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Alalia

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In den Kapiteln 163–167 seines 1. Buches erzählt Herodot vom Schicksal der Phokäer, von ihren wagemutigen Fahrten, in deren Verlauf sie Beziehungen zu den südhispanischen Tartessiern knüpften, sowie von der um 560 v. Chr. auf Geheiß eines Apollonorakels gegründeten Niederlassung auf Korsika, die den Namen Alalia trug. Ferner wird ihre Freiheitsliebe betont: Sie waren neben den Bewohnern von Teos die einzigen ionischen Griechen, die es vorzogen, die Heimat zu verlassen, um der persischen Knechtschaft zu entgehen. Der Massenauszug hatte weitreichende Folgen. Von den Raubzügen der Phokäer aufgeschreckt, verbündeten sich die Etrusker aus Caere mit den Karthagern und lieferten ihnen ein Gefecht am Sardischen Meer, das als Schlacht von Alalia bekannt geworden ist. Damals trafen (um 530 v. Chr.) 180 Schiffe aufeinander, womit wir vor der bis dahin größten maritimen Auseinandersetzung im westlichen Mittelmeer stünden. Die Phokäer gewannen zwar die Schlacht, verloren aber den Krieg, weil ihre Verluste beträchtlich gewesen waren. Die von den Etruskern ergriffenen griechischen Kriegsgefangenen wurden gesteinigt, die Überlebenden segelten zunächst nach Unteritalien (Rhegion), später gründeten sie die neue Siedlung Elea (Velia), wo sie ihre endgültige Heimat fanden.

Die Ereignisse, die sich um die Odyssee der Phokäer ranken, bieten Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der politischen Verhältnisse dieser jenseits der Magna Graecia und Sizilien, den beiden Zentren griechischer Kultur im Westen, liegenden Region. Zum ersten Mal werden die Karthager erwähnt. Ähnliches lässt sich über die Etrusker sagen. Bedeutsam ist der herodoteische Bericht, weil sich weitere Zeugnisse damit verknüpfen lassen, wie die Bilingue von Pyrgi, die ein etruskisch-karthagisches Zusammengehen bezeugt158, oder die Aussagen des Aristoteles hinsichtlich einer etruskisch-karthagischen Allianz.159 So unschätzbar Herodots Bericht ist – ganz vermag er nicht, alle Fragen zu beantworten. Das kann man ihm nicht anlasten, denn seine Absicht war es, über den persisch-ionischen Konflikt zu berichten, und in diesem Kontext bildete der Phokäerexkurs lediglich eine Episode. Folglich müssen wir unsere Kenntnisse über diese Vorkommnisse aus anderen Quellen ergänzen. Wahrscheinlich dürfte das phokäische Massalia mit Spannung das Schicksal der stammesverwandten Alalioten verfolgt haben160, worüber Herodot allerdings schweigt. Es gibt aber vier Textpassagen, die auf eine Beteiligung Massalias an dem Konflikt hindeuten. Antiochos von Syrakus161 sagt, dass die Griechen einen Misserfolg erlitten. Ferner erfahren wir, dass sowohl Korsika als auch Massalia und Velia als Auffan-gorte der flüchtenden Phokäer bereit standen. Anlässlich seines Rechenschaftsberichtes über die aufsehenerregenden maritimen Auseinandersetzungen der Vergangenheit vermerkt Thukydides einen massaliotischen Seesieg über die Karthager, der sich mit der herodoteischen Erzählung in Einklang bringen lässt.162 Eine Notiz des Pausanias erweitert diese Sichtweise und ergänzt, dass die Massalioten nach ihrem Erfolg ein Weihegeschenk in Delphi stifteten.163 Schließlich erzählt Pompeius Trogus ebenfalls von einem Sieg der Massalioten über die Karthager.164

Was zunächst wie eine Erweiterung der herodoteischen Notizen aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung jedoch als eine Verkomplizierung des Sachverhaltes. Neben Übereinstimmungen gibt es markante Unterschiede. Beispielsweise spricht Herodot über eine Beteiligung der Etrusker an der Schlacht im Sardischen Meer, wohingegen Thukydides, Pausanias und Pompeius Trogus lediglich einen Sieg der Massalioten über die Karthager verzeichnen. Während für Herodot das Ergebnis nicht eindeutig (kadmenischer Sieg) feststand, erlitten die Griechen nach Antiochos einen Rückschlag. Welche Schlussfolgerungen erlauben die widersprüchlichen Darstellungen? Entweder die nachherodoteische Tradition hat mit den Geschehnissen um Alalia nichts zu tun, und es handelt sich bei den von Thukydides, Pausanias und Pompeius Trogus überlieferten Vorgängen um andere Konflikte, oder alle Texte sprechen über den gleichen Sachverhalt, allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven. Diese Vermutung lässt sich durch folgende Beobachtungen erhärten: Zwar kommt, so weit erkennbar, eine etruskische Sichtweise der Ereignisse nirgendwo zum Vorschein, dafür lässt sich eine ostgriechische Tendenz ausmachen. Sie wird greifbar im herodoteischen Text, der, einer phokäischen Quelle folgend, den Karthagern eine Außenseiterrolle zuweist, während die Etrusker die Handelnden sind. Außerdem ist die Anlage des herodoteischen Phokäer-Logos zu berücksichtigen, in dem die Leidensgeschichte dieses Volkes das Hauptmotiv bildete. Dies könnte die Ursache dafür sein, dass sein Bericht an den Stationen der flüchtenden Phokäer, von Kleinasien über Korsika nach Italien, orientiert bleibt und daher das Engagement der Massalioten vernachlässigt. Thukydides dagegen beleuchtet diese Vorgänge aus einem anderen Blickwinkel. In dem Vorspann zur Geschichte des Peloponnesischen Krieges bilanziert er die vor der athenischen Machtentfaltung zur See nennenswerten Großtaten, wozu er den Erfolg der Massalioten über Karthago zählt, der in den Augen der griechischen Öffentlichkeit durch die Errichtung eines Schatzhauses in Delphi verherrlicht wurde. Hier ging es primär um eine denkwürdige Tat, und als solche galt dieser Seesieg. Daher war ein Eingehen auf die phokäischen Angelegenheiten nicht zwingend notwendig. Insofern thematisiert Thukydides das, was im Bewusstsein der mutterländischen Griechen über die maritime Position der Westgriechen in Erinnerung blieb: Die Schlagkraft der massaliotischen Flotte.

