Читать книгу Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers - Pernille Juhl - Страница 8

Sønderborg, 1938

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Christian war beeindruckt von der Sønderborg Kaserne. Das schöne, rote Gebäude bot einen wunderschönen Ausblick auf den Als Sund. Er stellte sich vor, wie er Spaziergänge am Wasser entlang unternahm und versuchte, die innere Stimme in ihre Schranken zu weisen, die ihm sagte, dass dazu wohl kaum Zeit bleiben würde. Stimmten die Gerüchte, war der Dienst hier hart und dauerte oft vierzehn, fünfzehn Stunden am Tag. Und bevor die Rede von Spaziergängen am Meer oder durch die Stadt oder von anderem Luxus sein konnte, waren Briefe zu schreiben. Das hatte höchste Priorität unter den privaten Angelegenheiten. Briefe an Oma, Alma und Jes, Tidde und Tanta Adda. Sie verstanden nicht, dass er nur selten Gelegenheit fand, sie zu besuchen, obwohl er doch nicht weit von zu Hause weg war. Aber stolz waren sie auf jeden Fall. Als er nach Sønderborg kam, war er Unteroffizier, wenn er die Kaserne verließ, würde er Feldwebel sein. Für sie war es so, als sei er Leutnant. Christian musste lächeln, wenn er daran dachte.

Im Speisesaal war ihm ein blonder Hüne aufgefallen. Der Mann hatte etwas Ruhiges und Sympathisches an sich und schien ebenso auf sich allein gestellt wie er selbst. Meistens saßen sie nicht weit voneinander entfernt. Jetzt war der Speisesaal bereits halbleer, die meisten waren gegangen, und der Mann saß alleine an seinem Tisch. Christian entschied sich, ihn anzusprechen. Er nahm sein Tablett und setzte sich ihm gegenüber.

„Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt“, sagte Christian, reichte seinem Gegenüber die Hand und nannte seinen Namen.

„Peter Østergaard“, entgegnete der andere, begleitet von einem festen Händedruck. Er war ein außergewöhnlich gutaussehender Mann, schlank, große graue Augen und hohe Wangenknochen. Sie lächelten beide.

Peter Østergaard fragte, woher er komme, und Christian antwortete und gab die Frage zurück.

„Tønder“, erwiderte der andere.

Sie sprachen über ihre Familien, und Peter erzählte von Solvej und dass sie bald heiraten wollten. Gerne hätte Christian ihm von Gerda berichtet, aber darüber gab es nichts zu sagen. Dennoch hatte er ein gutes Gefühl. Vielleicht würde sich eine Freundschaft zwischen Peter und ihm entwickeln.

„Und? Was hast du vor, wenn du hier fertig bist?“, fragte Peter. Ihre Mahlzeit hatten sie längst beendet, und ausnahmsweise warteten keine dienstlichen Pflichten auf sie.

„Vielleicht gehe ich nach Kopenhagen und mache die Ausbildung zum Offizier, vielleicht bleibe ich hier und werde Ausbilder. Ich weiß es noch nicht. Und du?“

Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht seines neuen Freundes aus. „Ich werde wahrscheinlich auf die andere Seite der Grenze gehen, zum deutschen Militär. Da unten gehen zurzeit ein paar richtig interessante Dinge vor sich.“

Christians Lächeln erstarrte zur Grimasse. Unwillkürlich kniff er die Augen zusammen, als er sagte:

„Ich verstehe nicht.“

„Hitler ist ein wahrer Teufelskerl. Er macht seine Sache hervorragend. Die Arbeitslosigkeit ist so gut wie ausgerottet, Deutschland ist es nie besser gegangen. Ich könnte mir vorstellen, in seinem Heer zu dienen. Hast du nie darüber nachgedacht?“ Seine Augen strahlten beinahe, während er über den deutschen Reichskanzler sprach.

Christians Herz hämmerte. Die Wendung, die ihr Gespräch nahm, traf ihn völlig unvorbereitet, und er wünschte, er hätte nie an diesem Tisch Platz genommen.

