Читать книгу Dein Job ist es, frei zu sein - Paul J. Kohtes - Страница 19
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Was da ist, war längst, und was sein wird,
ist längst gewesen.
KÖNIG SALOMO
965 - 925 v. Chr.
Jedes hat seine Stunde
Der Italiener Giovanni Anselmo, bekannter Vertreter der „Arte Povera“ (arme Kunst), berichtet von einer „Erleuchtungserfahrung“. Bei Sonnenaufgang stand er auf dem Gipfel des Vulkans Stromboli. Als die Sonne über dem Meer auftauchte und ihn von unten beschien, stellte er verblüfft fest, dass er in der Weite des blauen Himmels keinen Schatten hatte...
Morgens früh ist die Welt noch in einem anderen Zustand als im Verlauf des Tages. Diese Erfahrung kann jeder machen, der aufsteht, bevor die ersten Sonnenstrahlen den Horizont erhellen. Die Phase zwischen dem Sonnenaufgang und dem Hellwerden zeigt in einem besonderen Maße, wie die Welt sich entwickelt, wie sie sich von der Dunkelheit hin zum Hellen wandelt. Übertragen wir dieses Bild auf die Erdgeschichte, so ist auch dies eine Entwicklung vom Dunklen zum Hellen.
Viele denken, die Welt sei auf dem Weg in den Untergang. Nun, auf ganz lange Sicht betrachtet mag das stimmen. Wenn wir den Astrophysikern glauben, dann ist die Welt ja ein Stück eines großen Atmungsprozesses zwischen Entstehen, Aufblühen und Vergehen. Betrachten wir aber die für uns Menschen aus heutiger Sicht überschaubaren Zeiträume, dann sehen wir, dass die Welt durchaus nicht auf dem Weg in den Untergang ist oder in Dunkelheit versinkt, sondern ganz im Gegenteil: Unsere Welt ist dabei, sich immer weiterzuentwickeln. Das meinte Meister Eckhart, christlicher Prediger und Professor des Mittelalters, als er sagte, dass auf der Erde nichts geschehe, was nicht zu einer weiteren Optimierung führen würde.
Die Geschichte der Menschheit gehorcht jedenfalls diesem Prinzip. Das Bewusstsein der Menschen hat sich von einem sehr archaischen, einfachen hin zu einem immer intensiveren, komplexeren entfaltet. Deutlich wird das an den alten Kulturen in China, in Indien und in Ägypten, die jede für sich große Sprünge in der Entwicklung der Menschheit und vor allem in deren Bewusstsein verkörpern. Selbst die Kulturleistungen eines untergegangenen Volkes wie das der Azteken sind nicht verloren, sondern sie sind – wie alle vergangenen Kulturepochen – Teil unseres kulturellen und geistigen Erbes geworden. Der Schweizer Psychologe C. G. Jung nennt es „kollektives Unbewusstes“. Die gesamte Schöpfung entwickelt sich vom Einfachen zum Komplexen. Dahinter steckt die inhärente Zielrichtung „der Natur“ zur Optimierung. In der Natur, in den Pflanzen und Tieren, können wir die Tendenz zur Höherentwicklung beobachten. Wir können also durchaus optimistisch in die Zukunft blicken, denn die kreativen Ideen für weitere Wandlungen werden der Welt so bald nicht ausgehen. Dass diese Prozesse nicht immer einfach, sondern mit vielen Verwerfungen, mit vielen Höhen und Tiefen, Hindernissen und Brüchen verbunden sind, das versteht sich von selbst. Daran, dass sich die Welt letztlich immer weiter zum „Besseren“ hin entwickelt, ändert das jedoch nichts.
Bleibt die Frage, woran es liegt, dass wir Menschen diese Vorgänge oft nicht sehen? Warum wird die Verbesserung für uns nicht erlebbar? Nun, erstens sind wir nie zufrieden. Wir blicken zunächst immer auf die Mängel, auf das, was noch besser sein könnte, und nicht auf das Positive, auf das, was sich bereits entwickelt hat. Zweitens hat die Antwort auf diese Fragen etwas mit der Qualität der Zeit zu tun. Die Zeit erscheint uns in unterschiedlichen Facetten. Salomo, der weise Herrscher des Vereinigten Königreiches Israel, hat das wunderbar beschrieben:
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.
PREDIGER 3,1
Damit will er ausdrücken, dass jede Qualität in einem bestimmten Zeitrahmen entsteht und es keinen Sinn macht, diesen Zeitraum, in dem etwas heranreift, zu übertölpeln oder ihn zu umgehen.
