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Ariovist

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Eines der ersten Beispiele eines Barbaren aus dem Norden finden wir in Caesars Bericht über den Germanenhäuptling Ariovist152, der als besonders herrschsüchtig und mächtig vorgestellt wird – wohl stärker als er in der Realität war –, um damit die eigenen Leistungen hervorzuheben.153 Dabei zeichnet Caesar ein Bild vom Anderssein eines ungestümen Fremden, der gegenüber römischen Wertmaßstäben unvorteilhaft hervorstach. Zur Legitimierung seines Vorgehens gegen Ariovist, der noch im Jahre 59 v. Chr., ausgerechnet während Caesars Consulat, als amicus des römischen Volkes geehrt worden war, diente – wie so oft – ein gallisches Hilfegesuch: Nachdem Ariovist jedoch einmal die Truppen der Gallier in der Schlacht bei Magetobriga geschlagen habe, regiere er selbstherrlich und grausam, er fordere die Kinder des höchsten Adels als Geiseln und strafe und foltere sie auf jede Weise, wenn etwas nicht nach seinem Wink und Willen geschehe. Er sei ein jähzorniger und unberechenbarer Barbar, sie könnten die Art seiner Herrschaft nicht länger ertragen (…). Es bestehe jedoch kein Zweifel daran, dass Ariovist, falls man ihm dies verrate, alle Geiseln, die er in seiner Gewalt habe, hinrichten lassen werde.154

Aus Caesars commentarii über den Gallischen Krieg erfahren wir, dass der pflichtbewusste Statthalter nicht tolerieren konnte, dass Ariovist die Haeduer, die Bundesgenossen der Römer, unterdrückte. Weiterhin wird die Gefahr ausgemalt, die für die römischen Interessen bestand, wenn unkontrollierte Germanenhaufen auf Veranlassung Ariovists den Rhein nach Belieben überquerten. Vermutlich handelte es sich bei dieser Begründung seines Eingreifens keinesfalls um eine nachträglich ersonnene Rechtfertigung, sondern sie dürfte wohl in dieser Form dem römischen Senat gegeben worden sein.155 Caesar verlangte ultimativ die Beendigung der germanischen Einwanderung nach Gallien. Weiterhin seien die von den Haeduern geforderten Geiseln freizulassen. Darauf entgegnete Ariovist, er sei als Sieger rechtmäßig verfahren, denn auch das römische Volk würde in einem ähnlichen Fall sich nicht nach den Forderungen einer dritten Partei richten. Damit stellte sich der selbstbewusste Anführer der Germanen auf eine Stufe mit Caesar, wenn er mit den Besiegten so umging, wie es die Römer üblicherweise taten. Dass eine solche Haltung vom römischen Standpunkt aus als Anmaßung und als Ausdruck einer überspannten Hybris gewertet wurde, bedarf keines Beweises.

Die Episode kommt uns bekannt vor. Sie erinnert uns an die in den entwickelten, reichen Staaten der Gegenwart geführte Diskussion über die Aufnahme und Integration von Migranten aus den krisengeschüttelten Teilen der Welt. Wenn heute die Gefahr für die Architektur der eigenen Sozialordnung durch den Andrang der aus fremden Kulturen stammenden Aufnahmesuchenden heraufbeschworen wird, so waren damals die außerhalb des eigenen Wahrnehmungshorizontes lebenden Germanen die Zielpunkte der in jeder Gesellschaft offenbar unausrottbaren Xenophobie. Daher legte Caesar, um die Kriegslüsternheit der Germanen, die durch ihre Wildheit, Frucht einer jahrelangen Ermangelung fester Wohnsitze, zur blinden Tapferkeit angespornt worden seien sowie um den barbarischen Hochmut ihres Anführers zu unterstreichen, Ariovist Sätze wie diese in den Mund: Was die Tatsache angehe, dass Caesar betont habe, er werde Übergriffe gegen die Haeduer nicht hinnehmen, so habe sich noch nie jemand mit ihm auf einen Kampf eingelassen, ohne dabei in sein Verderben zu stürzen. Wenn Caesar wolle, solle er angreifen; er werde sehen, was die nie besiegten, in höchstem Maße waffenerprobten Germanen, die vierzehn Jahre lang kein Dach über dem Kopf gehabt hätten, mit ihrer Tapferkeit zu leisten vermöchten.156