Angesichts einer solch uneinheitlichen Überlieferungslage bleibt zu fragen, was die untersuchten Autoren miteinander verbindet. Einmal fanden die einschlägigen Ereignisse etwa zur gleichen Zeit statt. Die von Thukydides vorgenommene Einbettung der Schlacht in die Zeit des Polykrates von Samos und des Kambyses legt dies nahe. Es herrscht ebenfalls Übereinstimmung über die Anlässe des Konflikts, nämlich die Massenankunft der flüchtenden Phokäer und die von ihnen betriebene Piraterie. Auch besteht trotz der unterschiedlichen Bewertungen hinsichtlich des Schicksals der Phokäer weitgehender Konsens. Schließlich markiert die Schlacht im Sardischen Meer den Beginn der überseeischen Expansion Karthagos. Sardinien und Ibiza sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Die frühesten Indizien, die eine Anwesenheit von Karthagern in Ibiza nahelegen, datieren aus dem letzten Drittel des 6. Jahrhunderts v. Chr. Die Bedeutung der Insel beruhte auf ihrer Stellung als Umschlagplatz und Knotenpunkt für die phönikische Seefahrt. Diese nahm deutlich zu, nachdem die alaliotische Piraterie beseitigt war.165 Ähnliches lässt sich für Sardinien sagen. Eine ältere phönikisch-orientalische Siedlungsphase geht ab Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. in eine karthagisch geprägte Phase über.

Auf den ersten Blick erlebte Alalia nach der Schlacht im Sardischen Meer eine Zäsur. Die Auswanderung nach Velia und Massalia bedeutete das Ende der griechischen Polis.166 Doch war auch das Ende der griechischen Präsenz auf Korsika damit verbunden? Wichtige Aufschlüsse über Alalia am Ausgang des 6. Jahrhunderts v. Chr. erhalten wir aus der Auswertung der Nekropole von Casabianda. Offenbar hat sich eine im wesentlichen einheimische Oberschicht in Alalia gebildet, in der griechische und etruskische Elemente integriert gewesen sind. Hier sind die Analogien zu anderen Orten, die ebenfalls einer phokäischen Akkulturation unterlagen, unübersehbar: Etwa der Fall Ampurias, wo ebenfalls ein Nebeneinander der iberischen und griechischen Bevölkerung zu beobachten ist.167 Antiochos von Syrakus und Pausanias legen nahe, dass ein Teil der vor den Persern flüchtenden Phokäer nach Massalia kam, was ein zusätzlicher Hinweis für die Beteiligung der Stadt am Konflikt gegen Etrusker und Karthager sein könnte. Das Schatzhaus der Massalioten in Delphi datiert aus dieser Zeit. Diese massaliotische Präsenz in Delphi, das Schaufenster der griechischen Welt, wird übereinstimmend als Indiz für die Prosperität der Stadt angesehen. Im letzten Drittel des 6. Jahrhunderts v. Chr. wurde ihre Chora erweitert und die landwirt-schaftliche Tätigkeit intensiviert, wohl aufgrund einer Bevölkerungszunahme. Hier könnte man an Flüchtlinge aus Alalia denken.168 Eine unmittelbare Folge der Schlacht im Sardischen Meer war die Gründung von Elea (Velia) an der lukanischen Küste unweit von Poseidonia, in einer Region, die von Eustathios, einem Scholiasten aus dem 12. Jahrhundert, als das massaliotische Italien (Italia massaliotiké) bezeichnet wird. Damit ist bereits der Zusammenhang zwischen den wichtigsten phokäischen Siedlungen des Westens angesprochen. Poseidonia prägte Münzen nach dem Vorbild Velias, die handwerklichen Produkte beider Städte sehen zum Verwechseln ähnlich aus. Wie die Arbeiten von Jean Paul Morel belegen, erlebte der Güteraustausch im Dreieck Massalia, Velia, Poseidonia ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. eine beträchtliche Dynamisierung.169

Die Vorgänge um Alalia und deren Folgen werden in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Besagte Auseinandersetzung sei lediglich eine belanglose Episode ohne nennenswerte Folgen, lautet eine Ansicht. Mehrheitlich wird jedoch als Ergebnis der Schlacht im Sardischen Meer ein Rückgang des griechischen Einflusses im Westen gesehen und eine Neuaufteilung dieser Region in einen karthagisch-etruskischen Machtblock. Ferner wird als Konsequenz des phokäischen Rückzuges aus Korsika angenommen, dass die Karthager eine antigriechische Blockadepolitik im äußersten Westen des Mittelmeerraumes praktiziert hätten, was allerdings unhaltbar ist.

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