„Nein, daran habe ich wirklich noch nie gedacht“, antwortete er scharf, sodass der andere die Botschaft nicht überhören konnte. Dennoch fuhr Peter unverdrossen und mit Begeisterung in der Stimme fort: „Hitler ist das Beste, was Deutschland seit Jahren passiert ist, ja sogar das Beste, was ganz Europa passieren konnte. Wart's ab, du wirst sehen ...“

Christians Gesicht war jetzt wie versteinert, und es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben, als er sagte: „Solange du dänischer Soldat bist, kannst du doch nicht Hitler und den Nationalsozialismus unterstützen. Ist dir Dänemarks Zukunft vollkommen egal?“ Seine Stimme zitterte, als er fortfuhr: „Die Deutschen haben sich Österreich einverleibt. Und jetzt erheben sie Anspruch auf das Sudetenland an der Grenze zur Tschechoslowakei. Was glaubst du, was sie mit Dänemark im Sinn haben, wenn es soweit ist? Du bist doch Südjüte, oder etwa nicht? Viele hier befürchten, Deutschland könnte die alte Grenze wieder herstellen und alles wird so wie vor der Vereinigung. Viele haben Angst, dass sie sich auch Südjütland einverleiben. Wie kannst du da mit einem Mann wie Hitler sympathisieren?“

Die letzten Worte schrie er nahezu. Alle, die noch im Speisesaal waren, glotzten ihn an, aber es war ihm gleichgültig. Wütend und herausfordernd starrte er sein Gegenüber an.

„Du scheinst ja wirklich für deine Sache zu brennen“, antwortete Peter kühl und fügte hinzu: „Ich bin nicht sicher, ob es schlecht wäre, wenn wir wieder zu Deutschland gehören würden. Hitler ist ein Mann mit Visionen. Er stellt Deutschland wieder auf die Beine, nachdem Europa alles getan hat, um das Land niederzuhalten. Die deutsche Wirtschaft wird immer stärker, seit er die Macht übernommen hat, und nicht zuletzt packt er das Judenproblem an. Davon könnten sich andere Länder eine Scheibe abschneiden.“

Christian runzelte die Stirn. „Das kann nicht dein Ernst sein. Das Judenproblem?“

„Du wirst ja wohl zugeben, dass die Juden nichts als gierige Teufel sind. Schwindler und Betrüger allesamt. Sie akzeptieren nur ihresgleichen, und ihr Ziel ist es, die Welt zu regieren. Es gibt nur eine Art, mit ihnen fertig zu werden, und zwar so, wie Hitler es macht.“

Christian stand so ruckartig auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte. Seine Wut steigerte sich noch, und eine Sekunde lang packte ihn ein selten erlebtes Gefühl: Er wollte zuschlagen, aber im nächsten Moment ergriff eine kalte Ruhe Besitz von ihm. Wozu noch mehr Zeit an diesen Fantasten verschwenden? An einen Arier, der bestens in Hitlers Weltbild passte. Er würde nie wieder mit diesem Mistkerl reden! Es lohnte sich nicht einmal, auch nur ein Wort über einen idiotischen Schreihals wie Hitler zu verlieren, der immer häufiger im Radio und in den Zeitungen auftauchte. Gott bewahre! Christian schaltete jedes Mal ab, wenn er die Stimme des deutschen Reichskanzlers hörte.

Noch immer schlug sein Herz schneller als gewöhnlich, und sein Brustkasten hob und senkte sich. „Wir haben uns nichts mehr zu sagen“, knurrte er und wandte Peter Østergaard den Rücken zu, bevor der etwas erwidern konnte.

Die Hände zu Fäusten geballt, verließ er den Speisesaal. Wenn das die Art von Freundschaft war, die man hier schließen konnte, verzichtete er liebend gerne darauf.

Alle Ausbilder in den militärischen Fächern waren Offiziere. Schon nach kurzer Zeit in Sønderborg stand für Christian fest, dass auch er einmal Offizier und Ausbilder sein würde.

