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Kapitel 4: IM TEMPEL VON SONNE UND WOLF

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Der Wind brauste laut und die Schneeflocken wirbelten unruhig über den Heiligen Hain hinweg. Die blattlosen Kronen der Laubbäume neigten sich mit den Nadelbäumen im Rhythmus des stärker werdenden Sturms, welcher mit beständigem Rauschen die Luft erfüllte. Kein Blau fand sich am Himmel, nur Grauweiß. Der Wald der Welt war erfasst von der Unruhe eines immer tieferen Winters.

Allein stand der Geächtete von Einst mitten auf der Hainstatt. Er hatte zu warten. Etwas enger zog er den Fellmantel um seinen Leib. Noch reagierte er auf Kälte überraschend empfindlich, denn offenbar hatte die Heilung seine Widerstandskraft noch nicht gänzlich hergestellt. Selbst der gefrorene Atem aus Mund und Nasenlöchern fühlte sich unangenehm und stechend an. Immer wieder strich er sich das Haar aus dem Gesicht, bis er irgendwann aufgab und sich nicht mehr daran störte, dass das momentane Wetter immer siegreich über seine Frisur bleiben würde. Sein Blick ruhte meist auf dem Boden; gelegentlich sah er hoch in das unveränderte, gleichförmige Firmament oder betrachtete die mit Schnee bedeckten Megalithen rund um ihn herum. In pulvrigen Wehen zog der Wind das Weiß von deren Spitzen mit sich. Allein der graue Opferstein am Rande des Kreises war kaum berührt von der Witterung, denn offensichtlich trat eine magische Aura der Kälte mit Verweigerung entgegen. Gelegentlich zeigten sich im Gestöber blasse Gestalten von Werwölfen, Blutfolgern und Matronen. Hinter Warug ragte der Tempel von Sonne und Wolf empor. Von dort sollte bald Kunde für ihn kommen.

Fast gänzlich war er nun gesundet. Alle Finger und Zehen waren ihm nachgewachsen, alle Wunden mit deutlichen Narben verheilt. Seine Zunge hatte er wieder, doch seine Stimme war etwas dunkler und rauer geworden. Einen Verband trug Warug noch um den Bauch, denn die eine oder andere Klaue war ihm zu tief in die Eingeweide gerammt worden. Keinen brauchte er mehr für seine Augen. Die rote Iris, die manchmal etwas unruhig zu glitzern schien, war ihm geblieben und mochte ein vorerst rätselhaftes Mal sein. Nach dem, was er alles durchgemacht hatte, war es fast ein Wunder, dass er sonst keinen bleibenden Schaden in körperlicher oder geistiger Hinsicht hatte.

Vor drei Tagen hatten ihn die oberste Heilerin Aedeina Melithandra aus der Kammer der Heilung entlassen. Zugleich hatte Gava Meduna das Gebot der Unberührbarkeit für ihn ausgerufen. Niemand durfte ihn auch nur anfassen, ebenso wenig ansprechen, geschweige denn attackieren oder seinen Namen heulen. Doch gab es kaum Klage, Protest oder gar Übergriffe, denn bereits seit einer Weile war der Klan Wolf nicht mehr von Trauer, Aufruhr oder Wahn geprägt, sondern von einer beinahe allumfassenden Apathie. Was geschehen war, wurde nun einfach hingenommen. Wie es nun weiter gehen sollte, war vielen egal geworden. Ob diese melancholische Gleichgültigkeit nun gut oder schlecht für die Werwölfe sei, konnte vorerst niemand so genau sagen. Für Warug bedeutete dies in erster Linie, dass man ihn in Ruhe ließ, fast gänzlich ignorierte. Im Grunde war er also wieder ein Ausgestoßener inmitten der Seinen.

Zum Zeichen für alle und tatsächlich ebenso als Schutz für ihn, waren ihm ein Werwolf und eine Matrone zur Seite gestellt worden. Es hatte tatsächlich einen Freiwilligen gegeben: Brander Flammenkrieger. Der junge Bruder, der den Gottschlächter als Befreier vom gefallenen Vater bezeichnet hatte, wich nicht mehr von ihm. Schweigsam blieb er aber, antwortete nur selten auf Fragen und ging ohnehin nicht darauf ein, warum er und die anderen am Baum der Anklage so aufgetreten waren.

Die Matrone sollte tatsächlich wieder Deva Sanara sein. Weder Warug noch sie selbst hatten die Entscheidung der Erzmatrone verstanden, aber es mochte auch daran liegen, dass Sanara praktisch als einzige mehr mit bekundeter Überraschung, als mit lautem Protest auf die Wahl reagiert hatte. Offenbar war der Gottschlächter im Zirkel der Matronen verhasster, als die oberste Priesterin zunächst angenommen hatte.

