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6 Politisierung des Meeres

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Trotz unbestreitbarer technischer Fortschritte im Schiffbau und in der Navigation spielte die Seefahrt während der Phase der Polisbildung und deren Konsolidierung als Instrument der Machtpolitik des Staates eine eher untergeordnete Rolle.101 Politische und wirtschaftliche Macht errang man vornehmlich durch Geländegewinne, militärische Erfolge wie die Einnahme von Städten, die Eroberung von Land oder die Ausbeutung der agrarischen und viehwirtschaftlichen Potenziale einer Region. Dem entsprechend verfuhr das persische Weltreich der Achaimeniden, als es sich daran machte, eine präzedenzlose Territorialherrschaft zu errichten. Ebenso handelten die expandierenden griechischen Poleis, wie etwa Sparta, Theben, Tarent oder Syrakus, um ihr Umland zu arrondieren oder zu vergrößern. Ähnlich waren Karthago in Nordafrika oder Rom vorgegangen, um sich den Großteil der italischen Halbinsel gefügig zu machen.

Die Vorstellung, wie Besitztitel, politische Verfügungsrechte über bewegliche und unbewegliche Objekte beziehungsweise eine nennenswerte ökonomische Akkumulation von Ressourcen zu erlangen seien, kurzum die begriffliche Erfassung von Herrschaft, wurde bestimmt durch Eigentumsrechte an Land und Boden einschließlich der sich darauf befindenden Wertgegenstände und Menschen. Gezielte Einsätze von Kavallerie- oder Infanterieeinheiten waren die traditionellen Mechanismen, um Machtmittel zu erwerben; das heißt, Städte, Acker- und Weideland sowie Menschen samt ihrem Besitz lang-fristig auszubeuten und zu kontrollieren. Erst die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über landgebundene Güter formte das Konzept der Aneignung von politisch und gesellschaftlich relevanten Ressourcen als Synonym für Reichtum, Wohlstand, Macht und Herrschaft. Machterwerb und Machtausübung waren folglich orientiert am Land und dessen Erträgen. Das Meer blieb zunächst weitgehend außerhalb jener landgestützten Strategien der Herrschaftsbegründung.

Angesichts dieser auf das Land hin orientierten Evidenz muss man nach der Bedeutung und den Folgen der Beherrschung des Meeres fragen, die sich mit der Durchsetzung der athenischen Hegemonie im Verlauf des 5. Jahrhunderts v. Chr. ereignete.102 Der Historiker Thukydides gibt einige wertvolle Hinweise darauf. Hier finden wir zum ersten Mal den Gedanken ausgesprochen, dass die Machtstellung eines Gemeinwesens durch die Bündelung und den Einsatz maritimer Praktiken begründet werden konnte. Gewiss erfand Thukydides nichts Neues, als er dies eher beiläufig vermerkte; vielmehr zog er lediglich eine Schlussfolgerung, die sich aus der Betrachtung der spezifischen Voraussetzungen der maritimen Machtentfaltung Athens aufdrängte.103 Selbstverständlich gab es, lange bevor Athen nach Beendigung der Perserkriege (480 v. Chr.) über die Ägäis gebot, andere griechische, phönikische oder etruskische Staaten, die vergleichbar große Flotten unterhielten, Seehandel und Piraterie trieben und sich im Kriegsfall als Angreifer oder Verteidiger zur See betätigten. Dennoch bestand ein fundamentaler Unterschied zwischen diesen Handlungsweisen und dem Verhalten, das Athen etwa ab der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. immer deutlicher an den Tag legte. Athen verfügte über eine gewaltige Kriegsflotte, die im Dauereinsatz gehalten wurde und wegen ihrer Omnipräsenz die Funktion einer ökonomischen Plattform, einer sozialen Instanz und einer politischen Waffe zugleich erfüllte. Beschaffenheit, Organisation und Verwendung der athenischen Seestreitkräfte spiegelten einerseits die demokratische Verfassung der Stadt wieder. Andererseits wirkten gerade die Flottenbesatzungen bei dem politischen Willensbildungsprozess entscheidend mit. Ohne Flotte hätte es keine Demokratie in Athen gegeben, beziehungsweise die von Perikles gelenkte demokratische Staatsordnung wäre ohne den Faktor Flotte als tragende Säule des Sozialkörpers der Polis undenkbar gewesen. Diese Zusammenhänge werden deutlich, wenn man sich die Rolle Athens während und nach den Perserkriegen vergegenwärtigt. Darüber erfahren wir Entscheidendes von Herodot, als er die Episode von der Räumung der Stadt angesichts des persischen Ansturms nacherzählt: Damals flüchteten die Athener aus ihrer von den Persern bedrohten Stadt, begaben sich nach Salamis im Vertrauen darauf, ihrem Schicksal eine günstige Wende geben zu können. Sie wurden in der Stunde der höchsten Not und Bedrängnis von ihren Schiffen aufgefangen, und mit deren Hilfe gelang es auch in der Bucht von Salamis, den Sieg über die übermächtig scheinenden Feinde davonzutragen.104 Danach kontrollierte die athenische Flotte den östlichen Mittelmeerraum, ohne fremde Konkurrenz zu befürchten. Sie bot den griechischen Städten Schutz vor dem persischen Weltreich und errichtete auf diese Weise eine auf die Beherrschung des Meeres hin gestützte Hegemonie in der Ägäis. Ihr Instrument war der Attisch-Delische Seebund, die gewaltigste Konzentration maritimer Ressourcen, welche die antike Welt bis dahin erlebt hatte.