An einem der ersten Tage kam er mit Petersen und Aksel ins Gespräch, die sich schon seit ihrer gemeinsamen Zeit an der Grundschule Sønderborg kannten. In der Mittagspause zwischen der praktischen Ausbildung am Vormittag und der Theorie am Nachmittag steuerten sie im Speisesaal zielstrebig Christians Tisch an und ließen sich auf den Stühlen ihm gegenüber nieder. Christian waren die ungleichen Freunde schon am ersten Tag in der Kaserne aufgefallen. Petersen war schlank und tat sich besonders in den physischen Disziplinen hervor, beim Sport und draußen im Feld ebenso wie beim Exerzieren. Aksel dagegen war rundlicher, stämmiger und behäbiger als Petersen, hielt sich aber dennoch gut, wenn es um körperliche Anstrengungen ging. Er war ein offener und redseliger Mensch, lachte gern und viel, und auf eine sonderbare Weise hatte Christian das Gefühl, er würde die beiden Freunde schon lange kennen.

„Aksel Lykkegaard mein Name, und das hier ist mein Kamerad Klaus Petersen, genannt Petersen“, sagte Aksel und schaufelte sich dabei das Mittagessen in den Mund.

„Christian Fries“, antwortete Christian mit einem Nicken und fuhr fort: „Alle nennen mich Kedde.“ Letzteres hätte er sich eigentlich sparen können, in Südjütland wurden alle mit seinem Namen so genannt.

„Du bist doch der, der was gegen Hitler hat, oder?“, fragte Aksel mit einem verschmitzten Lächeln.

„Richtig.“ Christian hob den Kopf.

„Da geht es dir wie uns“, sagte Aksel.

Sie lachten alle drei.

„Du siehst nach einem ganz brauchbaren Kerl aus, und als wir von dem kleinen Auftritt neulich hier in diesem wunderschönen Speisesaal hörten, wollten wir gerne mal mit dir reden.“ Aksel blinzelte vergnügt, bevor er weitersprach: „Also zur Sache. Wir suchen nach einem dritten Kameraden, um ein Zimmer zu mieten. Wär' das was für dich?“ Das Kinn entschlossen vorgeschoben, sahen ihn Aksels dunkle Augen unter den buschigen Brauen und den ungekämmten Haaren einladend an. Christian hatte den Eindruck, dass er wie geschaffen war für die Bühne. Er würde die Menschen zum Lachen bringen und musste sich nicht einmal Mühe dabei geben.

Sein Freund Petersen war zurückhaltender, ähnlich wie Christian. Das blonde Haar über dem blassen Gesicht war bereits auf dem Rückzug und machte hohen Schläfen Platz. Nicht mehr lange, und er hat eine Glatze, dachte Christian. Aber Petersens Augen sahen ihn freundlich an. Offenbar stürzte er sich nicht so vorbehaltlos in Gespräche mit Leuten, die er nicht kannte, wie sein Freund Aksel.

„Ein Zimmer mieten?“ Christian runzelte die Stirn. Soviel er wusste, wohnten alle auf den Stuben in der Kaserne.

„Du weißt schon, Damenbekanntschaften und so weiter. Da muss man was in petto haben.“ Aksel lachte schallend, als er Christians Gesichtsausdruck sah. Petersen und Christian konnten nicht anders und brachen ebenfalls in Gelächter aus.

„Keine Angst, wir meinen es ernst mit der Ausbildung, und du siehst so aus, als wolltest du es ebenfalls zu was bringen. Mein Bruder war auch hier in Sønderborg, und er hat mir geraten, mir ein Zimmer zu besorgen, wo man in Ruhe lernen und sich auf die Prüfungen vorbereiten kann. Zu dritt müsste das mit der Miete hinzukriegen sein.“

Christian dachte nach. Wenn jemand die Ausbildung hier ernst nimmt, dann ich! Konnte er sich das leisten? Möglicherweise. Die fünfzig Kronen Sold im Monat waren nicht viel, andererseits hatte er auch keine großen Ausgaben.

„Was soll so ein Zimmer denn kosten?“, fragte er.

„Fünfzehn Kronen im Monat“, antwortete Aksel.