So saß Deva Sanara an der Seite eines Megalithen im Schnee und blickte im Moment etwas genervt vor sich hin. Ihren Stab hatte sie an den großen, mit Runen verzierten Stein angelehnt. Die Kapuze ihres Mantels trug sie tief ins Gesicht gezogen. Mit etwas kalten Fingern malte sie schlecht gezeichnete Tiere in das Weiß zu ihren Füßen. Natürlich würde sie ihre Pflicht erfüllen, aber mehr auch nicht.

Aus Brander wurde Sanara nicht wirklich schlau und sie hatte es bisher nicht geschafft, ihn mehr als ein paar Floskeln zu entlocken. Hin und wieder rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie ja verstand, dass gerade dieser ein besonders großes Trauma erlebt hatte und sie mehr Empathie zeigen müsste, aber irgendwo hatte sie es einfach satt, sich ständig das Schreckliche der Vergangenheit gegenwärtig machen zu müssen. Dass sie mit ihrem einstigen Schicksalsbegleiter sogar noch weniger Worte wechselte, verstand sich von selbst. Warug mochte noch etwas brauchen, ehe er wirklich über sie hinweg war, während Sanara mit ihren Gefühlen, die ja nie so stark ausgeprägt gewesen waren, fast gänzlich abgeschlossen hatte.

Der Sturm ließ etwas nach. Der Thingplatz zeigte sich nun etwas klarer. Die Matrone blickte zum jungen Klansbruder, dem wie allen Werwölfen Kälte kaum etwas ausmachte und der demnach keinen Mantel brauchte, hinüber. Eine schwarze Lederhose genügte ihm demnach. Sonst trug er nur ein Amulett und ein Armband. Das rotblonde, im Ansatz lockige Haar hatte er zu einem langen Zopf zusammengebunden. Seine Erscheinung mit kurzem Bart und den blauen Augen gefiel ihr durchaus. Außerdem hatte er eine äußerst kunstvolle Tätowierung auf dem muskulösen Rücken, das ein hoch loderndes Feuer darstellte. Bloß etwas zu jung und vor allem viel zu zugeknöpft war er für sie.

Zuvor noch war er in der Umgebung und im Grau herumgeschlichen, jetzt aber lehnte er mit verschränkten Armen an einem der Megalithen. Er wurde auf sie aufmerksam. Die übliche stoische Miene. Etwas neckisch neigte Sanara den Kopf zur Seite und starrte ihn so lange fragend an, bis er sich mit einem Murren ab wand. Auch dieses Blickduell hatte sie also wieder gewonnen. Da sie sich an jeden ihrer kleinen Triumphe erinnern konnte, malte sie die Zahl in den Schnee. Ein blödes Spiel, befand sie, aber da die Stimmung aller Tage ohnehin von nur sehr wenig Aufhellendem geprägt war, erlaubte sie sich gelegentlich wenigstens diesen kleinen, dummen Spaß. Sie seufzte und befand sich gerade selbst als nicht allzu nett.

Die drei Erwachten mussten weiter warten. Der Geächtete von Einst stakste unruhig hin und her, blickte immer wieder hinüber zum Tempel von Sonne und Wolf. Ungewöhnlich deutlich zeigten sich die bunten Verzierungen auf dem beeindruckenden Holzgebäude. Das Strohdach war von einer hohen Schneedecke bedeckt, nicht jedoch die immergrüne Esche, deren Krone weit herausragte und mit dem Wind ein wenig tanzte. An jedem Giebel, jedem Balken und jedem Vorsprung hingen Eiszapfen herunter. Durch diesen Umstand der Witterung hatte der große Wolfsschädel über dem Haupteingang scheinbar noch zusätzliche Zähne erhalten. Nur das goldene Sonnensymbol an der höchsten Stelle des heiligen Bauwerks schien gänzlich unberührt von Wind und Kälte. Gerade jetzt funkelte es wieder im unsichtbaren Licht eines noch höheren Gestirns.

Eine ältere Matrone trat nur kurz und ohne Worte aus dem Tempel heraus. Allein mit einer Geste ihres Stabes bedeutete sie den Dreien hinein zu kommen und ließ das Portal einen kleinen Spalt offen.

Deva Sanara sprang augenblicklich auf und etwas ignorant gegenüber ihren Brüdern lief sie hastig in den Tempel hinein, ohne sich auch nur einmal über deren Nachkommen zu vergewissern. Ein verständlicher Grund für ihre Eile war die zunehmende Kälte, aber ansonsten hatte sie es einfach gänzlich satt, noch länger abwartend zu verweilen.

Brander Flammenkrieger hingegen öffnete für den Gottschlächter weit den rechten Flügel der Pforte und wartete geduldig auf seine Einkehr.

