Читать книгу Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers - Pernille Juhl - Страница 10

Sønderborg, 8. April 1940

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An einem der ersten richtigen Frühlingstage lag Christian in voller Montur in seiner Koje und war ausnahmsweise einmal froh darüber, dass Aksel nichts sagte. Sein Freund lag leise schnarchend in der Koje über ihm, und Christians Körper summte angenehm von der Anstrengung, die hinter ihm lag. Er vermochte kaum, den Arm zu heben, und bei dem Gedanken daran, gleich die Füße über die Kante schwingen und aufstehen zu müssen, bildeten sich tiefe Falten auf seiner Stirn. Zwei schmerzhafte Blasen hatten sich unter den Sohlen gebildet. Na ja, es war nicht das erste Mal und würde sicher auch nicht das letzte Mal sein.

Er schloss die Augen. Warum konnte er nicht schlafen, obwohl sich der seltene Luxus einer langen Mittagspause bot? Obendrein hatte er sich im Speisesaal zweimal Nachschlag geholt! Nach den Strapazen des Vormittags hatte er das unbedingt verdient, wie er fand, sie hatten sich vom Übungsplatz im Sønderskoven förmlich zur Kaserne geschleppt.

Der Kalender zeigte den achten April; nur noch wenige Tage bis zu seiner Ernennung zum Oberfeldwebel. Er musste sich ausruhen, versuchen, ein wenig zu schlafen, bevor der Befehl zum Antreten über den Flur gebrüllt wurde, aber in seinem Kopf kreisten die Gedanken wie kurze Filmaufnahmen, die ineinander übergingen. Abschied von den Kameraden. Ankunft in der Hauptstadt. Er spürte Unbehagen bei dem Gedanken daran, sich auf diesen Weg zu begeben. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Wollte alles von sich wegschieben. Nicht zuletzt, weil ihm seit Kurzem immer wieder Zweifel kamen und seine Zuversicht zersetzten. Hatte er wirklich die richtige Entscheidung getroffen?

Lieber stellte er sich ein Familientreffen bei Oma vor. Alle würden da sein und über seine hervorragenden Prüfungsergebnisse und seinen neuen Dienstgrad staunen. Oberfeldwebel. Er würde ihnen erzählen, dass er vorhatte, die Offizierslaufbahn einzuschlagen, und Oma würde ihn mit ihren runden Augen ansehen und sagen ‚Jesus! Kedde, mein Lieber, wirst du denn nie fertig? Willst du es etwa zu etwas noch Vornehmeren bringen?‘ Alle würden so stolz auf ihn sein. Oma würde zu Nachbar Bjerre laufen und es ihm erzählen. ‚Haben Sie schon gehört, unser Kedde geht nach Kopenhagen, um etwas zu werden, das man Offizier nennt. Er macht eine Ausbildung auf Frederiksberg Slot und Kronborg, direkt bei der königlichen Familie.‘ Und Bjerre würde garantiert sagen: ‚Dewsen i 'et'‘, was man nur in Südjütland verstand und was soviel bedeutete wie ‚Hat man Töne‘. Bjerre sagte es immer, wenn ihn etwas überraschte oder beeindruckte.

Auf irgendeine Weise würde sicher auch Gerda davon hören. Natürlich konnte er auch einfach bei ihr vorbeischauen und es ihr selbst erzählen, ihr Mann hatte ihr ja wohl nicht verboten, sich mit alten Freunden zu unterhalten?

Lächelnd und mit geschlossenen Augen lag er da. Dachte daran, dass es sehr schade war, sich von Aksel und Petersen verabschieden zu müssen.

Dann drangen andere Geräusche in sein Bewusstsein. Es war nicht Aksels Schnarchen, nicht Poulsens Murmeln und erst recht nicht Oves Furzen. Auf dem Flur vor ihrer Tür gab es Unruhe, und es klang, als würde jeden Moment etwas passieren. Christian stützte sich auf den Ellbogen und lauschte, und einige der Kameraden taten es ihm nach, während sie sich müde mit der anderen Hand übers Gesicht fuhren. Allen war klar, dass es gleich mit ihrer Siesta vorbei sein würde.

