Читать книгу Dein Job ist es, frei zu sein - Paul J. Kohtes - Страница 7
Vorwort
Der eine Weg
ОглавлениеZen ist die Kunst des achtsamen Lebens im Augenblick, und zwar nicht in verkrampfter Anstrengung, sondern in humorgetränkter Gelöstheit. Zen verabscheut begriffliche Abstraktionen und bevorzugt hingegen die Anekdote, den intuitiv hingeworfenen Pinselstrich, das kunstvolle Blumenarrangement, die schweigsame Teezeremonie, die sorgfältig angelegten Steingärten, um zu sagen, was zu sagen ist. Denn Zen ist sinnlich konkret und durchschaut das begrifflich abstrahierende Denken als Projektion eigener Bewusstseinsformen. Wer denkt, projiziert. Wer projiziert, begegnet nicht der „Wirklichkeit“, sondern dem, was in seiner Erfahrung als Denkstruktur und Gefühlsmuster Gewohnheit geworden ist, er begegnet also dauernd sich selbst bzw. dem, was er dafür hält. Das gilt natürlich nicht nur für „ihn“, sondern auch für „sie“. Da wir dabei sind: Ist Zen „männlich“ oder „weiblich“? Starre Sitzhaltung, unbeugsamer Wille, hartes Training – männlich also? Loslassen, Hingabe der Vorurteile und der Leibesverspannung, empfangen lernen – weiblich also? Zen ist wohl androgyn: die aktive Passivität und die passive Aktivität, das chinesische wu-wei, Handeln im Nicht-Handeln, Denken des Nicht-Denkens, wie es bei dem japanischen Zen-Meister Hakuin (1686 - 1769) heißt.
Zen ist Praxis, nicht Theorie. Aber jede Praxis bedarf einer Theorie, um nicht blind zu sein. Nur ist die Zen-Theorie keine Metaphysik, sondern die genaue Wahrnehmung, Beobachtung Sammlung der sinnlichen Kräfte, der Physis also. Zen schmeckt, riecht, fühlt, hört und sieht man. Zen ist der Klang der Stille, das Gelächter des Witzes, der Duft von Reisstrohmatten und Räucherwerk, der Anblick des gesammelten Geistes und vor allem: das Gespür für den Atem. Nirvana ist nicht ein Zustand am Ende der Zeiten, sondern eine Bewusstseinsintensität, die hier und jetzt erlebt werden kann, wenn sich der gesammelte Geist dafür öffnet. „Dieser Ort ist das Lotos-Land, dieser Körper ist der Buddha-Körper“, heißt es weiter bei Hakuin.
Gewiss ist Zen eine besondere Schule des Buddhismus, die in China entstanden, dann nach Korea, Japan und nach Südostasien gekommen ist, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch nach den USA, Europa, Kanada, Australien, Südamerika und Afrika. Zen ist geprägt von seinen Ursprungskulturen in Asien, wobei nicht nur der Buddhismus als Vater des Zen zu gelten hat, sondern – als Mutter gleichsam – die taoistische Praxis und Lebensphilosophie. Zen kann sich kauzig, manchmal verschroben, jedenfalls quer und unbequem geben, es hat aber in der Geschichte auch höfische Literatur hervorgebracht und den Glanz der politischen Macht gesucht. Zen hat in bäuerlichen Schichten geblüht und ist dann vom chinesischen Adel entdeckt und wohl auch korrumpiert worden. Ähnliches trifft auf die Entwicklungen in Japan zu. Zen ist aber mehr als diese wechselvolle Geschichte, denn immer hat Zen die Kraft gefunden, sich aus dem urwüchsigen Geist seines Ursprungs zu regenerieren und mit verblüffender Direktheit die Wahrheit zu sagen, die Hohlheit des kulturellen Firnis anzukratzen und auf das Wesentliche des Menschseins hinzuweisen, nämlich auf die Frage: Wer sind wir eigentlich? Die betreffende Zen-Frage heißt: Was war dein Antlitz vor der Geburt deiner Eltern? Diese Frage und jede Suche nach Antwort kennt keine kulturellen Grenzen. Jede spekulative Antwort wird von den Zen-Meistern mit einer Ohrfeige quittiert; die Antwort muß vielmehr existenziell sein, aus eigener Erfahrung kommen. Was heißt das? Aus der Erfahrung des Umgangs mit dem eigenen Bewusstsein.