Der Angriff erfolgte überraschend. Warug war kurz davor einzutreten, als sein Bruder zu aller erst aufmerksam wurde und genau rechtzeitig reagierte. Mit dem gesteigerten Gehörsinn nahm er ein Pfeifen in der Luft wahr, das aber nicht vom Wind stammen konnte. Er riss den Arm nach oben und sprang an der Seite seines Bruders vorbei, warf sich schützend vor dessen Rücken. Im nächsten Augenblick hatte er den Speer in der Hand, der mit tödlicher Absicht aus dem winterlichen Weiß heraus geworfen worden war. Es war ein Attentat auf den Gottschlächter.

Noch die Waffe umfasst verwandelte sich Brander in seine Kriegsgestalt und suchte knurrend die Umgebung ab. Warug, der erst nach einer kurzen Weile wirklich begriffen hatte, was soeben geschehen war, transformierte sich ebenso zu einem übergroßen Mannwolf. Seite an Seite standen sie, blickten sich um, lauschten, schnüffelten, aber noch offenbarte sich kein Feind mit böser Absicht. Brander heulte demonstrativ, herausfordernd. Inzwischen war auch Deva Sanara wieder heraus geeilt um ihre Pflicht als Wächterin des Gottschlächters zu erfüllen.

Der Wind wehte, trieb die Flocken vor sich her. Im umgebenden Gestöber zeigten sich nicht einmal mehr Schemen, bloß die Megalithen ragten weiterhin wie stumme Zeugen des Geschehens vor dem Tempel empor. Kurz war die Stimmung fast gespenstisch, in jedem Fall aber bedrohlich.

Die Matrone riss den Stab hoch und die Werwölfe gingen in Verteidigungsstellung, als sie ein warnendes Heulen in unmittelbarer Nähe vernahmen. Im nächsten Augenblick begann die Luft direkt vor ihnen zu wabern und ein Krieger mit grauem Pelz sprang aus der Geisterwelt herüber. Hasserfüllter Blick, Geifern und Brüllen. Völlig rücksichtslos wollte er sich direkt auf Warug stürzen, hetzte vorwärts, war nur noch ganz wenige Schritte entfernt. Sanara hatte den Abwehrzauber schon bereit und Brander die Speerspitze gegen ihn gerichtet, als der Attentäter plötzlich aufheulte und wie von einer unsichtbaren Faust getroffen niedergestreckt wurde. Er griff sich an die Kehle, gab erstickte Laute von sich. Dann wurde er wie eine hilflose Puppe in die Luft gehoben, verweilte mit zuckenden Gliedern knapp über dem Boden schwebend.

„An den Baum der Anklage mit ihm“, ertönte es mit so kaltem wie befehlendem Ton aus dem Tempel. „Hängt ihn dort auf, wo der Gottschlächter zuvor gehangen hatte.“

Sanara wusste sofort, wer hier Macht gewirkt hatte. Durch den Spalt des Eingangsportal hindurch sah sie ihre Herrin, die im Schatten der großen Eiche stand, ihren Arm weit von sich gestreckt und mit ihrer Hand den Verbrecher an ihrem Befehl telekinetisch umkrallt hielt.

Mehrere Werwölfe in Kriegsgestalt traten von allen Seiten heran. Sie nahmen sich ihres Bruders, dem weiterhin keine Bewegung möglich war, an und schleiften ihn in den Wald. Keiner von ihnen würdigte den Gottschlächter eines Blickes, bloß einer verneigte sich vor dem Tempel und damit vor Gava Meduna.

Brander und Warug verwandelten sich wieder zurück. Der Gerettete vollführte eine Dankesgeste gegenüber Bruder und Schwester, die allerdings bloß den Kopf schüttelte und wortlos vor den beiden anderen in das Heiligtum hinein trat. Die Erzmatrone hatte nicht weiter abgewartet, sondern sich bereits wieder in den hinteren Teil des Gebäudes begeben.

Die beiden Flügel des Portals verschlossen sich von selbst, aber ein verzweifeltes Heulen drang aus der Ferne noch hinein.

Im Inneren war es warm und behaglich. Dies lag gewiss nicht allein an den vielen Kerzen entlang der hohen Wände, sondern umso mehr an den intensiv brennenden Geisterfeuern, die in der Höhe frei schwebten. Mit ihrer Hitze ließen sie es nicht zu, dass auch nur eine einzige Schneeflocke durch die obere Öffnung zu weit herein fiel, denn ehe das kalte Weiß weiter als das untere Geäst glitt, schmolz es und die sich weiter auflösenden Eiskristalle rieselten funkelnd hernieder.

