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Cannae

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Im Hochsommer des Jahres 216 v. Chr. trafen sich die zwei mächtigsten Heere, die jemals auf italischem Boden aufgestellt worden waren, in der Ebene von Cannae.108 Ein Kräftemessen zwischen einer gewaltigen römischen Armee und den Truppen Karthagos stand unmittelbar bevor.109 Die Schlachtplanung des karthagischen Feldherrn Hannibal verrät eine erstaunliche Komplexität. Es ging darum, die Wucht des feindlichen Vorpreschens abzufedern, die eigene Reiterei zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen und dabei einen feindlichen Durchbruch zu vereiteln, ohne die eigenen Schlachtreihen in Unordnung geraten zu lassen. Gleichzeitig musste der Gegner an seinen Schwachstellen bedrängt und dezimiert werden. Das Gelingen dieses Vorhabens hing von dem reibungslosen Zusammenwirken der diversen Waffengattungen ab. Die Armee Hannibals hatte dank jahrelanger Zusammenarbeit einen hohen Grad an Professionalität erreicht. Sie war gewohnt, unter ihm zu dienen, kannte seine Anforderungen und wurde von bewährten Offizieren geführt. Dank ihrer Erfahrung war sie den zwar zahlenmäßig überlegenen, aber unzureichend ausgebildeten römischen Verbänden an Kampfkraft ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Die Dispositionen der Römer gingen von der Voraussetzung aus, dass der massive Angriffskeil der Legionen unwiderstehlich sei und daher die feindlichen Linien auseinanderreißen würde. Daher beabsichtigten sie, die bunt zusammengewürfelten Fußtruppen des Feindes aufzureiben, die zu erwartenden Attacken der feindlichen Reiterei an den Flanken abzuwehren und den entscheidenden Schlag im Zentrum der karthagischen Formation auszuführen. Energie und Masse waren die Trumpfkarten der Römer, die Karthager dagegen bauten auf Schnelligkeit, Flexibilität und Kampferfahrung.

Am 2. August 216 v. Chr. wurde eine der gewaltigsten Schlachten der antiken Kriegsgeschichte ausgetragen. Der Consul Gaius Terentius Varro, der an diesem Tag das Oberkommando führte, gliederte seine Armee in drei große Blöcke: Auf der rechten Seite die römischen Reiter, in der Mitte eine riesige Menge schwerbewaffneter Fußtruppen, den linken Flügel besetzte die Reiterei der römischen Bundesgenossen. Vor diesem gewaltigen Rechteck standen die leichtbewaffneten Abteilungen, die den Kampf eröffneten. Hannibal antwortete auf die römische Taktik, indem er die balearischen Schleuderer und die leichtbewaffneten libyschen Lanzenträger deutlich vor seine Schlachtreihe verlegte, um den römischen Vormarsch zu stören. Sein linker Flügel bestand aus keltischen und hispanischen Reitern. Den rechten Flügel bildete die numidische Reiterei. Am schwierigsten war aber die Behauptung des Mittelblocks. An seinen Rändern wurden libysche Infanteristen in römischer Bewaffnung postiert. Im Zentrum, dem neuralgischen Punkt der gesamten Schlachtreihe, standen die keltischen und hispanischen Fußtruppen unter dem direkten Befehl Hannibals. Nachdem das Heer Aufstellung genommen hatte, bildeten die keltischen und hispanischen Fußtruppen einen halbmondförmigen, weit ausgreifenden Bogen, um die vorpreschenden römischen Legionen darin aufgehen zu lassen. Parallel dazu ließ Hannibal seine keltischen und hispanischen Reiter auf die römische Kavallerie los, die, überrumpelt von deren Stoßkraft, beträchtlich dezimiert wurde und sich daraufhin zurückzog. In der Zwischenzeit hatten die römischen Legionen einen Frontalangriff auf das Zentrum der karthagischen Linien unternommen. Die keltischen und iberischen Verbände wichen geordnet zurück und umkreisten dabei die vorwärtsstürmenden Legionäre. Nun schwenkten die an den Rändern postierten libyschen Infanteristen nach vorn und vollführten dabei eine halbe Drehung. Sie attackierten die römischen Legionen an den Flanken, bremsten ihren ungezügelten Vormarsch und schlossen sie in einem Kessel ein. Die karthagische Infanterie umzingelte die in eine Falle geratenen römischen Fußtruppen und richtete ein Blutbad an. Zu allem Übel für die Römer gelang es den numidischen Reitern des Maharbal und Hanno, nach einem Sturmangriff die italische Reiterei zu zerstreuen. Dabei konnten sie auf die Unterstützung der keltischen und hispanischen Reiter des Hasdrubal rechnen. Als dann von der römischen und bundesgenössischen Reitertruppe nichts mehr übrig blieb, fiel die gesamte karthagische Reiterei den eingekesselten römischen Legionen in den Rücken und entschied die Schlacht.110

