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4 Magie fremder Länder Tartessos

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Wenn erst Andalusien seinen Schliemann findet, dann wird die Kultur des alten Tartessos auferstehen, glänzend und überraschend wie die von Kreta in den Palästen von Knossos und Phaistos.

(Adolf Schulten)

Seit jeher strahlten ferne, poetisch verklärte Länder eine enorme Anziehungskraft aus. So wie der eigene, überschaubare Lebensbereich ein spezifisches Lebensgefühl erzeugte, so sehr war man sich bewusst, dass unterschiedliche Lebensformen ebenso eigens dafür passende Räume erforderlich machten. Diese lagen allerdings meist außerhalb der Reichweite der heimatlichen Umgebung. Man erahnte diese mehr, als dass man sie wirklich kannte. Sie bildeten den Stoff für Mythos und Phantasie. Mit der Erschließung des Meeres rückten sie aber auf einmal deutlich näher zusammen, sie wurden bekannt und begehbar. Mit dessen Zugänglichkeit trat eine Änderung des Wahrnehmungshorizontes ein, die enorme unternehmerische Energien freisetzte und dabei neuartige Raumperspektiven eröffnete. Die Bewältigung großer Wegstrecken hat die Isolation weit entfernter Orte plötzlich aufgehoben und die Kulturländer des östlichen Mittelmeerbeckens mit den unbekannten Territorien des Westens enger verzahnt. Damit ist der Weg für einen intensiven zivilisatorischen Transfer gebahnt worden. Die Entdeckung von Tartessos durch Phönikier und Griechen war ein Ergebnis davon und schon bald entstanden sagenumwobene Geschichten um diese außerhalb der vertrauten Lebenskreise liegenden Gebiete. Mit der legendären Gestalt des tartessischen Herrschers Arganthonios verband sich die Vorstellung eines Eldorado, eines an Silber und Edelmetallen reichen Landes im äußersten westlichen Winkel der Mittelmeerwelt.64 Die antiken seefahrenden Völker besuchten regelmäßig die Region, legten an deren Küsten Stützpunkte an, trieben Handel, knüpften Kontakte mit den dortigen Oberschichten und trugen dazu bei, die Potenziale des Landes allgemein bekannt zu machen und das bis dahin in sich gekehrte Tartessos aus dem Dornröschenschlaf wachzurütteln.

Nur wenige antike Namen sind derartig mit Elementen der Legende durchsetzt wie dieser, bis in die jüngste Vergangenheit eifrig gesuchte Ort. Der besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachwirkende „Schliemanneffekt“ beeinflusste in hohem Maße die Vorstellungen der Gelehrten, die sich in Analogie zu Troja Tartessos als eine unter dem Erdboden verborgene, mächtige und nicht minder geschichtsträchtige Stadt dachten. Daher traute man dem unauffindbaren Ort ein ähnlich dramatisches Schicksal zu, das im Zuge einer Eroberung und anschließenden Zerstörung wie ein Naturereignis gekommen sein musste. Bestimmte bis vor kurzem die Suche nach diesem einen Platz den Blickpunkt der Forschung, so hat sich neuerdings ein spürbarer Wandel vollzogen.65 Die lange vorherrschende Fixierung auf einen als verschollen geltenden Ort ist, bedingt durch die Neubewertung der archäologischen und historischen Quellen, in den Hintergrund getreten. Es gilt als gesichert, dass die im Südwesten der Iberischen Halbinsel zu verortende tartessische Region (ihr Kerngebiet lag in den heutigen Provinzen Huelva, Cádiz und Sevilla), die wegen ihres Reichtums an Silber, Eisenerz und Kupfer begehrt war, seit alters her Kontakte mit den Ländern des östlichen Mittelmeeres unterhielt. Ob allerdings einige Erwähnungen von Tarschisch im Alten Testament auf diese Gegend zu beziehen sind, bleibt fraglich.66 Jedenfalls lässt sich ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. ein Kranz phönikischer Niederlassungen auf tartessischem Boden archäologisch dokumentieren, der tiefgreifende Akkulturationsprozesse auslöste und gleichzeitig einen ökonomischen, sozialen und politischen Umbruch in der indigenen Gesellschaft bewirkte. Über diese in Küstennähe errichteten Siedlungen wurde der wichtigste Teil der Kontakte zur Außenwelt abgewickelt.