„Danke, dass ihr dabei an mich gedacht habt. Warum eigentlich nicht? Versuchen wir's einfach mal.“

„Ausgezeichnet. Außerdem kannst du nach einem Monat ja auch wieder aussteigen, wenn dir das Ganze doch nicht passt“, sagte Aksel lächelnd. „Tatsächlich haben wir schon was in Aussicht, in der Heloglandsgade, das Zimmer, das auch mein Bruder hatte. Und ein Kaffee am Abend ist sogar inbegriffen.“

Christian konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass es ganz bestimmt nicht langweilig werden würde.

„Ein bisschen umständlich ist es schon“, meinte Petersen mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. „Immerhin müssen wir jedes Mal Ausgehuniform tragen, wenn wir die Kaserne verlassen.“

Auch Christian fand diese Vorschrift albern. „Ja, und die weißen Handschuhe nicht vergessen ...“

„ … und Gürtel und Stiefel immer auf Hochglanz poliert“, fügte Aksel in einem Tonfall hinzu, als hielte er sich die Nase zu und klang dabei genau wie ihr Ausbilder Berg.

Wieder lachten sie alle drei.

„Ich finde, es ist schon allerhand, dass sie uns vorschreiben, in welche Kneipen wir gehen dürfen und in welche nicht“, ereiferte Aksel sich.

„Als hätten wir Zeit, in die Kneipe zu gehen“, ergriff Petersen wieder das Wort. „Aber es kann sein, dass hin und wieder einer der Offiziere in unserem Zimmer vorbeischaut, Christian. Nicht, dass wir am Ende noch Karten spielen oder uns mit jungen Damen vergnügen.“

„Das wäre ja wirklich allerhand“, sagte Christian und stimmte in das Lachen der beiden anderen ein.

„Wartet erst mal ab, wenn am Sonntag Pimmel-Parade ist“, sagte Aksel mit einer Miene, als warte er nur auf ihre Reaktion. Petersen kam Christian zuvor.

„Pimmel-Parade?“

„Jeden Sonntag kommt ein Oberstleutnant zur Kontrolle. Dann haben wir in Unterhose und mit nackten Füßen vor unseren frisch gemachten Betten zu stehen und die Hände auszustrecken. Und dann wird der Herr Oberstleutnant kontrollieren, ob die Zeh- und die Fingernägel auch ordentlich sauber sind.“

„Das ist ja schlimmer als zu Hause bei Mama“, sagte Christian, und sie lachten wieder.

Schlimmer als in Haderslev kann es ja wohl nicht werden, dachte er, musste aber bald feststellen, dass er sich geirrt hatte.

Schon am Nachmittag spürte Christian die Veränderung. Er hatte zwei neue Freunde, und sie tauschten diskrete Blicke aus, als sie Ausbilder Berg gegenüberstanden, der genauestens die Regeln für die Grußpflicht außerhalb der Kaserne und noch ein paar andere seltsame Dienstvorschriften durchging.

Das Zimmer in der Helgolandsgade erwies sich sehr schnell als Glücksfall für Christian. Er hielt sich häufig dort auf, um in Ruhe oder gemeinsam mit seinen neuen Freunden pauken zu können. Sie mussten nur um 22.00 Uhr zurück in der Kaserne sein und auf ihrer Stube im Bett liegen.

Es war ein strammes Programm, das Christian im Frühjahr 1938 in der Sønderborg Kaserne zu absolvieren hatte, dennoch blieb ihm genug Zeit darüber nachzudenken, wie er Gerdas famose Hochzeit mit diesem Hans-Jørgen verhindern konnte. Natürlich war es Zeitverschwendung. Während des Sommers und ein Jahr später, im September, verbrachte er einige Tage zu Hause auf der Hühnerfarm bei Alma und Jes, die ihn nach Kräften verwöhnten.

Sonntags traf sich die ganze Familie bei Oma, wie in den guten alten Zeiten. Christian freute sich darauf. Natürlich war er ein paar Mal bei ihr gewesen, aber die Familientreffen am Sonntag waren ein Ritual, das ihn an seine Kindheit erinnerte.