Hannibals Taktik ging weitgehend auf. Die römischen Truppen wurden zurückgedrängt, ohne dass sie sich zu großer Gegenwehr aufraffen konnten. Zehntausende sollen umgekommen sein, darunter der amtierende Consul Lucius Aemilius Paullus nebst zahlreichen Senatoren.111 Zahllose Legionäre gerieten in Gefangenschaft. Der Rest flüchtete. Unter ihnen befand sich der Consul Gaius Terentius Varro. Hannibals Verluste sollen dagegen verhältnismäßig gering gewesen sein. Doch darüber wird noch zu reden sein. Jedenfalls war der Mythos von der Unbesiegbarkeit der römischen Legionen endgültig dahin. Der Tag von Cannae ging in die Annalen als der schwärzeste Tag der römischen Geschichte ein. Hannibal stand im Zenit seiner Machtentfaltung. Im Kriegsrat, den der siegreiche Feldherr einberufen hatte, sollen einige seiner Offiziere ihn aufgefordert haben, sofort nach Rom zu marschieren. Es sei dahingestellt, ob die berühmte Äußerung des Befehlshabers der karthagischen Kavallerie Maharbal, Zu siegen verstehst du Hannibal, den Sieg zu nutzen verstehst du nicht!112, überhaupt historisch ist. Hannibal hatte andere Pläne. Vielfach wird vermutet, dass er, indem er den Angriff auf Rom gerade zu dem Zeitpunkt unterließ, der dafür militärisch wie auch psychologisch am besten geeignet war, den ersten und gleichsam fol genreichsten Fehler des Krieges beging. Die Belagerung nicht einmal versucht zu haben, soll eine verhängnisvolle Fehlentscheidung gewesen sein, die sich für Hannibal bitter rächen sollte – so wird vermutet. Tatsache sei, so wird weiter argumentiert, dass andere vergleichbare Armeen derartige Herausforderungen angenommen und erfolgreich abgeschlossen hätten. Die Eroberung von Syrakus einige Jahre später durch Marcus Claudius Marcellus beziehungsweise die Einnahme von Tarent durch Quintus Fabius Maximus werden als Vergleichsbeispiele angeführt.113

Doch diesen Ansichten liegt eine einseitige Sicht der Tatsachen zugrunde. Ihre Hauptzüge lauten wie folgt: Der zahlenmäßig überlegenen Masse frontal angreifender römischer Truppen begegnete Hannibal mit einer defensiven Taktik, die sich durch Beweglichkeit im Gelände auszeichnete. Obwohl den römischen Verlusten vergleichsweise geringe Einbußen auf karthagischer Seite gegenüberstanden, wagte es Hannibal nicht, die Gunst des Augenblickes zu nutzen. Indem er jedoch Rom verschonte, verschenkte er den fast schon errungenen Sieg. So oder ähnlich lautet die Quintessenz, die sich den vorhandenen Stellungnahmen der antiken und modernen Autoren entnehmen lässt.114 Die Frage ist, ob sich dies alles genauso zugetragen hat. Die vorherrschende Ansicht sieht in Cannae einen überwältigenden Sieg Hannibals, der letztlich durch seine Unentschlossenheit nachträglich verspielt wurde. Hannibal, so lautet der häufig erhobene Vorwurf, hätte nach dem römischen Debakel den Krieg durch die Einnahme Roms beenden können. Dass er sich dazu nicht aufraffen konnte, so wird gefolgert, erweist ihn als einen zwar militärisch fähigen, aber letztlich mit politischer Blindheit geschlagenen Troupier. Darüber hinaus lässt die Größe der Niederlage die Gloriole Roms heller erstrahlen: Es erscheint als ein Gemeinwesen sui generis, das selbst derartige Schläge nicht nur verkraftet, sondern sogar ins Gegenteil verkehren kann.