Zen zeigt auf die Kostbarkeit jedes Augenblicks, keine Minute des Lebens sollen wir in unachtsamer Torheit vertun, sondern aufmerksam das Schöne genießen und das Hässliche betrachten als das, was es ist. Zen erkennt auch in einem Haufen Dreck ein wunderbares Stück Wirklichkeit, und „jeder Tag ist ein guter Tag“. Zen-Meister Lin-chi (jap. Rinzai), der im 9. Jahrhundert in China lebte und eine der großen Zen-Schulen nicht nur geprägt, sondern ihr auch den Namen gegeben hat, mahnt: „Verehrte Mönche (und Nonnen und natürlich auch Laien und Laienanhängerinnen), man muß die Zeit für wertvoll erachten. Nur einfach bei anderen eifrig Zen lernen, die Weisheit lernen, an Namen und Worten anhaften, nach Buddha suchen, nach Patriarchen suchen, nach guten Lehrern suchen und auf diese Weise Unterscheidungen machen – begeht ja nicht diesen Fehler! Wahrheits-Suchende, für euch gibt es nur einen Vater und eine Mutter. Was sonst wollt ihr suchen? Schaut doch auf euch selbst!“ (Rinzai roku) Vater und Mutter, das ist die eigene Buddha-Natur, das klare Bewusstsein, in dem die Einheit der Widersprüche erfahren wird, ein Bewusstsein, das jeder in sich erwecken kann. Wenn er aus dem Schlaf der Unklarheit und trüben Vorstellungen erwacht, wird er ein Erwachter („buddha“) genannt. Jeder Mensch hat die nötigen Anlagen dazu.
Zen kann man nicht aus Büchern lernen. Doch erfahrungsgesättigte Bücher können ein Fingerzeig sein, der uns Anregung für die eigene Lebenspraxis gibt. Im Zen heißt es, dass man dann allerdings den Finger, der auf den Mond zeigt, nicht mit dem Mond verwechseln darf. Der Leser möge selbst erfahren, ob und wie das vorliegende Buch zu einem Finger für ihn wird. Nie stehen bleiben jedenfalls und für heilig gehaltene Wahrheiten wiederholen, sondern das alltägliche Leben mit dem Geist der Achtsamkeit und der meditativ erfahrenen Einheit durchdringen. Das Leben selbst stellt uns immerzu Aufgaben, die den Zen-Weg ausmachen. Im Umgang mit uns selbst, mit anderen Menschen, in unserem Beruf, im Eingebettetsein in der Natur, in allem ist Zen. Und, wie gesagt, mit Humor. Warum? Weil der Humor Abstand gewährt. Im Humor schauen wir mit einem gütigen Lächeln auf die Kleinlichkeit unserer alltäglichen Angelegenheiten, wir spüren dann, dass es eine Ebene der Wirklichkeit gibt, die unsere Probleme, Schrullen, Wichtigkeiten transzendiert. Genau das tut Zen, aber nicht indem es vom Boden abhebt, sondern indem es den Boden mit äußerster Genauigkeit beobachtet und umpflügt.
Zen kümmert sich um die Verdichtung des Alltags, nicht um das Räucherwerk am Sonntag, um das konkrete sinnliche Erlebnis, nicht um die leere Abstraktion des Gedankens. Zen ist ein Lebensweg, der so viele verschiedene Formen annehmen kann, wie es Menschen gibt, die ihn gehen, und doch ist es immer der eine Weg.
MICHAEL VON BRÜCK