William gähnte gerade ausgiebig, als auf der anderen Seite der Tür „Alarmbereitschaft!“ gebrüllt wurde. Alle hatten in voller Ausrüstung auf dem Flur anzutreten.

„Was zum Teufel soll das denn?“, fragte Gustav, der in der unteren Koje neben Christian lag. „Versuchen sie jetzt auch noch, witzig zu sein?“

Christian war bereits aufgestanden. „Beim Militär gibt’s keinen Humor.“ Unsanft rüttelte er Aksel aus dem Schlaf.

„Was soll das?“ Mürrisch starrte Aksel ihn an.

„Alarmbereitschaft“, sagte Christian nur und war im nächsten Augenblick bei seinem Spind.

„Das darf doch nicht wahr sein“, knurrte Aksel und kletterte aus seiner Koje.

Alle stolperten wild durcheinander in der Stube herum, aber nur wenige Minuten später standen sie in Stiefeln, Uniform, Mütze und mit vollem Gerödel in Reih' und Glied auf dem Flur. Vor ihnen stand der Kasernenkommandant und sah sie mit ernster Miene an. Es musste irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen sein, wenn der Herr Hauptmann die Meldungen über das vollzählige Antreten der Züge selbst entgegennahm. In militärischer Kürze informierte er sie darüber, die Alarmbereitschaft sei befohlen worden, weil man sechzig Kilometer südlich der Grenze eine starke deutsche Militäreinheit beobachtet habe, die in Richtung Dänemark vorrücke.

Er schloss mit dem Befehl, sich in Gruppen zu formieren und zusätzliche Ausrüstung in Empfang zu nehmen. Christian hob überrascht die Augenbrauen, als man ihnen scharfe Munition, Erste-Hilfe-Päckchen des Roten Kreuz' und Notverpflegung in Form von Konservendosen aushändigte. Äußerst ungewöhnlich. Den nachhaltigsten Eindruck aber hinterließ eine kleine Plakette aus Metall, in die sein Name und das Wort Dänemark eingraviert waren. Sie wurde um den Hals getragen und konnte in der Mitte entzwei gebrochen werden. Der Name stand auf beiden Hälften. Der Hauptmann rief ihnen die Instruktionen in Erinnerung, die sie schon früher einmal bekommen hatten: Fand man einen toten Kameraden, brach man die untere Hälfte der Plakette ab, nahm sie mit und übergab sie seinem Vorgesetzten.

Christian schauderte.

Danach wurde Wegtreten befohlen, sie hatten sich auf die Stuben zu begeben und weitere Befehle abzuwarten. Es war kaum zu fassen. Noch vor ein paar Minuten hatten sie in ihren Kojen gelegen und waren nur darauf aus gewesen, sich auszuruhen. Jetzt liefen einige zwischen den Kojen auf und ab, andere saßen auf den Matratzen, während alle möglichen Theorien quer durch den Raum gerufen wurden.

Aksel klang enthusiastisch, als er sagte: „Vielleicht können wir jetzt endlich losschlagen. Es wäre mir ein ausgesuchtes Vergnügen, den Deutschen ordentlich den Arsch zu versohlen!“

„Es geht doch nur um die angespannte Situation in Norwegen. Mit uns hat das Ganze überhaupt nichts zu tun“, stellte Petersen fest.

„Und warum marschieren die dann von Süden auf unsere Grenze zu?“, fragte ein anderer.

„Weil sie nach Norwegen wollen“, meinte ein Dritter.

„Aber warum tun wir nichts?“, fragte ein Vierter und stemmte die Hände in die Hüften. „Warum werden wir nicht an die Grenze geschickt, um den verfluchten Deutschen einen gebührenden Empfang zu bereiten?“

„Ich begreife es nicht.“ Poulsen schüttelte heftig den Kopf.

„Wer sagt eigentlich, dass das keine Übung ist?“, rief einer.

Wie seine Kameraden auch, überprüfte Christian sein Gewehr noch einmal besonders sorgfältig. Seine Gedanken wanderten an die Grenze, nach Kollund, zu seiner Familie, für die er nun nicht da sein konnte. Eine Übung? Nein, er glaubte nicht daran.

