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5 Vergangenheit als Ideal Cincinnatus

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Es gibt keine treffendere Untermauerung der mit dem legendären amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in Verbindung gebrachten Sentenz „Frage nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern was du für den Staat tun kannst“82 als die Besinnung auf die für die Geschichte der frühen römischen Republik bezeichnende Cincinnatus-Episode. Dass sie in den englischen Kolonien Nordamerikas verbreitet war, belegt die Tatsache, dass der Staatsgründer George Washington noch während des Unabhängigkeitskrieges, den die Aufständischen gegen das britische Mutterland führten, eine „Society of the Cincinnati“ ins Leben rief. Noch heute erinnert die Stadt Cincinnati in Ohio daran, ebenso wie die Kommune Cincinnato in Italien, die nach einem der bekanntesten Heroen der frühen römischen Republik benannt wurde. Kennedys Sentenz und Cincinnatus’ Lebenslauf verbindet die Vorstellung vom uneigennützigen Einsatz der Bürger für das Gemeinwohl. Gleichzeitig wird damit der Vorrang der öffentlichen Belange gegenüber der Verfolgung privater Angelegenheiten unterstrichen.

Doch was wissen wir wirklich vom historischen Lucius Quinctius Cincinnatus? Wohl nicht viel mehr als dass er, neben der pflichtgemäßen Ausübung einiger Staatsämter, ein zurückgezogenes Leben geführt und sich der Pflege seines Gutes gewidmet habe. Aus dem Gestrüpp von Legenden und historischen Reminiszenzen entstehen bukolische Bilder wie das eines Mannes, der aufgrund familiären Ungemachs hinter einem Ochsengespann seine Felder bewirtschaftet und alles liegen lässt, wenn ihn der Staat braucht.83 Nach Livius, unserer Hauptquelle, führte er auf Wunsch des Senats die römischen Truppen gegen die feindlichen Stämme der Sabiner, Aequer und Volsker an.84 Obwohl während seiner Abwesenheit seine Äcker unbestellt blieben, was für seine Familie schlimme Konsequenzen hatte, zögerte er keinen Augenblick, sich zur Verfügung zu stellen und seine Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen zu erfüllen. Binnen kürzester Frist soll er die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt und die Feinde Roms bezwungen haben. Die Angst der Bürger, er könnte sich nach dem erzielten Erfolg an die Macht und die Ämter klammern, erwies sich jedoch als unbegründet. Nach Erledigung seines Auftrags legte Cincinnatus den Oberbefehl nieder, zog sich ins Privatleben zurück und widmete sich fortan der Bewirtschaftung seines Landguts.85 Auch soll er keinen materiellen Ausgleich für seine Dienste für die Allgemeinheit verlangt haben. Damit wurde er zum Inbegriff des idealen Bürgers und Staatsdieners.

Zwei Deutungen der Cincinnatus-Episode drängen sich auf: Einerseits wurde er zum Musterbürger, der seine privaten Angelegenheiten der Staatsräson bereitwillig unterordnete, andererseits diente er den Römern der späten Republik als Paradigma für die Bindekraft der Tradition, oder anders ausgedrückt: für die Verbindlichkeit des mos maiorum als Orientierungsrahmen für sachgerechtes politisches Verhalten. Damit reiht sich Cincinnatus mit anderen Persönlichkeiten der Frühzeit in eine Ahnengalerie von illustren Gestalten ein, die sowohl als Garanten für den Aufstieg Roms zur Führungsmacht im Mittelmeerraum galten, als auch das Erinnerungsprofil einer verklärten Vergangenheit prägten. Kein anderes Volk des Altertums hat sich häufiger auf die eigene Vorgeschichte berufen, um damit bestimmte politische Strategien zu verfolgen oder gezielte emotionale Wirkungen zu erzielen, als die Römer. In ihrer historischen Erinnerung gerieten die Episoden ihrer fernen Vergangenheit zu ruhmvollen Exempla für sachgemäßes politisches Agieren, die es nachzuahmen galt. Das Gewesene wird damit zum Ideal und zum Modell für die Bewältigung der Zukunft stilisiert. Auf diese Art und Weise gerät die Instrumentalisierung der Vergangenheit zum politischen Programm und gleichsam zum Maßstab des politischen Handelns für Gegenwart und Zukunft.

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