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Heinrich Gundermann hat die Nachricht von seinem Tode auf einem Umweg geschickt. Das zusammengefaltete Papier mit der blauen Depeschenmarke liegt schon seit zwei Stunden in dem Briefkasten einer Junggesellenwohnung, die sich zwischen vierzig Kleinbürger-Quartieren einer Steglitzer Mietskaserne eng und scheu eingenistet hat. Ihr Inhaber, Herr Oskar Gundermann, sitzt noch hinter der grossen Scheibe eines Kaffeehauses und spielt die letzten Trümpfe dieses Nachmittagsskats aus. Dann endlich trennt er sich und geht wehmütig nach Hause, an den ratternden Strassenbahnen vorbei, vorbei an heftig, mitleidlos lärmenden Kindern, an grell beklebten Vorstadtgeschäften, die den Einwohnern verkünden: Ihr braucht nicht in die Stadt zu fahren, um Mäntel, Hüte, Hemden und Regenschirme zu kaufen. Kauft bei uns! Unterstützt den Nachbarn! Den Steglitzer Gewerbetreibenden!

Und an den schiefgestellten Spiegelscheiben der Auslagen begegnet Oskar Gundermann seinem eigenen Bild. Nein, es ist nicht erfreulich, wiewohl eine gewisse, längst abgenutzte Fröhlichkeit um die Augenwinkel an den frischen, ewig jungen, grossen Bruder Robert erinnert. Aber die Augen selbst sind weniger blau und weniger hart, der Schnurrbart lässt sich immer trüber zu den Mundwinkeln herab, und die Haut der Wange ist nicht prall und gerötet, sondern hängt lasch und faltig an den Knochen. Oskar Gundermann denkt auch heute an seinen Anzug. Er sieht genau jene feinen Merkmale, die schiefgeschnittenen Jackentaschen, die schwarzen Einfassungsborten, mit denen sich auch dieser Anzug in der Blüte seiner Entstehung von anderen Anzügen zu unterscheiden versuchte. Aber die Mode ist mit Riesenschritten vorwärtsgeschritten, und zurück blieb eine abgegriffene, verschollene Geckenhaftigkeit.

Und dann das Bäuchlein. Wie kam es und woher? Hatte man so reichlich zu essen, musste man sich nicht mit einem sehr gewissen Taschengeld begnügen, das in aller Oeffentlichkeit die Firma Robert Gundermann und Sohn mittels Postanweisung nach Steglitz sandte? Postanweisung für was? Ja, war man nicht Onkel, hatte man nicht das Talent gehabt, die schnurrigsten Geschichten zu erzählen? Hatte man nicht Bonbons in den Taschen für die Kinder und eine Zärtlichkeit auf den Lippen für die Frauen?

Oskar Gundermann schreitet die Fenster eines Warenhauses ab. Da ist eines in seiner ganzen Höhe und Breite gefüllt mit Aschbechern, Zigarrenabschneidern, Lesezeichen — alle von demselben Muster mit dem Eisernen Kreuz. Onkel Oskar schiebt die Unterlippe in die Höhe — Gundermann, Gundermann; wahrscheinlich lauter echte Gundermanns. Aber, lieber Gott, ist das wirklich das Ziel eines wohlgefälligeren Lebens als das meine? Ich will meinen Bruder bei Ihnen nicht anschwärzen, er ist vortrefflich, unterstützt mich, und ich verkenne die Wohltat keinen Augenblick. Er arbeitet, er hat eine überlegene Intelligenz, einen scharfen Blick, er meistert sein Schiff — aber dieser Aschbecher, ist er das Erzeugnis eines Geistes, der es sich erlauben darf, mir mit einer noch so freundlichen Herablassung zu begegnen? Es ist wahr, es lässt sich nicht leugnen: auch ich lebe von diesen Aschbechern, von dieser überlegenen Intelligenz, von dieser Augenschärfe! Aber — bin ich schon talentlos — würde ich nicht vielleicht besser leben, wenn Seine brüderliche Gnaden es noch ein bisschen weiter gebracht hätten? Ist eine Mietswohnung mit acht Zimmern das höchste der Ziele, selbst am Kurfürstendamm, selbst mit Zentralheizung? Oder wie, hätte sich nicht mein eigenes schwaches Daseinchen ganz anders entwickeln können, wenn des hohen Bruders Kraft und Zielbewusstsein sich auf etwas höherliegende Dinge gerichtet hätten? Ich will ihn nicht anschwärzen, lieber Gott. Aber man kann nicht wissen, und die Talentlosigkeit für Aschbecher beweist noch gar nichts ...

Als Onkel Oskar mit dem bescheidenen Abendbrot im Arm seine Wohnung betritt, findet er das Telegramm. Erst begreift er nicht und dann immer noch nicht. Es ist schon fast dunkel im Zimmer. Aber Onkel Oskar ist es noch zu hell. Er lässt die Rolläden herunterschnarren.

Nach einer halben Stunde macht er sich zum Ausgehen fertig. Unter dem grossen Bestande alter Kleidungsstücke hat er eines gewählt, das ernst genug ist und doch nicht auf einmal alles sagt. Dann aber nimmt er aus dem verschwiegensten Schubfach seines Schreibtisches die kleine verstaubte Nachbildung seines Eisernen Kreuzes von 70. Nein, er hat den Orden nicht getragen, auch nicht, wie so manche alten Herren, als der Krieg ausbrach. Aber heute soll er das Sprechen erleichtern. Und aus demselben Schubfach nimmt er einen weissen Brief, der Heinrichs Handschrift trägt.

Und wie er so zur Strassenbahn hinschlendert, geht ihm durch den Kopf: Sehen Sie, lieber Gott, es ist doch ganz gut, wenn einer in der Familie ist, dem man eine solche Nachricht ohne Vorbereitung vorsetzen kann, einer, der den Schlag verträgt! Ein Onkel sozusagen. Die Postanweisung macht sich schliesslich doch noch bezahlt.

Urlaub von der Liebe

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