Читать книгу Urlaub von der Liebe - Paul Schlesinger - Страница 9

Оглавление

Als Gerhard Stein am nächsten Morgen im Frühstückszimmer erscheint, sitzt Oskar Gundermann schon beim Kaffee, hat die Spitze eines Eies abgeschlagen, auf dessen goldgelbem Dotter ein Sonnenstrahl liegt.

Ohne Förmlichkeit nimmt Gerhard Platz. Der Onkel seufzt.

„Es ist so merkwürdig — der Mensch trauert aufrichtig — aber der Magen nimmt nicht teil, verlangt sein Recht, die Zunge bleibt genäschig.“

„Konstanze hat schon das Richtige getroffen,“ meint Gerhard Stein. „Nur der Tote ist der Sorgen ledig. Gott will es nicht, dass wir den Toten ins Grab nachspringen. Also müssen wir an uns selbst denken.“

„Nun ja, Herr Stein. Ich vertrete ja auch nur die Ansprüche der Lebendigen. Und ich danke Ihnen, dass Sie meine Bitte bei Konstanze unterstützten.“

„Es war mir selbstverständlich, dass sie wenigstens für kurze Zeit nach Berlin geht. Dann wollen wir schon weiter sorgen.“

„Aber wie, Herr Stein? Sie sind vom Bau, Ihre sachverständige Ansicht ist natürlich von hohem Wert für uns.“

Stein senkt die Augenlider, als denke er nach. Und Oskar Gundermann fährt fort:

„Ich sagte schon gestern — ich habe auch eine gelinde Ahnung vom Theater, und wenn ich gestern Konstanze als ein grosses, wenn auch nur vielversprechendes Talent gefunden hätte — dann gäbe es eigentlich gar keine Fragestellung. Von einem solchen Talent aber kann nicht die Rede sein, nicht einmal von einer unbändigen Theaterlust. Innerer Zwang, äusserer Zwang — wie Sie wollen, — Heinrichs Fehler bleibt unverbesserlich. Eine Gabe hat Konstanze sicher: die, Menschen für sich zu gewinnen. Mit einem ordentlichen Zuschuss hätte er Konstanze von der Bühne in die Häuslichkeit setzen können. Dann wären auch die Kinder gekommen. Ich sage natürlich nicht, dass eine Fünfundzwanzigjährige ihr Leben vertrauern soll — aber alles andere hätte sich leichter, natürlicher entwickelt.“

Gerhard Stein blickt ruhig vor sich hin, während er sein Brötchen streicht, in das er nun mit den grossen gelben Zähnen hineinbeisst.

Oskar Gundermann wird unruhig. „Mir ist immer so, als ob Sie mir etwas verschweigen, Herr Stein.“

Stein sieht Oskar sehr ernst an — die grauen Augen in dem gegerbten Gesicht leuchten nicht lebhafter. Aber er scheint sich zu einem Lächeln konventioneller Art zwingen zu wollen.

„Verschweigen? Du mein Gott, Herr Gundermann, ein Menschenherz ist eine komplizierte Angelegenheit, und wenn ich Ihnen meine Auffassung klar machen würde, ich weiss selbst nicht, ob sie die richtige ist. Eines freilich möchte ich sagen.“ Und er dämpft seine Stimme. „Eine Ehe zwischen Theaterleuten darf man nicht zu ernst nehmen —“

Der Onkel lehnt sich auf.

„Wissen Sie, Herr Stein, ich bin vielleicht ein Philister, aber ich habe bei Theaterleuten Ehen gefunden, die den Vergleich mit jeder bürgerlichen —“

„Nun ja — nun ja — das gibt’s.“

„Und überdies, Heinrich, der war ja gar nicht Theatermensch. Der war doch überhaupt bloss ein ausgesetztes Kind, wenn Sie wollen — ein an die Kunst verlorengegangenes, sehr bürgerliches Bürgerkind — und in seinem Temperament schwer und nachdenklich.“

„Nun ja, Herr Gundermann. Weil er das war, deshalb heiratete er ja. Denn — das braucht nicht verschwiegen zu werden — es sollte ein Kind kommen, und für dieses Kind durfte Konstanze nicht nein sagen. Sie heirateten, aber das Kind starb kurz nach der Geburt.“

„Ich habe mir schon so was gedacht.“

„Ich will übrigens gegen diese Ehe nichts sagen; aber der Tod hat sie gelöst, Konstanze steht allein, man tut besser daran, keine künstlichen Zusammenhänge zu konstruieren.“

Onkel Oskar zündet sich die Morgenzigarre an.