Der Nachmittag zog sich in die Länge. Rastlosigkeit herrschte auf der Stube, und ihre Diskussionen drehten sich weiter im Kreis und führten zu nichts als Vermutungen und Spekulationen. Einige malten sich das Schlimmste aus, andere glaubten an die Norwegen-Theorie und bagatellisierten das Ganze. Christian dachte an den morgigen Tag. War er das letzte Mal mit seinen Freunden zusammen? Würden sie nach Morgen noch am Leben sein? Würden Kollund, Sønderborg und andere dänische Städte bombardiert und ausgelöscht werden, so wie es in Polen geschehen war?

Ihm war klar, dass sich die anderen ähnliche Gedanken machten.

Ein Kamerad, den sie Stehaufmännchen nannten, sagte plötzlich: „Was, wenn Deutschland sich Nordschleswig einverleibt? Was, wenn wir auf einmal für die Deutschen kämpfen sollen?“

Als sie nach dem Abendessen zurück auf der Stube waren, hatte sich an der Situation nichts geändert. Die Frustration und die vielen unbeantworteten Fragen waberten durch den Raum wie Gespenster auf einem Spukschloss.

„Was zum Henker geht da vor? Ich hatte damit gerechnet, dass wir beim Abendessen wenigstens mal über die Lage informiert werden“, sagte Aksel im Berg'schen Tonfall und breitete hilflos die Arme aus. Er stand zwischen den Kojen mitten im Raum und sah vorsichtig formuliert unzufrieden aus.

„Anscheinend ist momentan niemand in der Lage, Entscheidungen zu treffen“, stellte Poulsen fest. „Vielleicht sollte man die Dinge selbst in die Hand nehmen. Sie müssen doch ein paar Leute an die Grenze schicken! Was denken die sich eigentlich?“

Einige lachten.

„Ja klar, Poulsen. Am besten marschierst du gleich mal beim Hauptmann auf und sagst ihm so richtig Bescheid“, höhnte Stehaufmännchen.

Poulsen sah ihn scharf an. „Das würde mir nicht das Geringste ausmachen. Sie bekommen es ja selbst nicht hin.“

Aksel plusterte sich auf. „Sag den Schlappschwänzen, dass wir den Deutschen die Seele aus dem Leib prügeln werden, bis sie auf dem Absatz kehrtmachen und wieder nach Hause gehen!“

„Wie wär's denn, wenn wir Kedde schicken? Er ist so gut wie Oberfeldwebel und sowieso der einzige von uns, den sie ernst nehmen“, meinte Stehaufmännchen, und alle sahen Christian an.

„Natürlich, ich klopfe mal eben bei den hohen Herren an die Tür und führe ein ernstes Gespräch mit ihnen, weil sie offenbar nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen“, antwortete Christian und schnitt eine Grimasse.

Er hatte kaum ausgesprochen und seine Kameraden lachten lauthals, als plötzlich ein Offizier in der Tür stand.

„Zehn Uhr, Bettruhe in Uniform.“

Nachdem der Offizier ihre Stube verlassen hatte, murmelte Stehaufmännchen: „Was zur Hölle denken die sich bloß dabei?“ Einige lachten leise ein nervöses Lachen. Wieder schienen Geister durch den Raum zu schweben. Es beschlich sie ein Gefühl, als hätten die Deutschen die Kaserne bereits umstellt. Nachdem sie alle noch einmal die scharf geladenen Gewehre überprüft und neben den Kojen abgestellt hatten, legten sie sich in voller Uniform auf die Matratzen, um zu schlafen.

„Vielleicht ist es ja doch nur eine Übung“, flüsterte irgendjemand, nachdem das Licht ausgegangen war.

Christian bekam nicht viel Schlaf. Um halb fünf wurden er und seine Kameraden von demselben Offizier geweckt, der auch schon die Meldung über den Grenzübertritt der deutschen Truppen gemacht hatte. Die dänischen Streitkräfte hatten den Kampf aufgenommen, und ihre Kompanie sollte den Einheiten bei Søgård zu Hilfe eilen.

Da sie in Uniform geschlafen hatten, dauerte es nur wenige Minuten, bis alle angetreten waren.

„Als Erstes werden Sie nach unten in den Speisesaal gehen und das Frühstück einnehmen“, fuhr der Vorgesetzte fort.

Christian und die anderen sahen sich verdutzt an. Frühstück?