Bei einem seiner unzähligen Besuche als Kind hatte Oma einmal gesagt: „Dein sonniges Gemüt hast du von Tidde geerbt. Das ist ein Geschenk, Kedde.“

Er hatte die Bemerkung nie vergessen. Es war wie eine Verpflichtung, ein Geschenk in Form eines sonnigen Gemüts. Aber für ihn hieß es auch, dass er ein Geschenk für die Familie war. Schon damals, als er noch ein kleiner Junge war, gab er sich alle Mühe, ein Geschenk zu sein, besonders für Tidde. Damals glaubte er, er werde eines Tages mit Oma Botilla über die ungewöhnlichen Familienverhältnisse sprechen, unter denen er aufwuchs, aber es war nie dazu gekommen.

Für die anderen Kinder in der Schule war es viel einfacher. Es war schwierig, zu erklären, wie das alles zusammenhing mit seiner Familie. Er war von Frauen umgeben, Tidde, Botilla samt Tante Alma und Tante Adda. Tidde war seine richtige Mutter, und doch auch wieder nicht. Sie hatte ihn zur Welt gebracht, konnte sich aber nicht um ihn kümmern, weil sie als Haushälterin bei einem Fuhrunternehmer in Tinglev arbeitete.

Als Kind hatte er unzählige Male darüber nachgedacht. Wenn er und Tidde sich nur sonntags bei den gemeinsamen Essen der Familie bei Oma sahen, wie konnte sie dann seine Mutter sein? Niemand von den anderen sah seine Mutter nur am Sonntag. Manchmal machte es ihn wütend. Es fühlte sich an, als sei er ein Ballon, in den jemand zu viel Luft geblasen hatte und der kurz davor war, zu zerplatzen. Er spürte den Drang, Tidde anzuschreien, sie sei nicht seine Mutter und dass er nicht von ihr umarmt werden wollte. Nicht ihr Seufzen hören und nicht die sehnsüchtigen Blicke sehen wollte, mit denen sie ihn anschaute.

Damals wünschte er sich nichts mehr, als dass Alma und Jes seine Eltern wären. Schließlich wohnte er bei ihnen, und das schon sein ganzes Leben. Er war ihr Kind. Oma sagte oft zu ihm: „Was für ein Glück, dass Alma und Jes dich aufnehmen konnten. Sie haben sich so sehr ein Kind gewünscht, und dann kamst du, Kedde.“

Bei ihr klang es, als sei es ganz leicht. Aber seine Kinderlogik sagte ihm, er würde in der Schule nicht dauernd geärgert, wenn Tidde nicht seine Mutter wäre. Alles wäre viel einfacher ohne Tidde. Er hätte Alma und Jes Mama und Papa nennen können, nicht Tante und Onkel, und alle hätten es verstanden.

Sonntag für Sonntag trabte er mit ordentlichem Scheitel und in frisch gewaschenen Sachen zum Familientreffen bei Oma und benahm sich, wie man es von ihm erwartete. Er ließ sich küssen und umarmen und beobachtete, wie die Erwachsenen sich bestätigende Blicke zuwarfen. Ja, ihr Kedde war ein Geschenk. Von seiner inneren Zerrissenheit sahen sie nichts, sahen nicht, dass er Tidde am liebsten angeschrien hätte: „Du sollst sonntags nicht mehr kommen! Du sollst mich nicht so ansehen! Ich bin nicht dein Sohn! Warum bleibst du nicht einfach in Tinglev?“

Das war viele Jahre her, und jetzt freute er sich darauf, die Familie zu sehen. Er vermisste sie, allesamt, und fühlte sich geliebt, wenn Tidde und Oma ihn an sich drückten und lange festhielten. Seine Onkel und Tanten waren da, und natürlich Vetter Nicolaj. Vor dem Essen schlenderten er und Nicolaj durch den Garten. Der Spätsommer hielt sich, und die Sonne zeigte sich von ihrer großzügigen Seite und verwöhnte sie mit ihren angenehm warmen Strahlen. Die Äste der Apfelbäume waren voller roter Früchte und hingen fast bis zur Erde. Wespen umkreisten die reifen Pflaumen, und Christian pflückte sich einen Apfel, während er versuchte, mit Nicolaj Schritt zu halten.

