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2 Oikos und Polis
ОглавлениеDie Bürger sollen für ihr Gesetz kämpfen wie für eine Mauer.
(Heraklit, Fragment 111)
Grundeinheit des sozialen Lebens und der ökonomischen Tätigkeit der antiken Griechen war der oikos: die Familie samt Sklaven, mobilem und immobilem Besitz – im Falle der besser gestellten gesellschaftlichen Schichten auch Gefolgsleute. Als Wirtschaftseinheit stand er unter dem Leitgedanken der Autarkie, dem Bemühen um Eigendeckung jeglichen Bedarfs. Kaum ein Erzeugnis oder eine Dienstleistung musste von außerhalb herbeigeschafft werden. Materieller Wohlstand beruhte vornehmlich auf Landeigentum und auf Viehbesitz sowie auf der Hortung von Vorräten und prestigeträchtigen wertvollen Gütern wie Metallen, Waffen oder kostbaren Stoffen, die sich zum standesgemäßen Gabentausch eigneten. Der Austausch von Geschenken, den die Vornehmen im Umgang mit ihresgleichen pflegten, wurde nicht als Handel, sondern als Ausdruck der gegenseitigen Wertschätzung im Rahmen der Gastfreundschaft erachtet. Die vorherrschende Adelsethik der frühgriechischen Gesellschaft kannte darüber hinaus eine weitere standesgemäße Erwerbsweise: Die mit der Kriegführung einhergehende Beschaffung von Beute. Diese gewaltsame Aneignung von Land, Viehherden, Gütern und Menschen bot zugleich Spielräume für einen ausgeprägten aristokratischen Wettbewerb um Macht und Ruhm. Klar formuliert findet sich bereits in den homerischen Epen die Verachtung anderer Erwerbsweisen, wie etwa Handel und Handwerk. Die Auffassung, dass abhängige Berufstätigkeit wie eigentlich überhaupt jede Arbeit, außer als freier Bauer, zur Bestreitung des Lebensunterhaltes gering geschätzt wurde, da sie dem Lebensideal der Kriegerethik oder der aristokratischen Muße zuwiderlaufe, wirkte weit über die homerische Welt hinaus und bestimmte stets die Werteskala der nachfolgenden Gesellschaften. Mit Blick auf einen in älterer Zeit nachweisbaren Kulturtransfer zwischen Ägypten beziehungsweise den Völkern des Vorderen Orients und den Hellenen steuerte der Historiker und Volkskundler Herodot aus Halikarnassos für seine eigene Zeit (5. Jahrhundert v. Chr.) eine aufschlussreiche Bemerkung zum Thema bei: Wer von körperlicher Arbeit frei ist, gilt für edel, besonders wer sich der Kriegskunst widmet. Das haben sämtliche Griechenstämme übernommen, besonders die Spartaner. Am wenigsten verachten die Korinther die Handwerker.11
Noch mehr als die auf die Lebenswelt der gesellschaftlichen Eliten fixierten homerischen Epen eröffnet das nüchtern-realistische Gedicht Werke und Tage des böotischen Bauern Hesiod wertvolle Einblicke in die Wirtschafts- und Lebensweise der großen Mehrheit der Bevölkerung der archaischen Zeit: Mühseliger Ackerbau als prekäre Grundlage für die Erarbeitung eines Existenzminimums durch den Anbau von Weizen und Gerste, aber auch Wein und Oliven, kennzeichnen die vorherrschenden Verhältnisse ebenso wie die Unterdrückung der Landbewohner durch örtliche Potentaten. Sowohl Homer als auch Hesiod bezeugen die entscheidende Bedeutung des Bodens als Basis für jede Wirtschaftsform und als Messlatte für Besitz und gesellschaftliche Geltung. Daran wird sich in der Folgezeit wenig ändern.
Im Alltag der Griechen grenzte sich die Reichweite des oikos, der als abgeschlossene Privatsphäre der freien Verfügungsgewalt Einzelner unterlag, vom Wirkungskreis der Polis ab, wo in einem öffentlichen Raum die Angelegenheiten aller durch Debatten, Abstimmungen und Gesetze entschieden wurden.12 Der oikos gehörte bestimmten Individuen, die Polis der gesamten Bürgerschaft. Der Kernbereich des griechischen Siedlungsraumes, der sich vom Süden der Balkanhalbinsel über die Ägäis mit ihrer Inselwelt bis zur Westküste Kleinasiens erstreckte, war mit poleis übersät. Er wurde im Norden von der thrakischen Chalkidike und der Chersones und im Süden von der Insel Kreta eingerahmt. Ihre historisch relevantesten Regionen waren das kleinasiatische Ionien im Osten der Ägäis sowie die ebenfalls von Ioniern bevölkerte Halbinsel Attika; ferner die äolisch besiedelten mittelgriechischen Räume Böotien und Thessalien, an die sich im Norden Epirus und Makedonien anschlossen. Die bekanntesten Landschaften der Peloponnes waren Achaia, Elis und die Argolis im Norden, sowie Messenien und Lakonien im Süden. Das trennende und zugleich verbindende Element dieser weit ausgreifenden, kontrastreichen Regionen war die Ägäis mit ihrer vielfältigen Inselwelt, die wie kein anderer Faktor die Lebensverhältnisse der Menschen bestimmte. Die Verbindungswege zu Land waren aufgrund der Topographie gelegentlich problematisch. Nicht selten werden fruchtbare Flusstäler durch unzugängliche Bergketten erdrückt. So beträgt etwa die Kammhöhe des in der südlichen Peloponnes zwischen Messenien und Lakonien verlaufenden Taygetosgebirges 2000 Meter. Die höchste Erhebung ist der im nördlichen Thessalien hochragende Olymp (fast 3000 Meter), die legendäre Heimstatt der Götter. Das Ausmaß der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen blieb im Verhältnis zum unfruchtbaren Karstgebirge gering. Nur ein Viertel der Gesamtfläche eignete sich für den Ackerbau. Weil natürliche Reichtümer dünn gesät waren, reichten die Agrarerträge und die überall praktizierte Weidewirtschaft kaum aus, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Mit anderen Worten: Das griechische Mutterland, nicht so sehr die Kolonien, war auf Importe angewiesen, die nur dann beschafft werden konnten, wenn genug Überschüsse erwirtschaftet wurden. Dass diese Aufgabe überaus erfolgreich gemeistert wurde, belegt der bemerkenswerte ökonomische, politische und kulturelle Aufschwung während der klassischen Ära (5. und 4. Jahrhundert v. Chr.), als es den bedeutendsten griechischen Städten gelang, die nötigen Ressourcen zu aktivieren, um das Weltreich der Perser in die Schranken zu weisen und sich danach als die bestimmenden Gestaltungsmächte im östlichen Mittelmeerraum in Stellung zu bringen.