Aus der Beobachtung dieser keineswegs selbstverständlichen Entwicklung lässt sich folgern, dass Athens maritimes Ausgreifen im Mittelmeerraum und darüber hinaus nach der Begründung des Attisch-Delischen Seebundes die Polis zum Meer hin prolongiert hat, ihre Grenzen verlängert und ihren Aktionsradius immens erweitert hat.105 Damit wurde nicht nur ein neues Element, nämlich das Wasser, als die weitaus wichtigste Schaubühne der athenischen Politik erschlossen und konstituiert, sondern durch die Ausweitung des Handlungsrahmens der Polis ein beträchtlicher Zugewinn an politischen Gestaltungsmöglichkeiten erzielt. Mit der Politisierung des Meeres begab sich die Stadt auf ein ungewohntes, bisher relativ vernachlässigtes und doch inkommensurables Betätigungsfeld. Politisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, die Ausdehnung des Wirkungskreises der Polis und damit die Aktivierung der Möglichkeiten, die das Meer als Quelle einer neuen Form von Herrschaftsausübung bot, die auf der Flexibilität und Schnelligkeit der militärischen Einsätze, auf der Kontrolle der Kommunikation der Schifffahrtsrouten sowie auf der Unabhängigkeit vom Land beim Erwerb von Ressourcen beruhte. Als die Polis der Athener am Ende des Peloponnesischen Krieges die Flotte verlor106, änderte sich zugleich deren politische und soziale Ausrichtung; es ist daran zu erinnern, dass die Landmacht Sparta den Krieg gegen Athen zur See gewann, ebenso wie später die römischen Bauernsoldaten die seefahrenden Karthager in ihrem eigenen Element schlagen werden. Der Verlust der Seeherrschaft schloss eine deutliche Verkleinerung des politischen Gestaltungsrahmens eines Gemeinwesens ein. Danach war Athen gezwungen, sich auf die Suche nach einem neuen Aktionsradius zu begeben, sich also politisch neu zu erfinden. Geblieben als Erbe der athenischen Machtentfaltung zur See ist aber das Phänomen der Politisierung des Meeres bis auf unsere Tage. Bereits im Altertum konnten sich jene Staaten, die über das Meer geboten, leichter als Großmächte behaupten (Karthago, Ptolemäerreich, Rom) als ihre ausschließlich auf Landbesitz angewiesenen Konkurrenten. Daran wird sich bis in die Neuzeit kaum etwas ändern. Erst die mit dem Aufkommen der ersten Flugzeuge möglich gewordene Erschließung des Luftraumes und danach des Weltalls haben neue Maßstäbe für die Beherrschung des Erdballs eröffnet.