„Ich dachte, wir hätten es eilig“, stieß Petersen auf dem Weg in den Speisesaal zwischen den Zähnen hervor.

Im Speisesaal erhielten sie den Befehl, ein Verpflegungspaket für die bevorstehende Fahrt in Empfang zu nehmen. Christian wunderte sich einmal mehr, und überall an den Tischen wurde geflüstert und getuschelt. Die Soldaten warfen sich vielsagende Blicke zu.

Während sie aßen, hörten sie Busse draußen auf dem Kasernenhof vorfahren, und Aksel sagte in bester Berg-Manier: „Ohne Mampf kein Kampf … Die in Søgård müssen eben noch ein bisschen durchhalten.“

Dann standen endlich alle vierhundert Mann in voller Ausrüstung draußen auf dem Kasernenhof und brannten darauf, nach Søgård zu kommen und endlich etwas auszurichten, einen Unterschied zu machen; ihren Kameraden zu Hilfe zu kommen und den Feind zurückzudrängen. Christian atmete tief durch. Für das hier war er ausgebildet, er war bereit.

Es war immer noch dunkel. Wie eine endlose Kette aus Schatten standen sie auf dem Hof, der von wenigen Lampen schwach beleuchtet wurde. Der Schotter knirschte unter ihren Stiefeln. Sechs Busse standen bereit, und sie warteten auf den Befehl zum Einsteigen. Die Anspannung war förmlich mit Händen zu greifen. Christian fühlte sich als Teil von etwas Größerem. Er versuchte sich einzureden, die Unruhe, die ihn ergriffen hatte, werde sich schon wieder verflüchtigen, sobald alle im Bus saßen.

Dann brüllte jemand „Luftangriff, Deckung suchen!“ Einen Augenblick lang glaubte er, sich verhört zu haben, aber dann wurde der Befehl noch einmal gerufen, und der Motorenlärm eines Flugzeugs war zu hören.

Christian schlug das Herz bis zum Hals, seine Hände wurden feucht. Sie hatten den Befehl während der Übungen unzählige Male erhalten, aber was tat man, wenn vierhundert Mann in ein und demselben Augenblick Deckung suchen sollten? Wenn sie mitten auf einem offenen Platz standen? Panik packte ihn. Sie konnten unmöglich alle entlang der Kasernenmauer in Deckung gehen, sie waren viel zu viele, und nur Wenige würden die Türen zu den Schutzräumen erreichen. Was sollte er tun?

Er war gefangen zwischen all den anderen, die wild durcheinander rannten auf der Suche nach der Deckung, die nicht zu finden war. Hörte das Flugzeug näher kommen. Sah die große Maschine, die wie ein gewaltiger, Unheil verkündender Drache am dunklen Himmel auftauchte und dicht über ihren Köpfen dahinglitt. Gleich würden die Bomben fallen, riesige glühende Kugeln, die mit großer Geschwindigkeit zur Erde fielen, so stellte er es sich jedenfalls vor. Sie würden die ganze Kaserne auslöschen.

Dann verschwand das Flugzeug, wurde zu einem dunklen Brummen über dem nachtschlafenden Sønderborg. Christian lauschte, wartete darauf, dass es zurückkam.

„Ein Aufklärer“, stellte sein Nebenmann fest und atmete erleichtert auf. Christian war zu dem selbem Schluss gekommen.

Die Lage hatte sich geändert. Der Marschbefehl wurde aufgehoben und sie erhielten die Order, zu bleiben und Als zu verteidigen. Dänische Truppen befanden sich auf der Hauptstraße auf dem Rückzug Richtung Norden und würden bald bei Åbenrå stehen.

Die einzelnen Züge bekamen weitere Befehle. Einer sollte zum Frydendal Kro vorrücken und dort Stellung beziehen, ein anderer die Brücke über den Alssund verteidigen. Christians Zug wurde auf den Sportplatz zwischen der Kaserne und dem Krankenhaus beordert. Auf dem Weg dorthin passierten sie einige schlaftrunkene Leute, die vom Lärm der Maschine geweckt worden waren und jetzt auf den Bürgersteigen standen, den Blick zum Himmel gewandt, und mit den Nachbarn sprachen. Auch in den Fenstern der Häuser waren Menschen zu sehen. Christian tauschte einen Blick mit Petersen aus und meinte, die gleiche Gereiztheit zu erkennen, die auch von ihm Besitz ergriffen hatte. Einen Sportplatz zu verteidigen stimmte ganz und gar nicht mit ihrer Vorstellung davon überein, für ihr Land zu kämpfen.