„Das will kein Mensch. Aber wir haben hier das Vermächtnis des Toten, das will erledigt sein. Ich frage einfach, wie kann Konstanze geholfen werden?“

Gerhard Stein spricht nicht sofort. Oskar Gundermann glaubt, eine Aufregung hinter diesen festgefügten Zügen wahrzunehmen. Dann sagt Gerhard ruhig:

„Ich habe kein Vermächtnis zur Hand, kein schriftliches, aber ich habe auch nachgedacht und eine historische Entwicklung herausgefunden. Konstanze ist vor fünf Jahren von Hause weggelaufen und hat mit ihrem hübschen Gesicht und einer leidlich musikalischen Veranlagung im Chor Aufnahme gefunden. Das meiste ist ihr angeflogen, Rollen lernte sie bei Heinrich. Ich bin auch der Ueberzeugung, dass ihre Operettenlaufbahn die mögliche Höhe bereits erreicht hat. Die Stimme ist eben zu schwach, zu ungebildet, und daher schon verdorben. Aber da Sie sie gesehen haben, wissen Sie, dass ihre eigentliche Begabung in ihrer Persönlichkeit selber liegt, und dass vielleicht nicht viel dazu gehört, sie für die Schauspielbühne heranzubilden. Ich bin ein Regisseur von alten Erfahrungen, nehme an meinem Theater eine Stellung ein, die mir ermöglicht, Konstanze eine kleine Gage zu verschaffen. Und dann werde ich sie langsam weiterbilden, dass sie am Ende einige Befriedigung findet. Sie werden zugeben, dass eine solche Linie der Entwicklung die einzig mögliche ist.“

„Sie haben vielleicht recht, Herr Stein — und Konstanze ist einverstanden?“

Da zuckt der breite Mund Steins wieder mal.

„Konstanze ist nie einverstanden — aber die Notwendigkeiten gehen ihren Gang.“

In diesem Augenblick tritt Konstanze von der Strasse herein. Sie kommt in einem tiefblauen Kostüm, hat auf den dunkelblonden Haaren ein einfaches schwarzes Hütchen. Oskar Gundermann sieht sofort: heute hat sie keine Mittelchen angewendet. Die Haut mit den sichtbaren Poren ist bleich, unter den Augen kleine Fältchen der Uebermüdung, aber der Mund hat auch genug natürliche Frische. In der Hand trägt sie ein paar dunkle Nelken, die sie vor Oskar hinlegt.

„Ich danke Ihnen, Konstanze — setzen Sie sich — darf ich Ihnen etwas anbieten?“

„Ich habe schon Kaffee getrunken, höchstens einen Kognak ...“

Oskar Gundermann will die entscheidende Frage noch nicht stellen, sucht von Gleichgültigem anzufangen. Aber Konstanze schneidet ab:

„Ich habe eben bei dem Direktor meine Entlassung genommen. Meine Koffer sind gepackt, mit dem Mittagszug fahren wir nach München, wo ich einige Trauersachen kaufen will. Und dann mit Ihnen nach Berlin ...“

„Wann hast du denn gepackt, Konstanze?“ fragt Gerhard.

„Heute nacht — aber ich muss dich bitten, noch einiges für mich zu besorgen. Sie sind mir nicht böse, wenn ich Herrn Stein auf eine Stunde Ihrer Gesellschaft entziehe.“ — —

Oskar Gundermann hat seinem Bruder telegraphisch die bevorstehende Abreise mitgeteilt. Sein Köfferchen ist auch bereit, und nun schlendert er noch die Stunde bis zum Zuge im Ort umher. Er hat sich kaum gemerkt, wo Konstanzens Wohnung ist. Und ohne recht zu denken, geht er unwillkürlich den Weg, den er gestern abend an Gerhard Steins Seite ins Hotel zurückgegangen ist. Und plötzlich steht er vor einem Hause, dessen Vorgärtchen ihm wegen des bizarren Gitters im Gedächtnis geblieben ist. Es ist ihm peinlich, ohne Willen diesen Weg gegangen zu sein.