Griechisches Mutterland
Ursprünglich war die Polis ein befestigter Ort, der durch den Zusammenschluss mehrerer Dörfer (synoikismos) entstand und so eine größere Einheit bilden konnte.13 Sie verstand sich als autonomes Gemeinwesen, das sich nach eigenen Wertvorstellungen und Normen verwaltete und in dem seine Bewohner das öffentliche Leben frei bestimmten. Eine wesentliche Grundlage des Zusammenlebens war die Tötungshemmung, was die Solidarität und Hilfsbereitschaft innerhalb der Gemeinschaft verstärkte, indem sie Aggressionspotenziale nach außen kanalisierte: Fremde galten grundsätzlich als Bedrohung, vor der man sich schützen musste. Wie sehr unnötiges Blutvergießen innerhalb der Bürgerschaft irritierend wirkte, zeigen beispielhaft die Folgen des Kylonischen Frevels in Athen.14
Im Zentrum der Polis, sowohl topographisch als auch lebensweltlich, stand der Marktplatz: Die agora. Gerade dieser öffentliche Raum galt im Bewusstsein der antiken Autoren als Kernbereich der Polis und somit als identitätsstiftendes Merkmal der griechischen Staatlichkeit gegenüber fremden Kulturen, wie Herodot aufschlussreich beleuchtet, als er das geschäftige Treiben auf der agora aus der Perspektive der Perser festhält: Als der Herold diese Botschaft verkündet hatte, soll Kyros die Griechen seiner Umgebung gefragt haben, was denn die Spartaner für Menschen seien, wie stark das Volk sei, das ihm so etwas sagen ließ. Als er darauf Bescheid erhalten hatte, soll er zu dem Boten aus Sparta gesagt haben: „Ich habe noch nie vor Männern Angst gehabt, die in der Mitte ihrer Städte Plätze angelegt haben, auf denen sie sich versammeln, um Eide zu schwören und sich dabei zu belügen. Wenn ich am Leben bleibe, soll Sparta von seinem eigenen Schicksal mehr zu reden haben als von dem der Ionier.“ Die verächtlichen Worte sprach Kyros über alle Griechen aus, weil sie Märkte geschaffen haben, auf denen sie Handel treiben. Die Perser selbst pflegen nämlich keine Märkte zu errichten, und sie kennen auch überhaupt keinen Handel.15
Diese aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. stammende Text-passage hat für unsere Fragestellung eine besondere Relevanz. Sie verdeutlicht kulturelle Differenzen, etwa den Stellenwert des allen Bürgern zugänglichen Raumes in jeder griechischen Stadt im Kontrast zu den Einrichtungen der persischen Welt, wo ein solcher politisch und ökonomisch bedeutsamer urbaner Ort der Begegnung unbekannt war. Darüber hinaus bietet sie eines der seltenen Beispiele dafür, dass durch den Vergleich unterschiedlicher Lebensformen eine Reflexion über gegensätzliche politische Modelle angestoßen wird. Bezeichnenderweise verwendet Herodot das Verb agorein, um seine auf die Polis bezogene Vorstellung von zwischenmenschlichen Kontakten, Waren- und Gedankenaustausch im weitesten Sinne zu kennzeichnen. Indem gerade die Abwesenheit dieser Funktionen in der fremden Zivilisation betont wird, erscheint das spezifische Eigengewicht der agora für den griechischen Lebensraum umso schärfer konturiert als bewusstseinsbildendes Symbol der Polis. Bildete die agora das Herzstück der Polis, so war die Volksversammlung (ekklesia) ihre wichtigste Institution. Sie sanktionierte alle politisch maßgeblichen Entscheidungen. Weitere grundlegende Institutionen waren ein Ältestenrat, Volksgerichte und ein stark differenziertes Ämterwesen, das sich in der Regel jährlich erneuerte.16 Die zahlreichen Organe und Institutionen der Polis, die in der Öffentlichkeit tagten, verstärkten die Interaktion innerhalb der Bürgerschaft. Interaktion lebte von der Kommunikation, vom Austausch von Neuigkeiten und Informationen aller Art, die sowohl für den Politik- und Kulturbetrieb als auch für die Wirtschaft von Nutzen sein konnten, indem sie etwa Innovationen förderten. Damit wurden wichtige Grundlagen für den Ausbau einer Wissensgesellschaft gelegt, die auf einen dauerhaften Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen ihren Gliedern angewiesen blieb. Die sich ständig erneuernden Nachrichtenbörsen ermöglichten optimale Voraussetzungen für die Ausgestaltung erfolgversprechender Lebensbedingungen. Gleichzeitig steigerte die permanente Bürgerbeteiligung an der Leitung des Gemeinwesens die Effektivität der politischen Entscheidungsfindung und der sozialen, ökonomischen und kulturellen Initiativen. Darauf beruht die Überlegenheit partizipativer Gesellschaften gegenüber autoritär geführten Staatswesen.17