Der Sportplatz war eine große, ebene Wiese mit einem Fußballtor auf beiden Seiten, eine offene Fläche. Was sollen wir hier? fragte Christian sich. Er folgte seiner Gruppe, die an dem umlaufenden Zaun Stellung bezog. Die Gewehre im Anschlag, lagen sie auf dem Boden und rührten sich nicht. Allmählich ging die Sonne auf, und aus dem Grau der Dämmerung wurde heller Tag. Alles veränderte sich. Das Gras wurde grün, und Flugzeuge würden sehr viel früher zu sehen sein.

Christian konzentrierte sich, aber erst einmal geschah nichts. Dann hörten sie plötzlich wieder das Brummen von Rotoren, einen Moment später tauchte die Maschine auf und flog dicht über die Kaserne hinweg. Ihr Zugführer schrie: „Feuer!“

Sie mussten getroffen haben, es waren so viele Schüsse gefallen. Christian und seine Kameraden rissen die Augen auf, mussten aber enttäuscht zusehen, wie das deutsche Flugzeug mit dem Hakenkreuz am Heck und dem schwarzen Kreuz am Rumpf unbeeindruckt von ihren Salven wieder verschwand.

Christian schauderte.

„Ich glaube, die Reichweite der Maschinengewehre ist zu klein“, sagte der Kamerad neben ihm.

Weitere Flugzeuge zogen hoch über ihren Köpfen dunkel brummend vorüber. Wie ein Schwarm riesiger Insekten, bedrohlich und eine finstere Zukunft prophezeiend.

„Verdammt, verdammt, verdammt ...“, murmelte sein Nebenmann.

Christian hatte eine Erwiderung auf der Zunge, aber dann hörte er plötzlich einen neuen Befehl: „Kampfhandlungen einstellen! Kampfhandlungen einstellen!“

Sie sahen sich an. Fragende Mienen. Zogen die Brauen zusammen und formten jeder ein lautloses „WAS?“ mit den Lippen. Sie hatten noch keinen einzigen deutschen Soldaten zu sehen bekommen, aber die Flugzeuge auf dem Weg nach Norden sprachen eine deutliche Sprache.

Christian fühlte Wut in sich aufsteigen. Die Anspannung der letzten Stunden hatte sich aufgestaut, und jetzt sollten sie zurück zur Kaserne marschieren, einfach so. Er konnte es nicht fassen. Funktionierte so etwa die dänische Verteidigung? Die Verteidigung, der er blind vertraut hatte und von der er ein Teil sein wollte, unbedingt? Die Gedanken an die Familie zu Hause, die stolz auf ihn sein würde, verblassten. Hier gab es nicht das Geringste, worauf irgendjemand stolz sein konnte!

Er atmete tief durch und riss sich zusammen. Er musste professionell sein. So wie er es immer war. Dann entdeckte er ihren Zugführer, der den Helm abnahm und auf die Erde schleuderte, dass kleine Steinchen und Erde nach allen Seiten spritzten. Genauso fühlte er sich gerade auch.

Zögernd und mit hängenden Köpfen machten sich die Soldaten auf den Weg zurück zur Kaserne. Die mühsam unterdrückte Wut drohte, beim kleinsten Anlass auszubrechen, und Christian wusste auch ohne jedes Wort, wie es Aksel und Petersen ging.

Auf den Bürgersteigen standen immer noch zahlreiche Leute herum, darunter viele Heimatdeutsche. Einige hielten Blumensträuße in den Händen, um den Feind willkommen zu heißen, und warfen den dänischen Soldaten verächtliche Blicke zu. Was zum Teufel dachten sie sich eigentlich? Glaubten sie wirklich, dieser Teil Dänemarks würde wieder deutsch werden?

Vereinzelte „Heil Hitler“-Rufe waren zu hören, und Arme wurden zum Hitlergruß ausgestreckt. „Was für Idioten“, sagte Petersen, der offenbar Gedanken lesen konnte.