Hinter der Esche und im Bereich gegenüber dem Haupteingang hatten sich bereits mehrere Personen zusammengefunden. Die ältere Matrone, die sie herein gebeten hatte, stand gerade bei Gava Meduna und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Danach verneigte sie sich vor der Führerin des Zirkels und mit einem zutiefst abfälligen Blick für Warug verschwand sie schließlich in einem Nebenraum. Deva Sanara kniete ins Gebet vertieft vor den beiden Statuen von Arda und Erennos. Das dazwischen platzierte Idol Goronds war von einem schwarzen Tuch gänzlich verhüllt. Dieser Anblick gab Warug einen heftigen Stich ins Herz. Seinen Bruder Brander Flammenkrieger hörte er mit einem traurigen Knurren hinter sich verharrend.

Doch es war noch jemand hier: neben Gava Meduna stand ein groß gewachsener Werwolf, der sich langsam zu seinen Brüdern wand. Grau in grau war seine Kluft von Leder und Fell. Seine entblößten Oberarme waren bedeckt mit Tätowierungen, die ebenso Symbole von Klan Bär aufwiesen. Das dunkle Haar war mit Schnüren zu einem langen Zopf zusammengebunden. Grau wie die See der Blick. Warug erkannte ihn schnell wieder, auch wenn es lange her war, dass dieser in seiner Heimat zugegen war. Es handelte sich um Velric Eisheuler, der letzte lebende Nachkomme des gefallenen Magnors Sigthun Silberklaue.

„Gottschlächter... Hier seid ihr also.“ Sein Ton war durchaus abfällig, aber gleichzeitig sehr bestimmt. „Brüder wollen euch tot sehen, aber das heilige Gebot Toruskorrs und der Zauber der Ehrwürdigen Gava retten euch. Doch ehe ich nur ein weiteres Wort über euch, den ich lange vor eurem Exil noch als Feindhetzer kannte, verliere, will ich zuerst nur eines wissen: hat mein Vater bis in den Tod gut gekämpft und wird der Allvater ihn in seinen Hallen ruhmreich empfangen?“

Die Augen Velrics bohrten sich regelrecht in die Seele Warugs. In Respekt senkte dieser zunächst sein Haupt, auch gegenüber der sehr streng dreinblickende Erzmatrone, die sich wieder einmal um die Schonung seines Lebens bemüht hatte. Ruhig war er in seiner Antwort.

„Euer Vater war bis zu seinem Fall für Gott Gorond nicht nur der große Anführer dieses Klans und der neun erwählten Dämmerwanderer gewesen, sondern auch der größte Krieger unserer Schar. Er starb mit der höchstmöglichen Ehre eines wahren Streiters des Wilden Heeres. Seid meiner Gram über sein jähes Ende, aber auch meinem Dank und meiner Freude darüber gewiss, dass ich an seiner Seite kämpfen durfte und sein glorreiches Schlachten mit ansah. Nun sitzt er mit unseren Ahnen in den jenseitigen Hallen von Venhallasvor, wo die Tapferen ewig leben.“

Velric Eisheuler sagte zunächst nichts darauf und sah noch kurz auf Brander, der demütig nickte. Er glaubte ihnen und war von wahrhaftigem Stolz für Sigthun erfüllt.

„Ein böses Omen hatte mein Vater dereinst in einem Traum gesehen, deshalb schickte er mich vor Jahren weit fort. Manchmal schmerzte mich sein Entscheid, doch natürlich gehorchte ich. Es würde eine Zeit kommen, da mir zu große Gefahr drohen würde, wenn ich in Hainstatt und im Revier länger als drei Nächte zugegen sei, so verriet er es mir. Schließlich wurden ich und mein Rudel in wichtiger Mission zu unserem Bruderklan im Norden entsandt. Eine unserer Aufgaben war es ein Zeichen zu setzen für die Gemeinschaft und das starke Bündnis zwischen Bär und Wolf. Wir jagten Skrael, patrouillierten an den Grenzen und erspähten zuletzt den Heereswurm der Brut, der schon bald gegen den Langen Wall Talaruns ziehen wird. Hoch und weit fliegen die Harpyiengötzen und die Berge erzittern, da aus ihnen Schwarze Drachen geboren werden.“

Für einen Moment hielt der Sohn Sigthuns inne und betrachtete mit fragendem Blick die Statuen von Allmutter und Allvater, ehe er sich wieder den anderen um Raum zu wand und direkt fortsetzte mit seiner Ansprache.

„Lange dauerte meine Mission im Norden, doch Gava Meduna hat mich und mein Rudel zurückgerufen. Meine Heimat sehe ich endlich wieder, aber die Heimat hat keinen Gott mehr. Weder meinem Vater im Blut konnte ich wieder vors Angesicht treten, noch meinem Vater in Heiligkeit. Zweifach ist meine Trauer, aber da ich noch bin und mein Pflicht erkenne, will ich mein Leben für den Klan hingeben.“

Velric Eisheuler streckte er den Arm aus und berührte den schwarz verhüllten Schädel des Idols Gorond. Alle im Raum hatten ihm schweigend und mit aller Aufmerksamkeit zugehört.