Zur Kennzeichnung der Polis hat sich der Begriff Stadtstaat eingebürgert – ein missverständlicher Terminus, der den Eindruck erwecken könnte, die Stadt hätte über ihr Umland (chora) geherrscht. Eine weitere Schwierigkeit für die inhaltliche Präzisierung des Polisbegriffes ergibt sich aus dem unterschiedlichen Urbanisierungsgrad der einzelnen Gemeinden. Der Fall Amorgos ist hierfür aufschlussreich. Auf dieser kleinen Kykladeninsel gab es nicht weniger als drei souveräne Gemeinwesen. Demnach besaß jede Polis relativ wenig Bewohner.18 Setzt man ihre Zahl in Verhältnis zum verfügbaren Ackerboden, so wird deutlich, dass die Möglichkeit einer ökonomischen Segmentierung auf natürliche Grenzen stieß. Soziale Egalität und politische Homogenität waren die Folgen der Kleingliedrigkeit. Legt man ferner das Vergleichsbeispiel Athen und Sparta zugrunde, so wird ein weiterer Gegensatz sichtbar. Im Unterschied zu der in Meeresnähe gelegenen Stadt Athen, die ein entwickeltes urbanes Zentrum darstellte, blieb Sparta eine Ansammlung aus mehreren Dörfern. Die folgende Textpassage kann dies sehr anschaulich illustrieren: Wenn jetzt die Stadt der Lakedämonier zerstört würde und nichts von ihr übrigbliebe als die Tempel und die Fundamente der Bauten, so würde man in späterer Zeit kaum glauben, dass die Macht der Lakedämonier deren Ruf entsprochen habe. Gegenwärtig sind sie die Herren von zwei Fünfteln der Peloponnes und Vormacht nicht nur der ganzen Halbinsel, sondern auch zahlreicher auswärtiger Bundesgenossen. Trotzdem könnte es scheinen, dass ihre Macht gering sei, weil die Stadt keine stolzen Tempel und Prachtbauten hatte und nicht zusammenhängend gebaut war, sondern nach altgriechischer Weise aus zahlreichen Ortschaften bestand. Umgekehrt, wenn es Athen so ginge, würde man angesichts der erhaltenen Reste der Stadt glauben, die Macht der Athener sei noch einmal so groß gewesen, wie sie wirklich ist.19
Hinzu kommt, dass Sparta eine aristokratisch geprägte Stadt war20, während sich Athen nach der Vertreibung des Tyrannengeschlechts der Peisistratiden (510/9 v. Chr.) zu einer Volksherrschaft wandelte.21 Demnach war die griechische Staatlichkeit an keine spezifische Verfassungsform gekoppelt, weswegen die antike Polis dem modernen Staatsbegriff, mit dem keine implizite Aussage über die jeweils vorherrschende Regierungsform verbunden ist, durchaus ähnlich ist. Ferner zeichnete sie sich durch einen ungebrochenen Willen zur Behauptung ihrer Unabhängigkeit (eleutheria), aber auch durch einen starken Drang zur Selbstversorgung (autarkia) und schließlich durch ein Streben nach Vereinheitlichung des politischen Lebens aus, das in der schrittweisen Verwirklichung der Rechtsgleichheit der Bürger seinen Ausdruck fand (isonomia).22 Die Polisbürger unterscheiden sich wesentlich vom Typus der modernen Staatsbürger. Das Bürgerrecht galt als integraler Bestandteil ihrer Identität. Einbürgerungen kamen selten vor, denn sie bedurften der Zustimmung der Mehrheit. Trotzdem nahmen viele griechische Städte bereitwillig Fremde (Metöken, Periöken) auf, die den in ihrer Gaststadt herrschenden Gesetzen unterworfen blieben. Eine eigene Gruppe bildeten die Sklaven, die in der griechischen Welt ihren festen Platz am unteren Ende der Sozialskala einnahmen. Ihre gezielte Ausbeutung, oft unter menschenunwürdigen Verhältnissen, etwa als Bergwerksklaven, ist eine Konstante der gesellschaftlichen und politischen Systeme der Antike.