Im Verlauf des 6. Jahrhunderts v. Chr. lässt sich ein Erlahmen der phönikischen Aktivitäten im südhispanischen Raum beobachten und damit verbunden eine Veränderung der Lebensbedingungen im Tartessosgebiet. Zwei Faktoren weisen darauf hin. Zum einen die Aufgabe einer Reihe phönikischer Niederlassungen an der andalusischen Küste, die von da an einen Bruch in der Belegungskontinuität aufweisen (die oben genannte Niederlassung von Toscanos wäre ein solcher Fall)67; ferner ergeben zahlreiche Grabungsbefunde einen spürbaren Wandel der materiellen Kultur, charakterisiert durch den auffälligen Mangel an den früher so häufigen Bronzegegenständen, was eine Verarmung der örtlichen Oberschichten anzeigt gegenüber den reicheren Materialien aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Zur Deutung dieser Sachlage werden unterschiedliche Denkmodelle erwogen.68 Dabei sollte man von monokausalen Erklärungsversuchen absehen, die keine befriedigende Lösung des Problems bieten können, sondern höchstens Stoff für weitere Hypothesen liefern. Eine solche Vermutung wäre die gelegentlich vertretene Ansicht, dass von Karthago die Initialzündung zum Untergang der tartessischen Zivilisation ausging; eine Annahme, die ohne jede Beweiskraft ist.69 Die Spur, die einen politischen Wandel in Tartessos anzeigt, lässt sich in groben Umrissen anhand der schriftlichen Quellen verfolgen. Die ältesten griechischen Gewährsleute kennen den bereits genannten basileus Arganthonios, der im 6. Jahrhundert v. Chr. wirkte, und dem übereinstimmend eine beherrschende Stellung zugeschrieben wird.70 Unabhängig davon, wie man seine staatsrechtliche Stellung bewertet (ob als Synonym für eine Dynastie oder als Herrscher eines größeren Territoriums oder als Leiter einer regionalen Stammeskonföderation) – entscheidend ist, dass er als Oberhaupt einer politischen Einheit erscheint. Dass Tartessos stets als Bezeichnung für eine Kulturregion steht, ist ebenfalls unserer ältesten Überlieferung zu entnehmen.71 Sie bestand aus einer Vielzahl von Siedlungen und Stämmen, die sich unter Einschluss des Guadalquivirtales von der heutigen Provinz Huelva nach Westen hin ausdehnten. Arganthonios ist bezeichnenderweise der letzte tartessische Regent, von dem wir Kunde haben.72 Dass er keinen Nachfolger fand, hängt nicht mit der lange Zeit vertretenen Katastrophentheorie zusammen, wonach Tartessos untergegangen sei, sondern sein Verschwinden stand mit dem Ende einer historischen Etappe in Zusammenhang, über die sich derzeit nichts Genaueres sagen lässt.

Während des 6. Jahrhunderts v. Chr. traten deutliche Transformationen im südhispanischen Raum auf. Davon blieben die phönikisch-tartessischen Beziehungen nicht unberührt. Als Folge interner und externer Faktoren (massaliotische Konkurrenz, Ausdünnung des tartessischen Bronzemarktes, Umorientierung auf die Silber- und Erzausbeutung, politischer Zerfall von Tyros, phokäische Westexpansion, keltische Einfälle) kristallisiert sich im Übergang des 6. zum 5. Jahrhundert v. Chr. eine veränderte wirtschaftliche und politische Lage heraus. Sie wies zwei unterschiedliche Schwerpunkte auf: Zum einen die Guadalquivirmündung mit Gades und Huelva als Knotenpunkte; zum anderen das Bergbaugebiet im Südosten (Almería, Murcia), das für die Zukunft vielfältige wirtschaftliche Aussichten eröffnete. Dieser Wandel umreißt die Ausgangssituation für die ersten Kontakte der Karthager mit der tartessischen Region, die keineswegs als Vorkämpfer der Westphöniker nach Südhispanien kamen. Karthagos Eintritt in die hispanische Geschichte hängt ursächlich mit dem Strukturwandel zusammen, der durch die römische Annexion von Sizilien und Sardinien eingeleitet wurde.73

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