Die Erzmatrone erhob das Wort: „Ich danke euch aus der Tiefe meines Herzens, Velric Eisheuler. Dafür, dass ihr hier seid, dafür, dass ihr so gut gesprochen habt. Eure Trauer mag groß sein, doch ist keine Träne des Schmerzes sinnlos und ehrlos vergossen.“

„Gewiss nicht, werte Gava“, begann der zurückgekehrte Sohn. „Ehe weiter Dinge passieren und ich weiter entscheide, wollte ich noch wissen, ob mein Groll stärker sei als meine Beherrschtheit und Urteilskraft. Aber da ist kein Gefühl mehr, das meine Klauen zornig werden ließe. Vielleicht hat nun auch mich dieser zähe Gleichmut erfasst, der seit Tagen wie eine tönerne Decke über dem ganzen Revier liegt.“

Sanara erhob sich und fragte plötzlich: „Könnt ihr denn eurem Bruder verzeihen, Velric, Sohn des Sigthun?“

„Ich muss“, antwortete dieser kalt und ohne Zögern. „Ich muss und will, denn Gorond musste fallen. Ich begriff diese grässliche Wahrheit erst vor kurzem in aller erschütternder Konsequenz. Wie mein Gott war mein eigener Vater ein notwendiges Opfer im Krieg gegen den Abgrund.“

Warug entkam es mit knirschenden Zähnen: „Den Tod eures Vaters habe ich gewiss nicht gewollt...“

„Den Tod unseres Gottes aber schon? Nein, genug davon. Geschehen ist es und für immer bleibt es unser aller Bürde. Ich trage noch eine weitere und werde niemals vergessen, wessen Sohn ich bin und wer mein Vorbild bleibt.“

„Lange noch hätte uns Sigthun Silberklaue führen können.“ Deva Sanara versuchte so aufrichtig und tröstend wie möglich zu klingen. „Er war ein guter, starker Magnor gewesen.“

„Wer anderes sagt, kannte ihn nie oder hasst ihn noch immer. So verkünde ich also nun: mit dem heutigen Tag will ich Velric Sigthunson Eisheuler heißen. Ich will mich seiner würdig erweisen, in allem.“

Gava Meduna nickte und sagte mit Ermutigung im Wort: „Heil dir, Velric Sigthunson Eisheuler! Ein jedes Wort aus eurem Mund ehrt euch in dieser Stunde. Ich fühle, dass ihr eurem Vater sehr ähnlich seid. Und er sieht es gewiss genauso.“

Sanara, Brander und Warug stimmten ein: „Heil dir, Velric Sigthunson Eisheuler!“

„Danke Schwestern und Brüder. Und euch, ehrwürdige Gava, will ich ganz besonders danken, dass meinem Vater stets eine solch wichtige Stütze wart und mit ihm diesen Klan und dieses Revier so gut geführt habt.“

Velric wandte sich wieder zu den Statuen der Götter. Das Licht durch das hohe Fenster strahlte gerade genau auf ihn herab. Sigthunson breitete zuerst die Arme aus, dann senkte er sie wieder und ballte die Fäuste. Er begann mit lautem Heulen und so bald sollte es nicht enden. Brander Flammenkrieger trat unmittelbar nach vorne und setzte fort mit wildem Gesang. Zunächst war Warug etwas zögerlich, doch schließlich stimmte er mit seinen Brüdern in das Requiem für Gorond und Magnor mit ein. Die Gava und die Deva senkten ihre Häupter, verweilten im stummen Gebet.

Dann wurde es wieder gänzlich still in der heiligen Halle. Nur ein Rauschen in den Blättern der Esche waren noch zu hören; der Wind von draußen her und zartes Klingen der Geisterfeuer. Viel von hoher Bedeutung war nun gesagt worden, viel an Trauer war wiederum bewältigt worden, aber bei diesem Treffen sollte es noch um weit mehr gehen.

In einem Nebenraum des Tempels saß die Zusammenkunft der Fünf zu Tisch, welcher rund und hölzern war. Schlicht war die Ausstattung im Raum, doch reich verziert die Säulen an den Wänden und das Gebälk an der Decke. Ein blaues Geisterfeuer glühte in einer Vertiefung inmitten der Tafel.

Gava Meduna saß in ihrem hohen Stuhl, der mit weißen Fellen ausgelegt war. Alle anderen hatten auf eher schlichten Bänken Platz genommen. Nur Velric Sigthunson stand etwas abseits. Er war noch in Gedanken und blickte durch das hohe Glasfenster hinaus ins weiße Schneegestöber.