Wie sehr das Modell der Polis mentalitätsbildend geworden ist, belegt der folgende Fall. Jahrelang wurde das auf dem Gelände von Toscanos in der heutigen Provinz Málaga (Südspanien) sich befindende Ruinenfeld mit der griechischen Polis Mainake gleichgesetzt. Doch die neuesten Grabungsergebnisse sprechen gegen eine griechische Identität dieser Siedlung, die vielmehr eine phönikische Niederlassung darstellt, die bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. bestand. Fast ein halbes Jahrtausend blieb der Ort ein Trümmerfeld, bis er in augusteischer Zeit wieder bewohnt wurde, womit die archaische Niederlassung eine neue Siedlungskontinuität erlebte, die bis zur Spätantike dauerte, als der Platz aufgegeben wurde und der Vergessenheit anheimfiel. Diesem Befund steht die bei einigen griechischen Autoren anzutreffende Zuschreibung von Mainake als griechische Kolonie gegenüber. Allerdings sind die frühesten Zeugnisse deutlich zurückhaltend. So bezeichnet Hekataios von Milet (Ende 6. Jahrhundert v. Chr.) Mainake als keltische Stadt23, während Herodot (5. Jahrhundert v. Chr.) sie nicht zu kennen scheint. Bereits dies dürfte ein gewichtiger Einwand gegen die griechische Zugehörigkeit des Ortes sein. Denn, dass ausgerechnet Herodot, dem wir die Kenntnis der phokäischen Westkolonisation verdanken, von einer angeblich phokäischen Stadt Mainake keine Notiz nahm, spricht für sich.24 Erst aus einem im 2. Jahrhundert v. Chr. abgefassten Gedicht des Pseudo-Skymnos, das Ephoros’ Bemerkungen zur Geographie des Westens verarbeitete, wurde erstmals eine Verbindung zwischen Mainake und Massalia hergestellt. Diese nachträglich vorgenommene Filiation bestätigt jedoch einen bekannten Trend, nämlich namhafte Orte (und Mainake wäre dann der westlichste koloniale Vorposten) für den griechischen Kulturkreis zu vereinnahmen. In diesem Sinne hatte Aristoteles selbst Rom als hellenische Polis ausgegeben. Entscheidend an der von Strabo aufbewahrten Notiz ist, dass die als Mainake bezeichnete Ruinenstadt alle charakteristischen Merkmale einer griechischen Polis aufweise.25 Seine Gewährsleute, Artemidor beziehungsweise Poseidonios, waren wohl vor Ort gewesen und hielten ihre Eindrücke fest; das heißt, sie haben ein Trümmerfeld erblickt, das durch die Regelmäßigkeit und Konsistenz der Fundamente hervorstach, und meinten, das könne nur eine hellenische Siedlung sein. Damit war, wie Hans-Georg Niemeyer verdeutlicht hat, das „griechische“ Mainake geboren.26 Die hellenische Identität der in Augenschein genommenen Überreste beruhte folglich auf den subjektiven Eindrücken einer von späteren Autoren vorgenommenen interpretatio graeca.
Lehrreich an dieser Fallstudie ist, dass sich die landläufige Vorstellung einer griechischen Polis an einem ausgewogen gestalteten Siedlungsplatz orientierte. Mit einer Polis verband man planmäßig ausgeführte Straßenzüge, repräsentative Bauten, überhaupt eine durchdachte städtische Anlage. Orte, deren Überreste (wie dies im Falle Toscanos der Fall war) Symmetrie und Monumentalität erkennen ließen, mussten folglich Schöpfungen des griechischen Geistes gewesen sein. Wie kurz jedoch diese Annahme greift, bedarf keines Beweises. Auch andere Völker, etwa die Phöniker, brauchten sich diesbezüglich nicht hinter den Hellenen zu verstecken.27 Die griechische Umdeutung der phönikischen Niederlassung von Toscanos liefert einen anschaulichen Beleg dafür. Doch zur Polis gehörte mehr als die Stadtanlage. Noch wichtiger als die Bauten war die innere Organisationsform, kurzum ihre von anderen städtischen Formen des Altertums sich deutlich unterscheidende Eigenart. Entscheidend waren die innere Autonomie sowie die in der Agora sich konstituierende Öffentlichkeit, die auf der Interaktion zwischen den Bürgern beruhte.28 Die Polis bestand auf ihrer Unabhängigkeit gegenüber fremden Mächten oder den Machtansprüchen einzelner Potentaten, die ihr ihren Willen aufzwingen wollten. Die von den Göttern garantierten und von der Bürgerschaft getragenen Institutionen waren ihr Sinnbild. In diesem Sinne betonte der Historiker Thukydides, dass die Polis der Ausdruck eines sich selbst genügenden Bürgerverbands darstellte.29 Wie tief verwurzelt diese Vorstellungen im Denken der Griechen beheimatet waren, verdeutlicht eine Begebenheit aus den Perserkriegen, die Herodot festgehalten hat: Als die Athener im Zuge der Invasion des Xerxes ihre Stadt räumten, begaben sie sich auf ihre Schiffe in der Bucht von Salamis. Dort tagte der Kriegsrat der verbündeten Hellenen, die sich den Persern widersetzten. Der Korinther Adeimantos wollte aber die Athener davon ausschließen, mit der Begründung, diese hätten ihre Polis aufgegeben und damit die Geschäftsgrundlage für eine überstaatliche Kooperation verloren: Auf diese Rede des Themistokles erhob sich der Korinther Adeimantos wieder gegen ihn und sagte, er solle lieber schweigen, weil er kein Vaterland mehr habe; und er warnte Eurybiades davor, über den Antrag eines Heimatlosen abstimmen zu lassen. Wenn Themistokles wieder mitreden wolle, müsse er nachweisen, für welche Polis er spreche. Das warf er Themistokles vor, weil Athen genommen und vom Feind besetzt war. Nun sagte Themistokles dem Adeimantos und den Korinthern viele harte Worte und bewies ihnen, dass Athen und Attika viel größer seien als Korinth, solange Athen 200 Schiffe bemannt habe.30
