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Hesiods Realismus

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Im Unterschied zur Ilias zeichnet sich die Odyssee durch eine schärfere Kontrastierung der sozialen Eliten aus. Während dort innerhalb eines Individuums unterschiedliche positive und negative Eigenschaften aufscheinen, sind die vornehmen Personen hier eindeutiger gezeichnet. Einer Reihe von schlechten Charakteren stehen etliche positive Beispiele gegenüber. Die Boshaftigkeit eines Echetos21 wird kompensiert durch das Wirken des Phäaken Alkinoos, dessen Regierung ideale Züge aufweist. Allein Odysseus, die Hauptgestalt des Epos, fällt aus dem Rahmen. Aufgrund der zahlreichen Verwicklungen, Perspektiven und Rollen, denen er im Verlauf seiner Irrfahrten unterworfen ist, entsteht ein komplexes Bild seiner Person, das nicht frei von Widersprüchen ist. Vor seinem Aufbruch nach Troja regierte er in Ithaka vorbildlich. Später wird er unter Anwendung von Gewalt seine alte Stellung zurückgewinnen. Es ist kein Zufall, dass in der Odyssee eine Anklage über die Ungerechtigkeit der basileis zu vernehmen ist22, die auf jene bitteren Töne vorausverweist, die eine Generation später bei Hesiod zu hören sind.

Jenseits der adligen Zirkel, die sich in einem ständigen Ringen um Erwerb und Behauptung von Macht, Einfluss und Ruhm befanden, existierte eine bäuerliche Welt voller Mühen, harter Arbeit und Überlebenskampf, die in Hesiods Gedichten, welche die Verhältnisse des frühen 7. Jahrhunderts v. Chr. reflektieren, ihre Stimme erhob. Dem Verfasser einer Göttergenealogie (Theogonie) verdanken wir ein Traktat, der aus persönlicher Betroffenheit entstand und den Titel Werke und Tage trägt. Hier werden Themen angesprochen, welche die Lebensbedingungen seines Verfassers unmittelbar berührten. Am Anfang des Proömions ist zu lesen: Musen, ihr vom pierischen Land, deren Sang den Ruhm gibt, hierher kommt und kündet von Zeus, lobpreist euren Vater! Sind durch ihn doch die Männer die sterblichen ruhmlos und ruhmvoll, unbekannt oder bekannt, nach Zeusdes Erhabenen Willen. Leicht gibt strotzende Kraft, leicht drückt den Strotzenden nieder, leicht lässt schwinden den Hochansehnlichen, wachsen den Niedrigen, leicht streckt grade den Krummen und lässt verdorren den Stolzen Zeus, der Donnerer droben, der wohnt in erhabensten Häusern. 23

Bereits die in feierlicher Gebetssprache abgefassten Verse gewähren Einblicke in die Bedingtheit menschlichen Tuns. Ruhmlos und ruhmvoll, hochansehnlich und unscheinbar, gebeugt und aufrecht durchwandern die Sterblichen ihr Dasein. Im Spannungsfeld dieser Gegensatzpaare entfaltet sich die von der Gottheit gelenkte irdische Existenz. Nichts scheint auf Dauer angelegt zu sein. Die Wechselbeziehung zwischen Glück und Unglück offenbart die Labilität der menschlichen Schicksale und kündet von deren Unvollkommenheit. Vornehme wie Geringe sind in gleicher Weise davon betroffen.24