Irgendwann begann er als Antwort auf die zuvor gestellte Frage der Erzmatrone: „Zur Wahl des nächsten Magnors will ich antreten, ja. Keinen Segen des Herren der Wölfe kann es mehr geben, aber die Versammlung kann wie jeher entscheiden. Das Thing des Klans soll geschehen. Und die Matronen werden es befürworten und mit Ritual beschließen.“

Gava Meduna führte weiter aus: „Ich werde allen voran euch unterstützen, Velric. Es gibt natürlich noch andere Kandidaten, gute Anführer aus den Reihen der Ersten Rudel. Njorst Blutpranke oder Simul Reichswächter mögen ebenso geeignet sein, denn sie haben sich gerade in jener dunklen Zeit nach dem Fall Goronds sehr verdient gemacht und waren seit jeher weise und stark, aber der Klan braucht ein Symbol der Kontinuität. Ihr mögt lange fort gewesen sein, aber niemand wird euer Kampfgeschick, euer Pflichtbewusstsein und eure Verdienste für den Klan in Abrede stellen können. Doch kam der Ruf nicht allein von mir. Viele eurer Brüder wollen euch auf dem Thron des Magnors sehen und spätestens mit dem heutigen Tag bin ich mir gewiss, dass ihr am besten diese große und schwierige Aufgabe erfüllen werdet.“

Velric drehte sich um und setzte sich nun ebenso an den Tisch. Direkt gegenüber von Gava Meduna nahm er seinen Platz ein. Die Arme streckte er auf der gravierten Holzplatte von sich.

„Ja, mein Ruf und der Ruf meines Rudels eilen mir voraus. In den letzten Tagen haben mir viele im Klan versichert, dass sie auf mich hoffen. Sie hoffen in mir meinen Vater zu sehen. Sie hoffen, dass sein Geist mich führen möge.“

„Und gewiss wird er dies tun.“, bekundete die Erzmatrone überzeugt.

Etwas überraschend für die anderen erhob Brander Flammenkrieger das Wort: „Auch ich hoffe auf euch. Ich habe mit Sigthun gekämpft und ich sah stets viel in ihm. Allein, vielleicht... hätte er die Schwäche Goronds früher erkennen müssen.“

Velric runzele zunächst die Stirn, denn er begriff natürlich sogleich, worauf sein junger Mitstreiter eigentlich anspielte. Er kannte gewisse Tendenzen und Meinungen in den Reihen der Seinen, die den bedingungslosen Glauben seines Vaters an einen verfallenden Gott für nicht richtig gehalten hatten. Aber dann nickte er bloß.

Gava Meduna stellte mit hartem Ton fest: „Ihre würdet in der dunkelsten Zeit des Klans zum Anführer werden. Vielleicht seid ihr sogar der allerletzte Magnor in der langen Reihe seitdem die Ersten tranken von seinem Blute und zu Wandlern wurden. Kaum ein Aufgabe könnte schwerer sein, denn ohne das spirituelle Licht unseres Gottes fehlt alle heilige Führung, die zusammenhält und stärkt. Ich werde aber alles dafür tun, dass nun eure Hand sicher führen möge und ihr alle Unterstützung der Schwesternschaft bekommt.“

Die Erzmatrone blickte mit ihrem letzten Satz auf die junge Schwester an ihrer Seite. Sie nickte zustimmend.

Fast schon flüsternd sagte Sanara darauf: „Wenn meine Herrin sich für euch entscheidet, so folgen ich und der ganze Zirkel.“

Wieder nickte der Sohn Sigthuns nur. Die Klanspolitik hatte ihn nun also wieder, so dachte er insgeheim.

Warug zugewandt fragte er: „Und ihr, Gottschlächter?“

Ihre Blicke trafen sich. Der Geächtete von Einst richtete sich etwas weiter auf. Es gab nur eine Antwort.

„Ich allein für euch, Bruder.“

„So spricht der Auserwählte“, sagte darauf Velric für alle anderen völlig unerwartet und schlug mit der Faust auf das Holz. Die Runde zu Tisch tauschte unsichere und überraschte Blicke aus. Gava Meduna entkam ein Seufzen.

„Der Auserwählte...“, flüsterte Brander in einem fast ehrfurchtsvollen Ton.

„Ihr wisst?“, fragte der Geächtete von Einst.