Es mag uns Menschen des 21. Jahrhunderts, die wir von einer Vielfalt weitgehend austauschbarer städtischer Akkulturationsformen umgeben sind, schwer begreiflich erscheinen, welch einzigartiges Phänomen die Polis für ihre Bewohner darstellte. Sie bot ihnen nicht nur Wohnraum und Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Entfaltung, sondern war zugleich Schicksalsgemeinschaft. Von ihrem Wohl und Wehe hing die Lebensqualität jedes Einzelnen ab. Erfolge bedeuteten Prosperität, oft verbunden mit ökonomischen Vorteilen für bestimmte Bevölkerungsgruppen; Misserfolge konnten im krassesten Fall, wenn die Stadt erobert wurde, die Versklavung ihrer Bevölkerung nach sich ziehen. Ihre Einwohnerschaft bestand nicht nur aus Bürgern, sondern umfasste stets Fremde und Sklaven. Zur Bürgerschaft gehörten Frauen und Kinder, wiewohl sie von der Wahrnehmung der politischen Rechte ausgeschlossen blieben, weil diese nur den Waffenträgern vorbehalten blieben. Die Politen bildeten jedoch keinen monolithischen Block. Differenzierungen nach sozialem und wirtschaftlichem Status, nach Bildungsstand und politischer Neigung sind unverzichtbar, um die unterschiedlichen Bedürfnisse und Denkart der einzelnen Gruppen zu verstehen. Ein Mitglied der städtischen Oberschicht hatte einfach eine andere Erwartungshaltung an seine Heimat als ein Tagelöhner. Ein Sklave dürfte sie anders wahrgenommen haben als etwa eine Dame aus vornehmem Hause. Ein fremder Geschäftsmann verfolgte andere Interessen als ein armer Bürger. Doch über alles Trennende hinweg gab es übergreifende Bezugspunkte und Anliegen. Die Polis bot sämtlichen Bewohnern einen Lebens- und Schutzraum sowie einen gemeinsamen Erinnerungsort. Solche Konstanten förderten das kollektive Bewusstsein der Politen; sie haben ihre Wahrnehmungen und Empfindungen, ihr Verhalten und Denken beeinflusst. So äußerte Heraklit von Ephesos (6.–5. Jahrhundert v. Chr.) in drastischer Weise seinen Unmut über seine Landsleute, weil sie sich mit herausragenden Mitbürgern schwer taten:Recht geschähe den erwachsenen Ephesiern, so sie sich insgesamt aufhängten und die Stadtverwaltung den Unerwachsenen hinterließen, sie, die den Hermodor, den Fähigsten unter ihnen, hinausgejagt haben mit den Worten: Von uns soll keiner der Fähigste sein oder, wenn schon, dann anderswo und bei anderen Leuten.31 Einen noch deutlicheren Hinweis für das tiefsitzende Misstrauen gegenüber der Masse als Träger eines quantitativen Mehrheitsprinzips und komplementär dazu in die Wertschätzung einer außergewöhnlichen Individualität bringen weitere Aussagen Heraklits zum Ausdruck wie:Gesetz ist es auch, dem Willen eines einzelnen zu gehorchen. 32 An anderer Stelle heißt es: Einer gilt mir Unzählige, so er der Ausgezeichnetste ist.33
Gemeinsamer Nenner dieser Einschätzungen war eine aristokratische Grundhaltung, die gelegentlich auf die Spitze getrieben wird. Dennoch: Über allem und jedem stand das Gesetz (nomos). Derartige Äußerungen offenbaren, wie sehr Reflexionen über das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, Machtausübung und bürgerlichem Selbstbewusstsein das Verständnis der Polis prägten. Die frühesten griechischen Schriftzeugnisse gewähren uns einige Einblicke hierzu. Wenn Alkaios von Mytilene oder Theognis von Megara im 6. Jahrhundert v. Chr. sich über die Machtergreifung einer bestimmten Gruppierung in ihrer jeweiligen Heimatstadt erregten, weil damit den übrigen Mitbürgern die politischen Spielregeln diktiert wurden, so verdeutlichen solche Stimmen, dass alles, was mit der Leitung der Staatsgeschäfte zusammenhing, als eine prinzipiell die gesamte Bürgerschaft betreffende Angelegenheit erachtet wurde, zu der alle aufgerufen waren.34 Häufig mussten sich die aristokratisch regierten Städte gegen die Herrschaftsansprüche ehrgeiziger Machtmenschen wehren. Das Tauziehen der Parteiungen reflektiert ein politisch orientiertes Schrifttum, das die Vertreibung der Tyrannen und die Verwirklichung der politischen Gleichberechtigung forderte. Am konsequentesten vermochten sich die Grundsätze der Bürgersolidarität in Sparta durchzusetzen. Nur die Polis konnte die notwendigen Rahmenbedingungen dafür bieten, und so galt eine erzwungene Ausweisung, etwa in Form der Verbannung, als die strengste Strafe, die über einen Bürger verhängt werden konnte. Als Herodot von Halikarnassos den fiktiven Besuch des Atheners Solon am Hofe des Lyderkönigs Kroisos mithilfe einer didaktisch angelegten novellistischen Erzählung thematisierte, verband er das Streben nach dem höchsten Glück eines (griechischen!) Menschen mit dessen Polisbezogenheit.35