Attisch-Delischer Seebund

Wie das athenische Beispiel eindringlich verdeutlicht, stellte die Kontrolle der Meere eine wesentliche Voraussetzung dar, um den eigenen Machtbereich gegen jede Anfechtung langfristig schadlos zu halten. Diese Lektion mühsam lernen musste Alexander der Große, der sie zu Beginn seiner Unternehmung gegen das Perserreich (334 v. Chr.) gründlich missachtet hatte, womit er beinahe gescheitert wäre.107 Der Verlauf seiner ersten Militäroperationen liefert wichtige Anhaltspunkte für das Ineinandergreifen und die wechselseitige Abhängigkeit von Land und Meer als gleichgewichtige Plattformen und strategische Faktoren von Machterwerb und -erhaltung. Jenseits des geschönten Bildes eines durchgängig erfolgreichen Draufgängers, das unsere antiken Autoren von Alexander zeichnen, gibt es eine nüchternere Einschätzung seiner überaus verwegenen asiatischen Kampagne. Sein Eindringen ins feindliche kleinasiatische Gebiet war mehr als riskant. Das Landheer blieb äußerst verwundbar, weil es einer entsprechenden seegestützten Unterstützung seiner Vorstöße weitgehend entbehren musste. Nach seinem Marsch durch Lydien, Karien und Ionien wird ihm in Milet die Grenze seiner operativen Fähigkeiten aufgezeigt, als er erkennen musste, dass die für die Aufrechterhaltung seiner Versorgungslinien unentbehrlichen Küstenregionen sich seiner Kontrolle entzogen. Angesichts der maritimen Überlegenheit seiner Feinde löste Alexander seine kleinere Flotte auf und gefährdete auf diese Weise zusätzlich seine logistische Basis – ein verhängnisvoller Fehler, der schleunigst korrigiert werden musste, um zu verhindern, dass seine im anatolischen Hochland stehende Armee nicht von der persischen Flotte in der Levante und den Truppen des Dareios III. im Osten erdrückt würde.108 Aus diesen Gründen hing Alexanders Schicksal an einem seidenen Faden. Trotz einiger spektakulärer Erfolge (Sieg am Granikos, Einnahme von Sardes und Halikarnassos) war es ihm nicht gelungen, die in seinem Rücken operierende persische Flotte auszuschalten. Kleinasien wandelte sich zum Schauplatz eines paradoxen Wettbewerbs um die Behauptung der wichtigsten Häfen, Navigationsrouten und Versorgungslinien zwischen dem makedonischen Landheer, welches das Meer fürchtete und der persischen Flotte, die ständig vom Land bedroht wurde. Damit entstand eine Pattsituation, die erst durch die Schlacht bei Issos (333 v. Chr.) aufgehoben werden wird. Ohne diesen Sieg hätte Alexander auf Dauer seine Position auf dem kleinasiatischen Festland nicht aufrechterhalten können. Erst ab diesem Zeitpunkt ergab sich eine veränderte geostrategische Lage, die von einem Gleichgewicht zwischen terrestrischen und maritimen Machtmitteln gekennzeichnet wurde. Nun kehrten sich die bisherigen Vorzeichen des Konfliktes um: Alexander erkannte die Bedeutung des Meeres als Instrument der Kriegführung an und zog folgerichtig nach Phönikien und Ägypten weiter, um sich die dortigen nautischen Ressourcen zu sichern, anstatt sich auf eine überstürzte Verfolgung des geschlagenen persischen Königs Dareios zu begeben. Ohne eine wirksame Kontrolle beider Elemente, Land und Meer, war weder der Krieg zu gewinnen, noch die dauerhafte Beherrschung des achaimenidischen Weltreiches möglich. Diese Einsichten werden von nun an Alexanders weitere Aktionen entscheidend bestimmen.