„Ich weiß“, erklärte der Magnor von Morgen mit einem Nicken. „Die Prophezeiungen kennt man ebenso im Norden. Die ehrwürdige Gava hier an unserer Seite hat vielleicht eine Andeutung zu viel gemacht. Und ihr habt es jetzt selbst bestätigt, Feindhetzer und Geächteter von Einst und jetzt Gottschlächter. Morgen vielleicht schon allen und allein bekannt als der Erste Auserwählte.“

Sanara brachte erstaunt hervor: „Du, Wolf...? Wirklich? Ist es nun so gewiss?“

„Ja“, begann er. „Ich soll es sein. Du kanntest bereits die Prophezeiungen. Die Frage hast du mir bereits gestellt und ich weiß jetzt nicht mehr als vor ein paar Tagen, wie auch? Deine Herrin glaubt es, weiß es auch, nachdem was alles durch meine Hand geschehen ist und was schließlich der Gott der Keiler gesprochen hat.“

Die Deva sah fragend zur Gava neben ihr. Die alte Matrone nickte. Der Gesichtsausdruck von Brander hatte sich gänzlich verändert. Es ließ sich unmöglich ausmachen, was nun in ihm vorging.

Die Erzmatrone hob plötzlich die Hand. Sie konnte ein Zittern unterdrücken. Mit dem Finger wies sie auf Warug, auf sein rot gewordenes Auge.

„Wer schenkte euch dies?“

„Ein Rabe stach in mein Auge, als ich gekreuzigt war. Ein Rabe, den ich zuerst im Traum sah und der dann auf meiner Schulter erschien. Ich dachte zunächst, dass er es mir auspicken würde, aber ich wurde bloß wieder bewusstlos. Ich weiß nicht, was... das zu bedeuten hatte.“

Sanaras Miene und Haltung veränderten sich, denn sie musste sogleich an einen anderen Raben denken und wem sie zu Nos Saman begegnet war.

Die Deva zitierte: „Der Allvater zeigt sich mit schwarzer Schwinge. Die Boten aus dem Traum Erennos' sind die Raben. Gewahrt ihrer Zeichen!“

Gava Meduna nickte zustimmend. Brander schüttelte kurz den Kopf, dann starrte er längere Zeit den Gottschlächter einfach nur an. Für eine Weile sah es so aus, als wolle er eine drängende Frage stellen, aber schließlich verharrte er bloß schweigend.

Der Sohn des Sigthun folgerte weiter: „Wisst ihr beiden nun, werte Deva und tapferer Bruder, weshalb ihr hier seid und dieses Unterredung gemeinsam mit uns führt? Ihr wurdet dem Auserwählten zur Seite gestellt, nicht nur um ihn zu beschützen, sondern auch um Zeugnis von seinem Wirken abzulegen. Er selbst kennt sein Schicksal noch nicht. Auch wir nicht. Allein die Götter entscheiden. Und der Tod eines Gottes durch seine Hand ist gewiss erst der Anfang.“

„Grausam mögen die Allerhöchsten manchmal sein“, begann die Erzmatrone. „Aber ihr Wille geschehe. Und um den Einen Feind aufzuhalten und die Schöpfung der Mutter zu retten, muss ein jeder Preis, koste dieser auch noch so viel, bezahlt werden.“

Unvermittelt platzte Brander hervor: „Aber... Aber wenn er der Auserwählte ist, dann war die Enthauptung Goronds durch seine Hand doch ein Akt der höchsten Götter? Weshalb vernichtet Arda was sie geschaffen hat und warum lässt Erennos es zu?“

Der junge Werwolf blickte fragend in die Augen aller, doch niemand schien ihm zunächst eine Antwort geben zu können.

Die Erzmatrone begann langsam: „Krieger des Allvaters, ich verstehe weshalb du diese Frage stellst. Sie mag so offensichtlich dar liegen, bezogen ebenso auf so vieles in der Welt und im Geschehen der Dinge. Weshalb müssen Unschuldige sterben? Weshalb zerfleischt sich die Menschheit im Schlachten sinnloser Kriege und geht verblendet gegen uns, ihre Hüter und Vermittler des Alten Glaubens vor? Weshalb zerstören die Erloschenen mit ihrer Zivilisation jene eine und einzige Welt, mit der sie eigentlich im Einklang leben sollte? Warum gibt es selbst in unseren Reihen sinnlose Zwiste? Die Hinnahme all dessen, was wir nicht verstehen und das uns schmerzen mag am Entscheid der Schöpferin und dem Zulassen des Herrn, gehört zum tieferen Mysterium unseres Glaubens. Und vergesst nicht, dass der Eine Feind gegen die Götter wirkt und alles Sterbliche damit der Verderbnis jederzeit anheim fallen kann. Am Ende werden wir aber alle verstehen. Habt das Vertrauen darauf.“

Brander Flammenkrieger schien die Antwort nicht zu genügen, denn er schüttelte bloß den Kopf. Schließlich aber wandte er sich Warug zu.