„Man würde ihnen gerne mal ein paar Takte sagen“, meinte Christian nur und bemühte sich, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Wenig später spürte er, wie der Drang, etwas zu tun, zu handeln, langsam abflaute. Was hätte es schon nützen können? Die Situation in Sønderborg war, wie sie nun einmal war. Wie es wohl um die anderen Städte in Südjütland stand? Er wollte es lieber gar nicht wissen.

Aber auch andere sahen mit finsterer Miene zu ihm und seinem Zug herüber, empört über die Passivität des Militärs. Höhnische Zurufe waren zu hören. Er versuchte, sie zu ignorieren.

Was machte die Familie in Kollund jetzt? Standen sie auch vor ihrem Haus und redeten flüsternd mit den Nachbarn? Lasen sie die Flugblätter, die massenweise aus den deutschen Flugzeugen abgeworfen worden waren? Früh am Morgen hatte es geradezu Flugblätter geregnet, und jetzt lagen sie überall herum und wurden vom Wind aufgewirbelt und hierhin und dorthin geweht. Schon draußen am Sportplatz hatte Christian sich ein Exemplar in die Tasche gesteckt. Er hatte es später lesen wollen, aber jetzt brannte er darauf zu erfahren, was dort stand. Was schrieben die Deutschen? Er musste es wissen und wünschte sich gleichzeitig, nie auch nur ein Wort davon zu erfahren.

Die Überschrift wirkte beinahe schon komisch, und die dänische Rechtschreibung schien den Deutschen auch nicht besonders zu liegen: „AUFRUF! Ohne Grund und gegen den Willen der deutschen Regierung und des deutschen Volkes, in Frieden zu leben ...“

„Ihr könnt mich mal“, hatte er gedacht. Es schien schon wieder lange her zu sein.

Zurück in der Kaserne, teilte sein Zug sich in mehrere kleine Gruppen auf. Einige berichteten, die Turmwache habe den ganzen Morgen über unverdrossen „Fluglärm aus Süd … Fluglärm aus West“ gerufen, bis ein Offizier gekommen war und ihm befohlen hatte, endlich den Mund zu halten.

Wie immer ließ Aksel seine Kontakte spielen. Er wusste zu berichten, dass Generalleutnant Prior schon am 6. April um die Erlaubnis zur Mobilmachung und zur Einberufung der Reservisten ersucht hatte. In den Tagen danach hatte er erneut empfohlen, die Reservisten einzuberufen und Verteidigungsstellungen an strategisch wichtigen Punkten zu errichten. Der Verteidigungsminister hatte jedes Mal abgelehnt.

„Mit der Begründung, dass die Deutschen keinesfalls provoziert werden dürfen. Mein Gott noch mal“, beschloss er seinen kurzen Vortrag.

„Verflucht, wir könnten die Deutschen ruckzuck aus dem Land jagen – man muss uns nur lassen“, meinte Gustav, der in der Koje gegenüber der von Christian zu Hause war.

Andere Kameraden gesellten sich zu ihnen. Alle waren aufgebracht wegen der Entwicklung, die sich abzeichnete. Ihre Wut richtete sich nicht mehr gegen den Kasernenkommandanten, sondern zielte auf den Verteidigungsminister. Was für ein Idiot! Typisch, dass ein Mann, der oberster Befehlshaber des Militärs war, keine Ahnung davon hatte, wie man ernste Situationen wie diese anpacken musste.

„Erst heißt es, die dänischen Soldaten werden aktiv in Kampfhandlungen eingreifen, dann dürfen wir uns nicht mal auf Kampfhandlungen vorbereiten. Was ist das für eine Doppelmoral?“, fragte einer der Kameraden.

Während sie miteinander redeten, überquerten beinahe pausenlos deutsche Flugzeuge die Kaserne und flogen nach Norden.

Das Schlimmste war nicht, dass sie nicht wussten, was vor sich ging. Nicht zu wissen, wo das alles hinführen würde. Vermutlich dachten die anderen genauso sehr an ihre Familien und Liebsten wie Christian es tat. Waren sie in Gefahr? Konnte ihnen etwas zustoßen?

Christian fiel das Flugblatt wieder ein, das er am Sportplatz aufgehoben und mitgenommen hatte. Er nahm es aus der Tasche, und sofort richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf das Stück Papier.