Ein abschließendes Beispiel, das auf die Endphase der hellenistischen Ära verweist, soll die bisherigen Überlegungen über Ursachen und Folgen der Politisierung des Meeres abrunden. Sein Protagonist war einer der prominentesten Vertreter der römischen Senatsaristokratie: Gnaeus Pompeius Magnus, renommierter Kriegsherr und Konkursverwalter der seleukidischen Monarchie.109 Angesichts der akuten Bedrohung der Meere, die aufgrund einer dramatischen Zunahme der Piraterie entstanden war110, erhielt er im Jahre 67 v. Chr. durch die lex Gabinia de bello piratico111 ein faktisch uneingeschränktes Seekommando, das hinsichtlich seiner Ausstattung und der Reichweite der damit verbundenen Vollmachten alle vergleichbaren Fälle bei weitem übertraf: Zehntausende Legionäre und Seestreitkräfte, zahllose Schiffe, sämtliche Häfen und gewaltige Hilfsmittel wurden Pompeius zur Verfügung gestellt, um das Mittelmeer von der Seeräuberplage zu befreien.112 Die Fülle der aufgebotenen Ressourcen deutet bereits an, dass keine kurzfristige regionale Aktion geplant war, sondern es um viel mehr ging. Beabsichtigt war die unwiderrufliche Beherrschung des Kernraumes des römischen Weltreiches in seiner Gesamtheit und auf Dauer.113 Lehrreich in diesem Zusammenhang ist eine Bemerkung Ciceros, die sich auf die Strategie des Pompeius im Bürgerkrieg gegen Caesar bezog, in der sich der zeitgenössische römische Staatsmann in einem Brief an Atticus folgendermaßen äußerte: Sein ganzer Plan ist der des Themistokles. Er (Pompeius) meint, wer das Meer beherrscht, der werde unbedingt den Krieg gewinnen. Darum hat er sich nie darauf versteift, Hispanien um seiner selbst willen zu halten; seine Hauptsorge ist immer gewesen, sich eine Seemacht zu schaffen. Wenn es soweit ist, wird er also mit einer gewaltigen Flotte auslaufen und nach Italien kommen.114

Doch nun zurück zu Pompeius Kampf gegen die Seeräuber: Parallel zur konzentrischen Eroberung wichtiger Küstenregionen des europäischen, afrikanischen und asiatischen Kontinents machte sich Rom damals erstmalig daran, das Meer zu kontrollieren, womit es ein Bindeglied errichtete, das die Entfernungen zwischen weit gelegenen Territorien verringerte und gleichzeitig eine Sicherheitszone entlang der Zentralachse seines Herrschaftsgebietes schuf.115 Ebenso ungewöhnlich wie die angestrebte Zielsetzung war die angewandte Methode, um diese äußerst ambitionierten Vorgaben zu erfüllen. Pompeius teilte den gesamten Mittelmeerraum in 13 Abschnitte, die der Aufsicht seiner Legaten unterstanden, deren Vollmachten sich sowohl auf das Land als auch auf das Meer zugleich erstreckten.116 Damit geschah nichts Geringeres als die erste großangelegte Vermessung des Meeres nach dem Modell der provinzialen Raumgewinnung, beziehungsweise Grenzziehungen, bei der das nasse Element wie eine feste Landmasse betrachtet und analog dazu parzelliert wurde. Indem landbezogene Kriterien auf das Wasser Anwendung fanden, ging eine Aneignung des Meeres einher, das nun als Besitzstand des römischen Staates in Anspruch genommen wird, so als ob es sich um ein neuerworbenes Territorium handeln würde. Die sich einbürgernde Nomenklatur zur Kennzeichnung dieser einschneidenden Veränderung bisheriger Verhaltensmuster brachte die neue Synthese mithilfe eines Possesivpronomen prägnant mit zwei Worten zum Ausdruck, die deren politisches und ideologisches Programm verkündeten: Mare nostrum (unser Meer). Sie unterstreichen das römische Selbstverständnis und gaben zugleich der Mittelmeerregion eine Denomination, die sich bis heute erhalten hat.117

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