Der patriotische Bürgersinn, der im herodoteischen Solon der Kontrastierung von griechischer Freiheit und orientalischem Herrschertum dient, erfährt eine Steigerung in den von Thukydides komponierten Reden des Perikles, die auf die aktuelle Situation des Peloponnesischen Krieges anspielen. Hier wird der Bürgerstolz zum Kennzeichen der Polis stilisiert: Frei leben wir als Bürger im Staat und frei vom gegenseitigen Misstrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen. Zusammenfassend sage ich, dass unsere Stadt im Ganzen die Schule von Hellas sei und daß jeder einzelne Bürger bei uns in vielseitigster Weise und in spielerischer Anmut seine eigenpersönliche Art entfalte. Wir brauchen keinen Homer als Künder unserer Taten, nein, zu jedem Meer und Land haben wir uns durch unseren Wagemut Zutritt verschafft, überall haben wir mit unseren Siedlungen unvergängliche Denkmäler unseres Glückes oder Unglückes hinterlassen.36
Das von Thukydides angesprochene Lebensgefühl manifestierte sich nicht nur in den Institutionen, sondern ebenfalls in den städtebaulichen Anlagen. Die nach dem Vorbild des Hippodamos von Milet entstandenen Wohnviertel in Piräus, Thurioi oder Milet, durch Gleichmäßigkeit geprägt, scheinen wie eine Widerspiegelung der Gleichheitsidee. Platon griff solche Gedanken auf und hob sie in kosmographische Dimensionen. Die Maße einzelner Häuser innerhalb einer Stadt wurden als Beitrag zur Harmonie der Weltschöpfung empfunden.37 Die Meinungen darüber gingen in der griechischen gelehrten Welt jedoch weit auseinander. Xenophon38 und Demosthenes39 fanden Gefallen an den hippodamischen Entwürfen, während Aristoteles40 diesbezüglich reserviert blieb.
Die Polis war nicht nur Mittelpunkt des politischen und wirtschaftlichen Lebens, sondern als Wohnsitz ihrer Schutzgottheiten auch ein religiöses Zentrum. Kulthandlungen übten eine gemeinschaftsstiftende Wirkung auf die gesamte Bevölkerung aus. Die Deckungsgleichheit von Bürgerverband und Kultgemeinschaft galt den Menschen der Antike als Voraussetzung ihrer sozialen Existenz und staatlichen Identität.41 An die Politen wurden hohe Erwartungen gestellt: Die Verteidigung der Heimat mit der Waffe in der Hand und, vor allem an die vermögenden Bürger gerichtet, die Bereitschaft zur Übernahme von finanziellen Lasten für die Allgemeinheit. Die Befolgung dieser Normen galt als selbstverständliche Bürgerpflicht. Der Einzelne und die Gemeinschaft erlebten die dazu gehörigen Rituale wie Aufzüge, Opferhandlungen oder Theateraufführungen als konstitutive Teile ihres politischen Daseins. Die ganze Bevölkerung nahm daran teil. In Athen war das Interesse an den Großen Panathenäen oder den Großen Dionysien so gewaltig, dass Demosthenes42 seine Mitbürger verspottete, die Abhaltung der Feste ernster zu nehmen als die Kriegführung gegen König Philipp II. von Makedonien. Nicht von ungefähr nennt Aristoteles43, als er die Aufgabenbereiche der athenischen Amtsträger auflistet, die Organisation und Durchführung der Feste an erster Stelle. Auch Aristophanes ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, in seiner Komödie Die Wolken der Feststadt Athen ein literarisches Denkmal zu setzen. Die Polis sorgte auch für die Erziehung ihrer Bewohner. In der Wahrnehmung dieser Rolle sieht der platonische Sokrates eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Im Phaidros bekennt er: Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.44
Wenn auch diese Worte auf das klassische Athen gemünzt zu sein scheinen, das damals eine beispiellose Aufbruchsstimmung erlebte, in der sich Redekunst, Philosophie und Dichtung entfalten konnten, so lässt sich diese Aussage dennoch verallgemeinern. Die Menschen in der Stadt als Quelle der Erfahrung und des Wissens, als Ausprägung der antiken Spielart der condition humaine, werden als Kontrast zum naturhaften Dasein des Landlebens gesehen. Dieser Dualismus ist oft thematisiert worden. Ein eindrucksvolles Zeugnis dafür liefert Aristophanes. In der auf dem Höhepunkt des Peloponnesischen Krieges (425 v. Chr.) abgefassten Komödie Acharner lässt der Dichter den aus einem attischen Dorf stammenden, aber wegen der Notwendigkeiten des Krieges in Athen einquartierten Dikaiopolis nachsinnieren: Ich bin in der Volksversammlung stets der Erste, ich nehme Platz; in meiner Einsamkeit seufze ich dann, gähne, strecke, lüfte mich, sinniere, schreibe, kratze im Haar mich, schaue ins Feld hinaus und bete um Frieden, fluche der Stadt und denke: wäre ich nur daheim auf meinem Dorf: dort hörte ich niemals: kauft, kauft Kohlen, Essig, Öl! Da wächst alles in Fülle – Hol der Henker das Geplärr! Nun, weil ich einmal hier bin, will ich auch, verlasst euch drauf, eins poltern, schreien, die Redner aushunzen, die nicht für den Frieden sprechen.45
In diesen Versen werden die Beschwernisse des Stadtlebens mit einer rührenden Unbefangenheit ausgemalt, wobei eine Sicht des Landlebens zum Ausdruck kommt, die von der Stadtperspektive durchdrungen ist. Doch der Gegensatz von Urbanität und Ruralität fällt hier so krass aus, weil die städtischen Lebensverhältnisse infolge des langandauernden Krieges ein unerträgliches Ausmaß erreicht hatten.