Das trifft auch auf die Geschäftswelt zu. Hier gilt es, die Frage zu beantworten, wann die richtige Zeit für erfolgreiche Unternehmungen gekommen ist. Von Astrologen wird dieser Aspekt unter dem Blickwinkel der Gestirne betrachtet. Eine solche Ansicht ist legitim, weil das Auftreten und Verschwinden der Planeten natürlich ebenfalls etwas mit der Qualität in der Zeit zu tun hat. Sie erscheinen nicht zufällig, sondern folgen Gesetzmäßigkeiten, tauchen nach einer bestimmten Regel auf. Dass die Planeten gerade da sind, wo sie sind, und sich die Dinge zu diesem Zeitpunkt in einer speziellen Weise manifestieren, ist ein Hinweis darauf, dass ihr Moment gekommen ist. Herauszufinden, in welcher Sternenkonstellation die Zeit reif für etwas ist, das ist die große Kunst – und offensichtlich unglaublich schwierig. Wie sonst könnten wir erklären, dass die Prognosen der Astrologen oft so fehlerhaft oder ungenau sind? Nur sehr selten ist ein Treffer so bedeutsam wie bei den Heiligen Drei Königen, die nur „ihrem“ Stern folgten, um ein Jahrtausend-Baby zu entdecken. Um als Normalsterblicher aus den Planetenständen zukünftige Begebenheiten und Geschehnisse korrekt ableiten zu können, um zu erkennen, was gerade „dran“ ist, bräuchten wir eine vollkommene Weltübersicht, den universalen Überblick also.
Ob wir nun Astrologen sind oder nicht – den universalen Durchblick haben wir alle nur dann, wenn wir einen großen Abstand zu den Dingen finden. Großer Abstand meint, dass wir in der Lage sind das zu Bewertende in seiner Gesamtheit zu sehen. Auf die Geschäftswelt bezogen bedeutet das: Erst wenn wir die Dinge aus der Entfernung betrachten, sehen wir klar. Erst dann erkennen wir, was auf dem Markt ganz generell passiert. Welche Wettbewerber sind in welchem Zustand? Welche Marktsituation herrscht in den führenden Industrieländern vor? Wie stellt sich die Entwicklung der unterschiedlichen Nachfragestrukturen dar? All dies können wir besser bewerten, wenn wir einen großen Abstand wahren.
Übungen
Naivität ist eine wundervolle Eigenschaft, um Abstand zu erfahren. Denn wer naiv ist, ist noch nicht fixiert, und erst das macht es möglich, das ganze Potenzial zu erkennen. Die großen Erfindungen und Entdeckungen entstammen einem kindlichen Denken, einer Mischung aus Unvoreingenommenheit, Neugierde und Freude am Sein. Columbus war einfach naiv, als er nach Westen segelte, um im Osten anzukommen. Das Ergebnis ist bekannt. Auch die Aldi-Gründer, die Brüder Albrecht, handelten äußerst naiv mit ihrem Glauben daran, dass die Menschen sich ohne Bedienung ihre Sachen aus primitiven Kisten und Regalen selbst zusammenklauben.
Sie sehen: Mit Naivität können Sie zu einem der reichsten Menschen der Welt werden. Die folgenden Übungen können Sie als „kindisch“ abtun oder Sie nutzen sie, um Ihre Fähigkeit zur „birds-eye-perspective“, also das Wahrnehmen aus der Vogelschau, zu stärken.
1 Die hier beschriebene Phantasiereise – ursprünglich als Entspannungsübung für Kinder gedacht – habe ich schon oft mit Erwachsenen ausprobiert; sie „funktioniert“ auch bei uns Großen. Die Geschichte dieser Reise lassen Sie sich am besten vorlesen oder Sie sprechen den Text vorab sehr langsam (!) auf ein Diktiergerät oder auf die Diktierfunktion des Telefons und spielen ihn hinterher ab.Legen Sie sich dazu bequem auf den Rücken – am besten auf einen festen, aber nicht zu harten Grund, zum Beispiel auf den Teppichboden in Ihrem Büro. Vielleicht brauchen Sie zur Stütze Ihres Kopfes ein kleines Kissen oder einen Pullover. Lauschen Sie jetzt einer Geschichte, die ähnlich der folgenden ablaufen könnte:Nehmen Sie Ihre neben dem Körper abgelegten Arme wahr, erst den rechten, dann den linken. Spüren Sie danach in Ihr rechtes, dann in Ihr linkes Bein, in Ihren Rumpf, Ihren Hals und Ihren Kopf. Warten Sie, bis Ihr Atem sich beruhigt und ganz leicht kommt und geht. Wenn Gedanken auftauchen, schicken Sie diese weg. Sagen Sie ihnen: „Jetzt nicht.