Ruhe in ihm. Sie stabilisierten seinen Zustand, hatten ihn vorerst versorgt und eine erste Heilung vollzogen.

Warug wurde auf eine hölzerne Trage gelegt, dann wurde er mit dicken Fellen bedeckt. Er nahm wahr, wie er hochgehoben wurde, doch für einen Moment hielten sie noch inne, seine Brüder.

Dann war Sanaras Gesicht direkt über dem Seinen. Tatsächlich spürte er sogar Strähnen ihres Haars auf seinen Wangen. So sehr wünschte er sich genau jetzt, dass sich ihre Blicke begegnen konnten, aber sein verbliebenes Auge wollte sich einfach nicht öffnen, egal wie sehr er sich auch anstrengte. Er hoffte so sehr, dass sie ihm nun ein gutes Wort ins Ohr flüstern würde, aber sie tat es nicht. Da spürte er ihren Daumen, der mit einem Gemengsel aus Blut und Erde eine Symbol auf seine Stirn malte: eine Rune der Genesung.

Und dann tat sie noch etwas, das er nicht erwartet hatte: Sanara streichelte ihn mit sanfter Geste am Kopf. Er glaubte ihren traurigen Blick dabei zu spüren. Er glaubte ein überraschtes Schnauben einer alten Matrone zu hören und vielleicht das Knurren eines Bruders. Mit mehr als einer Erinnerung an die Barmherzigkeit seiner Begleiterin von Einst und mit diesem Moment des dankbaren Glücks schlief er ein und Warug Gottschlächter sollte so bald nicht mehr erwachen.

Der Sturm der Krieger

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