Auf die Nachricht, dass gallische Gebiete verwüstet wurden und eine starke suebische Truppe im Begriff sei, den Rhein zu überschreiten, setzte Caesar sein Heer in Marsch. Da Ariovist beabsichtigte, seine Truppen nach Vesontio (Besançon) in Stellung zu bringen, zog auch Caesar dorthin, um die Stadt zu besetzen. Kurz vor der Eröffnung der Feindseligkeiten soll sich jedoch Angst und Schrecken im römischen Heer ausgebreitet haben, als die Gallier Gerüchte über die Gestalt und Kampfkraft der Germanen ausstreuten: Sie erklärten beharrlich, die Germanen seien von ungeheurer Körpergröße, unglaublich tapfer und waffenerprobt, und wenn sie mit ihnen des Öfteren zusammengestoßen seien, hätten sie nicht einmal die Mienen und den scharfen Blick ihrer Augen aushalten können.157

Derartige Notizen reihen sich in die bisherige Darstellung des bedrohlichen, unberechenbaren Barbaren ein, der nun dem Leser furchteinflößend mit ungeheurer Körpergröße und finsterem Blick gegenübersteht. Die Panik soll bei den römischen Soldaten ein solches Ausmaß erreicht haben, dass einige ihre Testamente verfasst und andere gar an Fahnenflucht gedacht haben sollen. Der römische Feldherr beruhigte jedoch die Gemüter seiner Legionäre mit einer emotionalen Rede, in der er auf vergangene Siege wie die des Marius über die Kimbern und Teutonen oder auf die Erfolge im Sklavenkrieg verwies. Die Erinnerung an bereits geleistete Heldentaten spornte sie an. Außerdem wirkte diese Form der Selbstvergewisserung identitätsbildend gegenüber den in den Augen der Römer unzivilisierten Barbaren, die keine vergleichbaren Erfolgsgeschichten vorweisen konnten. Auch der Rekurs auf den Aberglauben der Germanen wird aufgeboten, um das entworfene Barbarenporträt abzurunden. So berichtet Caesar, wie Ariovist eine Militäraktion wegen des Neumondes vermied und dass die Germanen nur Gegenstände anbeten würden, die sie sahen, nämlich Sonne, Feuer und Mond, womit sie als phantasielose Anhänger eines unterentwickelten Naturkultes abqualifiziert werden158, was die Vorstellung des unzivilisierten Barbaren zusätzlich verstärken sollte. Schließlich kam es zur Schlacht, bei der die Germanen vernichtend geschlagen und aus Gallien vertrieben wurden.

In der Darstellung Ariovists wurde ein Urtypus des Barbaren geschaffen, der als naturhaft, jähzornig, unberechenbar, selbstherrlich und grausam galt. Das konstruierte Feindbild diente dazu, die rücksichtslose und eigensüchtige Handlungsweise Caesars zu beschönigen. Seine gewagten militärischen Interventionen sollten nicht als das wahrgenommen werden, was sie wirklich waren: Rücksichtslose Aggressionen gegen Völker jenseits der römischen Provinzgrenzen. Daneben sollte auch die römische Zuverlässigkeit gegenüber Bundesgenossen betont werden, die durch den zügellosen Barbaren Ariovist in Bedrängnis geraten waren.159 Caesars Barbarenbild speist sich aus zwei miteinander verwobenen Bestandsteilen. Zum einen spielte der personengebundene Aspekt eine wichtige Rolle, insbesondere das wilde Gebaren fremder Menschen, die hinsichtlich ihrer Lebensweise, ihres Aussehens und Verhaltens einen Kontrast zu der als normgebend empfundenen Wesensart der Römer bildeten. Auf der anderen Seite kommt ein strukturelles Merkmal hinzu. Es liefert die Vergewisserung, dass die Romnähe beziehungsweise Romferne nicht nur den räumlichen Abstand gegenüber barbarischer Lebensweisen markierte, sondern auch die eigene kulturelle Überlegenheit unterstrich. Dies wird von Caesar eher beiläufig vermerkt, als er auf die Grenzlage der römisch beeinflussten Regionen Galliens als zivilisatorisches Kriterium hinwies. Mit Bezug auf die den Ubiern benachbarten Germanen führte er aus: Auf der anderen Seite schließt das Gebiet der Ubier an, die für germanische Verhältnisse ein großes und blühendes Volk sind. Sie sind etwas zivilisierter als die übrigen Germanen, weil ihr Gebiet an den Rhein stößt und sie viel Verkehr mit Händlern haben. Wegen der Nähe zu Gallien haben sie selbst gallische Sitten angenommen.160

Gerade dieser letzte Aspekt, die Bewertung der geographischen Entfernung beziehungsweise Nähe zu Rom als Zivilisationsdefizit oder gar als eine Art Kulturbonus, je nach Perspektive, sollte sich im römischen Schrifttum zu einem geläufigen Topos entwickeln, den wir später bei Tacitus und vielen anderen antiken Autoren wie Ammianus Marcellinus, der nun ausführlich behandelt werden soll, zur Kennzeichnung barbarischer Lebensweisen immer wieder begegnen werden.

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