Er möchte hier nicht beobachtet werden und will sich zur Seite wenden. Stimmklänge halten ihn zurück. Stimmklänge hinter geschlossenen Fenstern. Ein dunkles Bitten eines Mannes und Konstanzens helle, zornige Abwehr.

Oskar Gundermann schüttelt den Kopf. Dann trollt er weiter.

Auf dem Bahnhof belegt er die Plätze. Als Konstanze erscheint, ist sie allein mit geringem Handgepäck. Noch um einen Schatten bleicher. Und mit unsicherer Stimme sagt sie: „Gerhard Stein lässt sich Ihnen empfehlen.“

Als der Zug sich in Bewegung setzt, lehnt sie sich tief zurück. Oskar Gundermann sieht, dass sie mit Tränen kämpft. Aber er sagt nichts und nimmt die Zeitung vor.

Konstanze ist eingeschlummert; nun lässt er das Zeitungsblatt sinken und sieht hinüber. Sie ist erschöpft — von was? Erregung? Wer ist Gerhard Stein?

Im Schlummer hält sie die grosse silberne Tasche fest, fest im Schoss. Er lächelt. Schauspielerinnen haben immer so einen kleinen Koffer bei sich. Da sind die Geheimnisse drin. Die grossen und die kleinen.

Oskar fühlt: er reist mit einem Bündel von Geheimnissen. Wie wenig scheint das Wort: „Heinrich war verheiratet.“ Und jetzt ein grosses Durcheinander von wilden, sich widersprechenden Tatsachen. Wie schrieb er noch? „Meine Frau ist am Theater —“ — „ist am Theater“. Man denkt: ein kleines Hascherl oder ein Talent — nichts von dem: eine ausrangierte junge Dame. Soll man sie wieder einrenken? Wird es sich lohnen? Kann sie es sich gefallen lassen?

Er schaut hinaus auf die vorbeigleitende grüne Landschaft. Man rutscht im Lehnstuhl über die Wiese, der alte Mann, das junge Weib. Weit haben wir’s beide nicht gebracht, Konstanze. Ich bin dem Ende näher. Du aber hast den weiten Weg, der zu nichts führt. Armes Menschenkind! Schlaf’ — das beste noch. Gestern hat sie gewacht, mit festem Sinn Entschlüsse gefasst, gepackt. Dann die Unterredung mit dem Direktor, die Anordnungen. Nun ist Schlaf alles, im Schlaf zu Hause sein — zu Hause auf einer dunkeln, ungewissen Fahrt.

Wenige Stationen vor München erwacht sie mit einem Kinderlächeln.

„Sie verzeihen, Herr Gundermann —“

„Wenn Sie nur gut geschlafen haben, Konstanze, Sie sehen noch so müde aus.“

Konstanze blickt hinaus.

„Die Nacht mit dem Packen war nicht so schlimm. Aber eine Stunde voller Aufregungen!“

Oskar fragt vorsichtig: „Herr Stein?“

Sie zieht die Lippen ein: „Er will mir wohl. Er glaubt, ich hätte kein Geld, und wollte es mir aufzwingen.“

„Sie haben recht, Konstanze, dass Sie es nicht genommen haben. Ich trage genug bei mir, um alle Ihre Wünsche zu befriedigen.“

Sie schüttelt den Kopf.

„Zunächst wird es ja reichen.“

Und leise fügt er hinzu: „Nicht überall kann man nehmen, ohne sich zu verpflichten.“

München. Oskar Gundermann muss sich in den Kaffeehäusern herumtreiben, bis Konstanze das Notwendige besorgt hat. Erst auf dem Bahnhof wollen sie sich zum Nachtzug treffen. Er steht schon an der Schranke und wartet und erkennt nicht die schlanke Frau im tiefschwarzen Schleier.

„Da bin ich, Herr Gundermann.“

„Mein liebes Kind —“

Ihre Augen sind so warm.

„Erst kam mir das Ganze vor wie eine Maskerade. Nun aber fühle ich mich doch hinter meinem Schleier geborgen. Und es ist gut, dass ich nun Zeit habe, zurückzudenken. Auch ein Kleid gibt uns Schutz für unsere Gefühle. Ich habe es nie geglaubt —“

Urlaub von der Liebe

Подняться наверх