Bereits in archaischer Zeit erschütterten soziale Unruhen den inneren Frieden zahlreicher Städte.46 Parteibildung innerhalb der Bürgerschaft, verbunden mit einer Radikalisierung der Politik, erzeugten mancherorts bürgerkriegsähnliche Zustände (staseis). Als Beispiele dafür lassen sich die Streitigkeiten zwischen Hetairien in Mytilene (6. Jahrhundert v. Chr.) oder Oligarchen und Demokraten aus dem Jahr 435 v. Chr. in Epidamnos anführen. Durch die sukzessive Einmischung von Kerkyra, Korinth und Athen werden letztere zu einem Konflikt eskalieren, der halb Griechenland erfassen wird.47 Innere Zwietracht galt als die größte Heimsuchung, die einem Gemeinwesen widerfahren konnte. Allein die geographische Enge des griechischen Siedlungsraumes begünstigte die Ausweitung Polis übergreifender Auseinandersetzungen. Nicht selten entwickelten sich aus regionalen Diskrepanzen regelrechte Kriege. Ähnlich ist der Peloponnesische Krieg entstanden, der wie kaum ein anderes Ereignis die innere Stimmungslage und das äußere Gefüge Griechenlands verändert hat. Damals wurde ihre Gefährdung besonders sichtbar. Zahlreich waren auch die Konzepte der griechischen Intellektuellen zu deren Bewältigung gewesen. Da sie innerhalb des Rahmens der Poliswelt blieben, strebten sie meist eine Reform des Systems an. So auch der vielleicht unkonventionellste aller diesbezüglichen Denkanstöße, der von Aristophanes in seiner 411 v. Chr. aufgeführten Komödie Lysistrata ersonnen wurde. In diesem auf dem Höhepunkt des Peloponnesischen Krieges abgefassten Werk bricht sich ein ungewöhnlicher Lösungsvorschlag Bahn: Die Frauen sollen die Macht im Staate übernehmen und den wie eine Naturplage auf ganz Griechenland lastenden Krieg endlich beenden. Lysistrata, die Protagonistin des Stückes, hält ein bemerkenswertes Plädoyer, um die verfahrene Lage der Polis, die sich aus deren Verkrustung ergab, aufzubrechen: Wie die Wolle vom Kot und vom Schmutz in der Wäsche man säubert, so müsst ihr dem Staate von Schurken das Fell reinklopfen, ablesen die Bollen: Was zusammen sich klumpt und zum Filz sich verstrickt – Klubmänner, für Ämterbesetzung miteinander verschworen – kardätschet sie durch und zerzupfet die äußersten Spitzen, dann krempelt die Bürger zusammen hinein in den Korb patriotischer Eintracht und mischt großherzig Insassen dazu, Verbündete, Freunde des Landes; auch die Schuldner des Staats, man verschmähe sie nicht und vermenge auch sie mit dem Ganzen! Und die Städte, bei Gott, die als Töchter der Stadt in der Ferne sich Sitze gegründet, übersehet sie nicht: denn sie liegen herum wie zerstreute vereinzelte Flocken. Lest alle zusammen von nah und von fern auf, schichtet sie hier und wickelt ein Ganzes daraus und verspinnt es zu einem gewaltigen Garnknäuel! Aus diesem dann webet vereint für das Volk einen wollenen Mantel!48
Das Stück endet mit einem Versöhnungsbankett, an dem Athener und Spartaner sich die Hand reichen und ihre Differenzen begraben. Aber es war alles ein flüchtiger Bühnentraum, eine Komödie. Die Realität schrieb das Drehbuch für die sich bald darauf abspielende Tragödie: Es kam nicht zu einem Ausgleich zwischen den Rivalen; Athen musste erschöpft kapitulieren und Sparta wird sich seines Sieges nicht erfreuen. Zerstört wurde aber durch diesen unerbittlich geführten griechischen Bürgerkrieg der innere Zusammenhalt der Poliswelt. Sie wird sich nie mehr davon erholen können.