Wenn Hesiod im Folgenden eine private Angelegenheit – nämlich die Erbstreitigkeiten, in die er mit seinem Bruder Perses geraten war – zum Ausgangspunkt seiner Dichtung erhebt, so tritt darin im Vergleich zu Homer nicht nur eine nüchterne Erzählebene zutage, sondern gleichzeitig eine neue Reflexionsebene über die gesellschaftliche Realität.25 Sein Autor, der aus dem Blickwinkel eines mittleren böotischen Landbesitzers schreibt, berichtet über die Beschwernisse des Alltags.26 An einigen Stellen der Werke und Tage ist von den geschenkeverzehrenden Herren27 die Rede, die bei Streitigkeiten als Schlichter angerufen wurden. Mit der Sammelbezeichnung basileis werden jene Machtmenschen gekennzeichnet, die als Richter auftraten.28 Neben der Kriegsführung29 galt die Rechtsprechung als ihre ureigene Domäne. Allerdings sollte man sich über die Vollmachten der Gerichtsherren keine hochtrabenden Vorstellungen machen, denn ihre Kompetenzen dürften begrenzt gewesen sein. Die Streitparteien mussten sich einvernehmlich auf einen Schlichter einigen. Ebenso mussten die Betroffenen den Schiedsspruch akzeptieren, denn nur so hatte seine Entscheidung Aussicht auf Erfolg, da dem Richter keine Vollstreckungsmittel zur Verfügung standen, um die Einhaltung des Urteils zu gewährleisten. Alles hing von seiner Fähigkeit ab, die Kontrahenten mittels eines für beide Seiten annehmbaren Spruchs zu befriedigen.30

Wie Hesiods Anspielungen zeigen, basierte das Renommee eines Adligen auf seinem öffentlichen Wirken für die Gemeinschaft. Handelte er zur allgemeinen Zufriedenheit, so stiegen sein Ansehen und seine Autorität. Agierte er aber eigennützig und rücksichtslos, so riskierte er Anfeindung und den Verlust seiner sozialen Anerkennung. Die dargestellte Situation verdeutlicht auch, dass Hesiod und Perses, zwei freie Landbesitzer, die in einen Streitfall involviert waren, zur Schlichtung ihrer Rechtshändel der Mitwirkung der basileis eigentlich nicht bedurften, denn sie hätten ihren Zwist von sich aus beilegen können. Daher kündet die unfreundliche Tonart, die gegen die ortsansässigen Notabeln angeschlagen wird, auch vom Selbstbewusstsein der mittleren, Grund besitzenden Schichten, die als Glieder der Polis sowohl auf dem Schlachtfeld als auch in der Volksversammlung deren Geschicke entscheidend mitbestimmten.31

Zweifellos trug die Dominanz der heroischen Kulisse, vor der die Protagonisten der Ilias und Odyssee agierten, ihren Teil dazu bei, die zeitgenössischen Konturen der homerischen Eliten zu verwischen. Bei Hesiod dagegen werden die Führungsschichten aus direkter, teils sogar aus persönlich belasteter Erfahrung heraus geschildert. Dies führt zwar zu subjektiven Bewertungen, aber gerade die bitteren Worte, die Hesiod zur Kennzeichnung der lokalen Machteliten findet, unterstreichen die Überzeugungskraft seiner Ausführungen. Sie verdeutlichen die Kehrseite des Alltags mit seinen Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten. In der Welt der Werke und Tage waren die basileis keine strahlenden Helden, wie sie uns bei Homer häufig begegnen, sondern raffgierige Honoratioren, die sich die Nöte der unteren Bevölkerungsschichten zunutze machten.32 Den vielfachen Beschwörungen gegen die Willkür der Mächtigen wohnt eine Appellfunktion inne. Nach Hesiods Überzeugung wurden durch ihre schiefen Urteile nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die sittlichen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens beschädigt. Um gegen diese weitverbreiteten Missstände vorzugehen, wird im Verlauf des 7. Jahrhunderts v. Chr. eine Kodifizierung des Rechts gefordert, was jedoch nur selten erfüllt wurde. Die schlechte Überlieferungslage vermerkt lediglich die Gesetzeswerke des Zaleukos von Lokroi, Charondas von Katane und des Atheners Drakon (um 620 v. Chr.). Letztere sahen eine Reihe von Sanktionen für Gesetzesübertretungen vor, die wegen ihrer überaus großen Härte eine zweifelhafte Berühmtheit erlangen sollten.

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