„Mit freundlichen Grüßen von den Deutschen“, knurrte Gustav.

Angestachelt von der Stimmung las Christian mit ironischer und verfremdeter Theaterstimme: „AUFRUF! An die dänischen Soldaten und das dänische Volk! Ohne Grund und gegen den aufrichtigen Wunsch der deutschen Regierung und des deutschen Volkes, in Frieden zu leben und in Freundschaft mit dem englischen Volk und dem französischen Volk, haben die Machthaber in England und Frankreich im letzten September Deutschland den Krieg erklärt ...“

Der Text war zu lang, um ihn komplett vorzulesen, wie er einsehen musste. Unterzeichnet war das Flugblatt mit 'Der deutsche Kommandeur', und schon nach den ersten Worten brach die Gruppe um ihn herum in höhnisches Gelächter aus.

Mit seiner Ausbilder-Berg-Karikaturstimme fragte Aksel „Nennen sie das etwa Dänisch?“, und wieder lachten alle.

Das Stück Papier machte die Runde, jeder von ihnen las es durch und als Christian es zurückbekam, las er den Text auch noch einmal von Anfang bis Ende. Die letzten Zeilen lauteten: „Das Volk wird aufgefordert, mit der täglichen Arbeit fortzufahren und für Ruhe und Ordnung zu sorgen! Für die Sicherheit des Landes sorgt von jetzt ab das deutsche Heer und die Flotte.“

Der Tag verging quälend langsam. Die Atmosphäre in der Kaserne war geprägt von unverbrauchter Energie, die nach einem Ventil suchte, um sich zu entladen. Christian war völlig desillusioniert und niedergeschlagen. Was nützt mir jetzt mein 'sonniges Gemüt', von dem du immer sprichst, liebe Oma?, dachte er. Kann ich jemals wieder glücklich werden nach dem, was heute passiert ist? Nicht, bevor die verfluchten Deutschen unser Land verlassen haben!

Pausenlos gab es neue Gerüchte, und niemand wusste, woher sie kamen oder was man auf das geben konnte, was erzählt wurde.

„Es heißt, die Garde-Husaren hätten sich geweigert, sich zu ergeben und kämpfen jetzt in den Waldgebieten in Nordseeland gegen die Deutschen“, berichtete einer. „Ich habe eben noch gehört, das ganze Regiment sei nach Schweden geflohen“, erwiderte ein anderer.

„Vorhin sagte jemand, die Deutschen seien bei Kopenhagen an Land gegangen und hätten das Hauptquartier im Kastellet besetzt.“

„Das darf doch nicht wahr sein!“ Erschrocken sahen sie sich an.

„So ist es aber wohl. Es wird keinerlei Widerstand geleistet, und jetzt marschieren sie durch die Stadt nach Amalienborg.“

Christians Puls beschleunigte. Wo im Land waren die Deutschen noch eingefallen? Sie hatten kaum Zeit, die Nachricht zu verdauen, als schon wieder ein neuer Bote zu ihrer Gruppe stieß und behauptete, auf Fünen habe man einige Streitkräfte zusammengezogen, die sich jetzt in den südfünischen Alpen, wo das Gelände günstig war, um Verteidigungsstellungen aufzubauen, verschanzen und gegen die Deutschen kämpfen sollten.

Etwas später tauchte Petersen auf, der bei einigen anderen Gruppen Erkundigungen eingeholt hatte. Atemlos berichtete er: „Man sagt, heute Morgen sei es bei Sønderbro in Haderslev zu Gefechten gekommen. Die Deutschen sind mit Panzern vorgerückt, unsere Leute hatten nur ein Geschütz. Sie haben tapfer gekämpft, aber der Feind war überlegen, und als das Geschütz getroffen und zerstört wurde, mussten sie das Feuer einstellen. Die Rede ist von drei Toten und vier Verletzten. Und bei der Besetzung der Kaserne in Haderslev hat es wohl auch einen Toten gegeben.“ Blicke wurden gewechselt. Tote. In der Nähe von Haderslev.