Die andere, der historischen Realität näherkommende Lesart muss die Tragweite von Cannae nüchterner beurteilen, ja sie sozusagen entmythologisieren. Selten verläuft eine Schlacht nach den Direktiven der in der Kommandozentrale ausgeheckten Taktik. Häufig kommt es in der Hitze des Gefechts zu Fehlleistungen, Überraschungsmanövern oder plötzlich auftauchenden Schwierigkeiten, die den vorgesehenen Ablauf vereiteln. Eine vergleichbare Disproportion zwischen Planung und Verlauf traf mit Sicherheit auch hier zu. Zwar konnte sich Hannibal auf dem Schlachtfeld behaupten und einen glänzenden taktischen Sieg davontragen, aber die Niederlage der römischen Legionen war mit beträchtlichen eigenen Verlusten erkauft.115 Seine Einbußen waren größer, als ein rein numerischer Vergleich zwischen den Potenzialen beider Gegner verdeutlichen kann. Es ist daran zu erinnern, dass Hannibal, anders als die Römer, nur schwer Ersatz für seine Truppen beschaffen konnte. Die karthagische Armee war nach dem gewaltigen Zusammenprall mit den in Cannae gebeutelten Legionen ebenfalls entscheidend geschwächt.116 Eine offensive Kriegführung alten Stils konnte sich Hannibal danach nicht mehr leisten. Dass er es vermied, nach Rom zu ziehen, ist auch ein Hinweis auf die deutlich verminderte Schlagkraft seines Militärpotenzials. Die Suche nach politischen Lösungen, die Hannibal nach Cannae energisch betrieb, war kein Beleg für seine staatsmännische Unbeholfenheit, sondern zeugte genau vom Gegenteil. Die Situation war ihm aufgezwungen worden, und er versuchte, das Beste daraus zu machen. Der Zugewinn neuer Bundesgenossen verschaffte ihm eine nötige Atempause.117 Die Römer wurden dadurch gezwungen, ihr bald nach Cannae aufgestelltes Heer zu teilen und sich an mehreren Fronten gleichzeitig zu erwehren. Spätestens ab diesem Zeitpunkt trugen die Karthager die Last des Krieges nicht mehr allein. Die von Hannibal von Anfang an konsequent verfolgte Strategie erlaubte ihm die Verwirklichung seines politisch-militärischen Hauptanliegens: die Fortsetzung seiner Unternehmung auf italischem Boden. Dies hatte zur Folge, dass Nordafrika von den Schrecken des Krieges bis auf weiteres verschont blieb. Für Hannibal, der als Knabe die Belagerung Karthagos durch die Söldner miterlebt hatte, bedeutete dieses Ziel mehr als die bloße Erfüllung eines strategischen Plans. Sollte Hannibal wegen des Debakels von Cannae allerdings von seinen Gegnern Friedensbereitschaft erwartet haben, so verrechnete er sich gründlich. Die Römer verweigerten jede Verhandlung. Nicht einmal wegen der Rückgabe der Kriegsgefangenen zeigten sie sich gesprächsbereit.118 Die Karthager hatten, ebenso wie die hellenistischen Staaten, eine andere Einstellung zum Krieg. Dieser konnte durch Verhandlungen beendet werden, sobald sich eine Kriegspartei entscheidende Vorteile verschafft hatte.119 Für die Römer war ein Krieg jedoch erst dann zu Ende, wenn der Unterlegene sich dem Willen des Siegers fügte.

Zwar hatte Hannibal in einem ähnlichen Alter wie einst Alexander, der wiederholt die Perser schlug und ihr Reich vernichtete, die machtbewusste römische Republik empfindlich getroffen, doch nach Cannae verläuft die Erfolgskurve des Karthagers anders als die des Makedonen. Im Gegensatz zu Alexander, der die Machtzentren des Perserreiches einnahm, zog Hannibal nicht als Sieger in die Hauptstadt des Gegners ein. Rom war eben nicht das Perserreich. Hannibal hatte für die Unabhängigkeit Karthagos zur Waffe gegriffen. Das Vorbild dafür bot das politische System der hellenistischen Staaten, das durch die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtes der Kräfte die Bildung einer allmächtigen Hegemonialmacht zu verhindern vermochte und die Existenz mehrerer in Konkurrenz zueinander stehenden Gemeinwesen ermöglichte. Dass sich Rom nicht in ein solches Korsett einspannen ließ, ist eine Erfahrung, die Hannibal im Augenblick seines großen Sieges in Cannae machen musste. Eine aufschlussreiche Paradoxie kennzeichnete die damalige politische Lage: Niemals zuvor war Rom so nahe am Abgrund gestanden und Karthago so meilenweit von einem Sieg entfernt.

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