Wegen der ungeheuren Machtfülle, die sie in die Lage versetzte, Wohlfahrt und Frieden zu ermöglichen, wurden Machtmenschen wie Lysander, der Sieger des Peloponnesischen Krieges, mit göttlichen Ehren überhäuft.49 Alexander der Große und nach ihm die Diadochen werden folgen. Es handelt sich dabei um die Einführung von lokalen Kulten, die ein politischer Verband aus freiem Entschluss veranlasste, um seinem Wohltäter, der etwas Großes für die Stadt geleistet hatte – etwa Befreiung von fremder Herrschaft, Schonung nach der Eroberung, Beendigung eines Kriegszustandes –, mittels sakraler Ehrenbezeugungen dafür zu danken.50 Zu diesem Zweck stiftete man der betreffenden Person einen Kult mit der Weihe eines Tempels oder Altars, der mit der Einrichtung einer Priesterschaft verbunden war, womit sich ein Umbruch der geltenden religiösen Normen vollzog. Die traditionellen Gottheiten waren in den Augen der Betroffenen kaum mehr in der Lage, die Sicherheit der Gemeinwesen zu verbürgen. An ihre Stelle rückten nun charismatische Potentaten auf, die einen wirksameren Schutz zu bieten schienen. Was dem äußeren Anschein nach wie eine religiöse Krise aussieht, ist die Kehrseite der tiefgreifenden politischen Umwälzungen, die sich im Verlauf des 4. Jahrhunderts v. Chr. anbahnten, als immer mehr Poleis in Abhängigkeit von äußeren Mächten gerieten. Ihre Abwehrmechanismen reichten nicht mehr aus, um auf sich allein gestellt ihre Eigenständigkeit zu behaupten, was zur Zeit der Perserkriege in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. noch gelungen war. Damals hatte das kollektive Selbstwertgefühl der Bürgerschaft die Herausstellung hervorragender Individuen noch verhindert. Die Polis als Verkörperung des Bürgerverbands, erfuhr vielerorts kultische Verehrung. Darin manifestierte sich neben dem Stolz auf die Heimatstadt auch ein besonderes Bewusstsein für deren Leistungsfähigkeit. Es fiel leicht, den Polisgöttern zu danken, solange sie Erfolg und Sieghaftigkeit garantierten. Dies wandelte sich jedoch während des 4. Jahrhunderts v. Chr. grundlegend, als ehrgeizige Individuen auftraten, die gestützt auf außerordentliche Machtmittel in der Lage waren, diese Funktion zu übernehmen. Von ihrem Wohlwollen hing das Schicksal zahlreicher Poleis ab. Insofern spiegelt sich in dem durch die Stadtkulte angezeigten religiösen Wandel eine Krise des politischen Systems wider.
Gleichwohl zog der politische Abstieg traditioneller griechischer Mächte wie Athen, Sparta oder Theben keinen Niedergang der Polis nach sich. Die Stadt blieb die Keimzelle von Politik, Religion, Wirtschaft und Kultur, und so ging die Ausbreitung der hellenistischen Zivilisation mit der Gründung neuer Städte einher und mit der Belebung alter urbaner Zentren, die erst jetzt zur vollen Entfaltung gelangten. Die hellenistische Epoche erlebte die Entstehung großer Metropolen: Alexandria wurde ihr Exponent. Die königliche Residenz an der Nilmündung unterschied sich deutlich von einer Polis klassischer Prägung. Obwohl eine Volksversammlung und ein Rat ihre politischen Geschicke mitbestimmten, wurde hier der jeweils regierende König maßgeblich. Diese Verlagerung der Macht wurde optisch durch die riesige Fläche, die innerhalb der Stadt für die königlichen Bauten reserviert war, hervorgehoben.
Ihr Selbstbewusstsein konnten die Städte der hellenistischen Ära kaum aus den prekären politischen Verhältnissen beziehen. Immer wichtiger wurden ihre ökonomischen und kulturellen Leistungen. Bald entwickelte sich ein Wettbewerb um städtebauliche Innovationen und zivilisatorische Ausstrahlung. Die Bibliothek von Pergamon wetteiferte mit dem Museion von Alexandria, der berühmten Forschungsstätte des Altertums, oder mit den namhaften Philosophenschulen von Athen (Lykeion, Stoa). Alexandria, Kos, Knidos und Pergamon stritten um den Vorrang ihrer medizinischen Einrichtungen. Die Urbanisierung des Lebens erzeugte eine Atmosphäre, in der sich eine im Verhältnis zur Vergangenheit gesteigerte Sensibilität für Bildungsfragen entfalten konnte. In Athen beispielsweise unternahm man den Versuch, die eigene kulturelle Tradition zu kanonisieren. Im Jahr 330 v. Chr. beantragte der athenische Staatsmann Lykurg: Dass Bronzestatuen der Dichter Aischylos, Sophokles und Euripides aufgestellt werden sollten, dass ihre Tragödien aufgeschrieben und offiziell vom Staat aufbewahrt werden sollten und dass der Stadtschreiber sie lesen und mit den Worten der Schauspieler vergleichen sollte; es solle gesetzeswidrig sein, bei der Aufführung vom autorisierten Text abzuweichen.51
Die Bewohner hellenistischer Poleis zeigten sich von einem überschwänglichen Selbstbewusstsein und einer hohen Opferbereitschaft für die Heimatstadt erfüllt. Sie waren stolz, Bürger eines berühmten Ortes zu sein. Je fester mächtige Despoten die Zügel ihrer Herrschaft strafften, umso mehr klammerte man sich an die Stadt, erhoffte man sich von ihr Schutz und Geborgenheit. Dem verbreiteten Bedürfnis hellenistischer Städte nach lokaler Autonomie, das sich etwa im Erwerb des Münzprägerechts oder der Asylie äußerte, trugen die Herrscher Rechnung. Sie befleißigten sich einer jovialen Tonart gegenüber den dafür empfänglichen Poleis, redeten ihre Bewohner, wie beispielsweise Eumenes II. von Pergamon die Milesier, als Verwandte an. Doch sämtliche Höflichkeitsbeteuerungen konnten die Tatsache nicht überdecken, dass die meisten Städte mittlerweile von Monarchen abhängig geworden waren, womit das Alleinstellungsmerkmal der Polis, nämlich die einst stolz behauptete Autonomie, während des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr. ihre ursprüngliche Bedeutung einbüßte.