Das Gefühl der Machtlosigkeit wurde noch stärker, und es war sinnlos, immer wieder dieselben Fragen zu stellen: „Warum tun wir nichts? Warum leisten wir keinen Widerstand?“

Mit hängenden Schultern zogen sie sich auf ihre Stuben zurück und schlossen die Fenster. Dennoch drang der Lärm der Flugzeuge, die dröhnend dicht über den Dächern der Häuser vorbeizogen, zu ihnen durch.

Gegen Ende des Tages tauchte ein neues Flugblatt auf. Darauf war zu lesen:

„Deutsche Truppen haben in der vergangenen Nacht die dänische Grenze überschritten und sind an mehreren Orten des Reiches an Land gegangen. Die dänische Regierung hat unter Protest beschlossen, unser Land den Erfordernissen der Besatzung anzupassen. In diesem Zusammenhang wird Folgendes bekannt gegeben:

Die deutschen Truppen, die sich zurzeit im Land befinden, nehmen Kontakt mit den dänischen Streitkräften auf. Die Bevölkerung ist verpflichtet, jeden Widerstand gegen diese Truppen zu unterlassen. Ziel der Regierung ist es, das dänische Volk und unser Land vor Kriegshandlungen und den damit verbundenen Zerstörungen und Opfern zu schützen. Daher wird die Bevölkerung zu Ruhe und Besonnenheit hinsichtlich der zurzeit gegebenen Verhältnisse aufgerufen.

Ruhe und Ordnung im Land müssen aufrecht erhalten werden, und Loyalität ist Bürgerpflicht gegenüber allen, die ein Amt auszuüben haben.“

Kopenhagen, 9. April 1940

Chr. R./Th. Stauning.

Christian kniff die Augen zusammen und runzelte verwundert die Stirn. Er musste den Text noch einmal lesen, langsamer diesmal. War das wirklich die Botschaft des Königs und der Regierung? Er konnte es nicht fassen.

„Ruhe und Besonnenheit hinsichtlich der zurzeit gegebenen Verhältnisse“, fauchte Aksel. „Was zum Teufel ist das bloß für eine Regierung?“

„Jeden Widerstand unterlassen … Loyalität ist Bürgerpflicht. Du lieber Himmel, das ist wahrhaftig zu viel!“ Petersens Augen funkelten. „Der erste, den man erschießen sollte, ist dieser verdammte Staatsminister. Was für ein Feigling!“

„Mir dreht sich der Magen um, wenn ich nur daran denke, dass Sønderborg von Deutschen überschwemmt wird“, sagte Christian, „die von den Heimatdeutschen auch noch mit einem freundlichen 'Heil Hitler? begrüßt werden.“

Die Gruppe löste sich auf.

Die Sonne ging unter, und Christian dachte, dass es der sonderbarste und schlechteste Tag gewesen war, den er in seinem vierundzwanzigjährigen Leben durchgemacht hatte. Sie hatten zusehen müssen, wie Kolonnen deutscher Militärfahrzeuge in die Stadt gerollt waren. Im Laufe des Tages hatten sie jede Menge deutscher Soldaten gesehen. Jetzt saß er alleine mit Aksel und Petersen in ihrem Studierzimmer und sprach aus, was ihm schon lange im Kopf herumging: „Irgendetwas müssen wir tun.“

„Du sagst es. Die Deutschen können nicht einfach hier einmarschieren und wir legen die Hände in den Schoß … Wir könnten ihnen wenigstens Schwierigkeiten machen“, sagte Petersen.

Sowohl Christian als auch Aksel sahen ihn an. Nach einer Weile sagte Aksel nachdenklich: „Und was stellst du dir da so vor?“

„Mal sehen. Es muss doch möglich sein, den Deutschen das Leben schwer zu machen. Erst mal müsste man sich natürlich von allem fernhalten, was nach Nazis oder Heimatdeutschen aussieht, nicht bei ihnen einkaufen. Bei keinem, der mit den Deutschen Geschäfte macht. So was eben.“

Die beiden anderen stimmten ihm zu, meinten aber, das sei ja wohl eine Selbstverständlichkeit. Bei den Heimatdeutschen kaufte man nichts, das hatte Christian schon von Kindesbeinen an gelernt.

„Man könnte zum Beispiel die Reifen ihrer Autos zerstechen. Nur für den Anfang“, meinte Aksel, und dann lachten sie zum ersten Mal an diesem Tag.

Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers

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