“Stellen Sie sich nun vor, dass Sie auf dem Rückweg eines langen Spaziergangs sind. Sie kommen an einer Wiese vorbei, fernab von Straßenlärm. Es ist ein schöner Sommertag, angenehm warm und ein leichte Brise erfrischt.Sie beschließen, eine Rast zu machen und legen sich in das weiche Gras inmitten der Wiese. Sie blicken nach oben zum Himmel. Durch das Blau ziehen vereinzelt weiße Wolken. Hören Sie das Summen der Insekten, riechen Sie das frische Gras.Sie spüren, wie Ihr Körper sich entspannt und schwer wird – ein Moment zwischen Tag und Traum. Irgendwo in der Ferne hören Sie Musik. Ein Kinderfest. Farbige Ballons segeln am Himmel über Sie hinweg: rote, grüne, blaue, weiße, gelbe. Ein Ballon ist besonders groß und transparent. Er landet neben Ihnen und lädt Sie ein mitzufahren. Überrascht, aber neugierig steigen Sie ein. Sie machen es sich in diesem transparenten Ballon bequem, der nun sanft abhebt und hoch über der Landschaft dahinschwebt. Er gehorcht jedem Ihrer Gedanken. So steigen Sie höher, um die Welt von ganz oben zu betrachten: die Wiesen, Wälder, Straßen, Dörfer und Städte, ja ganze Meere können Sie überblicken. Wenn Sie möchten, können Sie die Welt sogar aus der Perspektive der Raumfahrer sehen. Dann ist Ihre Wiese irgendwo ganz weit unten zunächst noch als kleiner grüner Punkt und später gar nicht mehr auszumachen. Reisen Sie eine Weile in Ihrem Ballon über die Erde, mal höher, mal tiefer. Betrachten Sie die Kontinente und Meere, die Seen und Berge und die Planeten um Sie herum. Schweben Sie so lange in Ihrem Ballon, bis Sie meinen, es sei Zeit zurückzukehren.Der Ballon setzt Sie jetzt sanft auf Ihrer Wiese ab. Dort liegen Sie – aufgewacht aus einem Traum in einem Traum. Lassen Sie die Reise noch ein wenig nachklingen. Nun atmen Sie tief ein und aus! Stellen Sie sich vor, dass Sie herrlich erfrischt und belebt sind, wenn Sie sich gleich erheben. Recken und strecken Sie sich. Rollen Sie sich dann in die Seitenlage, um schließlich über alle Viere aufzustehen.
2 Diese Übung ist das Kontrastprogramm zur vorherigen. Gehen Sie dafür einmal bewusst dorthin, wo Sie sich normalerweise nicht aufhalten. Wann haben Sie sich zum letzten Mal in einem Umfeld befunden, das mit Ihrer Arbeit etwas zu tun hat, aber mit dem Sie in Ihrem Berufsalltag normalerweise nicht in Berührung kommen? Ein Beispiel zeigt, dass sich hierbei völlig neue Horizonte auftun können: Bei einem Treffen mit hochkarätigen Managern einer ganzen Branche, die ich hier nicht nennen kann, weil das zu peinlich wäre, wurden ganz normale, ganz alltägliche Werbespots vorgeführt. Die Herren waren amüsiert: „Nein, unglaublich, so etwas sehen sich die Menschen an?!“ Die Herren – es hätten natürlich auch Damen sein können – hatten noch nie erfahren, wie das Leben ihrer Zielgruppen wirklich ist. Wie sieht es mit Ihnen aus? Wie nah stehen Sie an der Realität der Mitarbeiter Ihrer Branche? Wann haben Sie sich zuletzt in der Produktion, bei der Entsorgung oder im Betrieb eines Lieferanten umgeschaut? Wann waren Sie dort, wo Ihre Zielgruppen sind? Die wachsende Distanz zwischen unserer Arbeit und dem Alltag unserer Mitarbeiter und Zielgruppen führt dazu, dass unser Handeln abstrakt wird. Es scheint uns, als wäre es eine Vereinfachung, wenn wir die komplexen Strukturen ausblenden. Allerdings rächt sich das durch einen zunehmenden Grad an Unwirklichkeit.Bei Toyota ist es üblich, dass jeder Mitarbeiter in der Produktion in den Jobs rotiert. So bekommt er oder sie die Chance, die unterschiedlichen Perspektiven der Produktionsprozesse kennen zu lernen – und dabei zu optimieren. Nachdem bei Coca Cola in den USA die Idee geboren worden war, die Brause müsse in Deutschland auch in Schulen verkäuflich sein, winkte der damalige Deutschland-Repräsentant milde lächelnd ab: „Cola geht nicht in deutschen Schulen.“ Sein amerikanischer Kollege ließ nicht locker. Er fuhr selbst nach Deutschland, um Schulen zu besuchen. Halb englisch, halb deutsch radebrechend schaffte er es tatsächlich, Schulen als Abnehmer der Limonade zu gewinnen – ein Durchbruch.Das zeigt: Als Schreibtischtäter verlieren wir nicht nur den Kontakt zum wirklichen Leben, wir verlieren auch die Fähigkeit, die lebendige Dynamik der Wirklichkeit als Wasser auf unsere Mühlen zu leiten.