„Wenn du es wirklich und wahrhaftig bist, dann folge ich dir bis zum Untergang und akzeptiere jedes Wort von dir, verteidige jede deiner Taten, selbst wenn ich sie zunächst für falsch hielte und ich nichts zu begreifen vermag. So hast du also Gorond getötet, nicht in Verderbnis, aber für das Licht. Diese Wahrheit glaubte ich bereits zuvor und will sie nun laut verkünden.“

Ein langes Schweigen folgte im Raum. Der Geächtete von Einst konnte dem Blick seines jungen Bruders nicht lange standhalten. Etwas beunruhigte ihn zudem am Tonfall seiner Worte.

Sanara wollte noch mehr wissen: „Er ist der Erste, der offenbart wurde, für uns, in diesem Kreis. Doch wie viele noch, meine Herrin? Sollen es nicht noch andere sein, von den anderen Klans?“

„Wie viele genau vermag ich nicht zu sagen, doch eines ist gewiss: einer wird von Verderbnis sein. Einer wird aus dem Abgrund kommen, denn nicht nur Allmutter und Allvater werden die Ihren entsenden, sondern auch der Eine Feinde den Seinen. Vielleicht hat er diese Welt schon berührt, vielleicht aber wird er erst kurz vor der Dritten Niederkunft kommen.“

Warug fragte dann: „Wann werden sich die anderen Auserwählten zeigen?“

„Noch ehe es zur Letzten Schlacht kommt, werden alle offenbar sein, da wir aber nicht wissen, wann es soweit sein wird, können sich die anderen bereits nach einigen Monden oder erst in einigen Jahren zeigen.“ Die Gava verkündete aber noch mehr. „So wie die Zweite Niederkunft im Süden geschah, so wird die Dritte im Norden der Welt sein. Hier also das Schlachtfeld, auf dem sich die gewaltigen Heere treffen werden und mit ihnen die Auserwählten, die das Schicksal der Schöpfung bestimmen werden. Die letzte Entscheidung gebührt allein dem ganz am Ende Überlebenden, welcher vielleicht sogar der hier, der Erste Auserwählte, sein kann. Aber falls das Wilde Heer endet und das Licht verschwindet, dann wird der Letzte von Verderbnis sein und der Weltendrache obsiegt. Doch die Hoffnung ist vielfach, die Verzweiflung nur einmal.“

Alles schwieg. So klar und deutlich war die Prophezeiung gegenüber den Anwesenden noch nie ausgesprochen worden.

Dann überraschte die Erzmatrone alle anderen mit einem Lächeln. Zunächst konnte keiner sich einen Reim davon machen, allein Velric glaubte den Grund zu kennen, denn ihm war bereits etwas zu Ohren gekommen am Hofe des Bären im fernen Korgard.

Sanara musste natürlich zuerst fragen und vor lauter Aufregung nach all diesen Worten vergaß sie sogar die rechte Anrede.

Meduna... Was kann euch denn gerade jetzt so glücklich stimmen?“

„Ach, mein Kind... Es wird etwas geschehen. Ein großes Wunder. Seit Wochen treffe ich auf allen Ebenen die Vorbereitungen dafür, seit Wochen bin ich in Unterredung mit meinen Schwestern aus allen Himmelsrichtungen und Toruskorr beehrte uns ebenso aus diesem heiligen Grund heraus.“

Das Grinsen der Gava wurde tatsächlich noch etwas breiter. Die Köpfe der anderen neigten sich noch weiter nach vorne. Selbst Warug blieb der Mund offen stehen, aber langsam dämmerte es ihm ebenso. Vor den Wilden Göttern müsse er aufrecht stehen können, damit er so sein Urteil erfahre und gewiss noch mehr von seinem weiteren Schicksal verkündet werden würde.

Velric Sigthunson Eisheuler entkam schließlich der Halbsatz: „Zuletzt geschah es vor zweihundert Jahren, als in der Zeit der...“

„...als in der Zeit der Brennenden Hetze der Rückzug in die tiefen Reviere und das Verhüllen vor den Augen der Menschen beschlossen worden war.“ Gava Medunas Stimme bebte ein wenig vor Aufregung und hoffnungsfroh blickte sie auf jeden einzelnen Anwesenden. „Es wird nun wieder geschehen, denn es gilt nicht nur um einen Gott zu trauern, nicht nur den Gottschlächter an den Pranger zu stellen und zugleich ihn als den Ersten Auserwählten zu verkünden, sondern auch den Krieg zu beschließen. Nicht länger sollen wir uns verstecken müssen, nicht länger werden wir uns zurückhalten. Alle werden kommen und alle werden wir sehen. Die Teilhabe daran ist für jeden Erwachten ein Segen und nur wenigen Angehörigen der Klans und der Zirkel war es in allen Zeitaltern bisher vergönnt gewesen. In neun Tagen geschieht es wieder: ein Allthing der Wilden Götter.“

Der Sturm der Krieger

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