Die zunehmende Unruhe in Europa beschäftigte den Vetter, der das Gesicht in ernste Falten legte.

„Was zum Teufel geht da vor sich?“, fragte er beinahe wütend und machte sich daran, seine Pfeife zu stopfen.

Christian schüttelte den Kopf. „Tja, es ist wirklich beängstigend. Der deutsche Kanzler ist ganz sicher nicht mein Fall.“ Plötzlich fiel ihm die Begegnung mit Peter Østergaard an einem seiner ersten Tage in der Sønderborg Kaserne ein, aber vielleicht war es besser, Nicolaj nicht auch noch davon zu erzählen.

„Das ist mal eine Untertreibung!“, schnaubte sein Vetter. „Er ist vollkommen verrückt! Allein, wenn man ihn im Radio rumbrüllen hört weiß man schon, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat. Bevor man sich umsieht, hat er verdammt noch mal ganz Europa mit Krieg überzogen! Du wirst mir ja wohl recht geben, wenn ich sage, dass im letzten Monat so einiges passiert ist.“ Nicolaj kaute auf dem Pfeifenstiel herum, und dichte Rauchwölkchen stiegen auf. „Deutschland ist in Polen einmarschiert, und ein paar Tage später erklären England und Frankreich Deutschland den Krieg … Ein deutsches U-Boot versenkt ein englisches Passagierschiff. Wo soll das enden, kannst du mir das sagen?“

„In den Nachrichten hieß es zuletzt, die deutschen Truppen hätten Warschau erreicht, und Kanada hat Deutschland ebenfalls den Krieg erklärt.“

„Ha, Deutschland gegen den Rest der Welt!“

Sie mussten beide lachen.

„Sie haben eine ordentliche Tracht Prügel verdient, diese Deutschen“, sagte Nicolaj. „Immer halten sie sich für was Besseres. Dass Südjütland sich für Dänemark entschieden hat, daraus sind sie auch nicht schlauer geworden.“

„Neulich habe ich in irgendeinem Blatt eine Karikatur gesehen“, sagte Christian. „Darin ging es um den Nichtangriffspakt zwischen Dänemark und Deutschland. Hitler steht auf einem riesigen Panzer mit Hakenkreuz und diesem ganzen Zeugs an der Seite. Die Kanone zielt auf einen kleinen Mann, der seinen Hut in den Händen hält: unser Außenminister P. Munch. Ich finde, das trifft den Nagel auf den Kopf.“

„Mit dem Pakt können sie sich genauso gut den Hintern abwischen“, sagte Nicolaj und spuckte auf den Boden.

Dann rief Oma, das Essen sei fertig. Christian hätte ihr Gespräch gerne fortgesetzt, aber solche Themen war bei Tisch tabu.

Vor dem Essen sangen sie 'In Jesu Namen kommen wir zu Tisch', und Christian spürte mit einem Mal, wie sehr er das Singen vermisste.

Jes erzählte von der Hühnerfarm und einer neuen Epidemie, die alle Hühnerzüchter teuer zu stehen kommen würde. Es galt, schnell und klug zu handeln, ansonsten könnte es fatale Folgen für die Tiere haben. Er hatte die wenigen kranken Hühner sofort von den gesunden getrennt. Alma und Jes lächelten sich über den Tisch hinweg an, und Christian wurde warm ums Herz. Hier zu Hause bei seinen Pflegeeltern war die Welt noch in Ordnung. Endlich lief der Betrieb besser, und Jes hatte seinen sonstigen Arbeitgebern gekündigt und konnte sich ausschließlich um die Hühnerfarm kümmern. Alma schien regelrecht glücklich zu sein. Es gab keinen Grund, die gute Stimmung zu zerstören und von den neuesten Entwicklungen in Deutschland und vom Krieg zu reden. Die meisten am Tisch erinnerten sich noch gut an den Großen Krieg, und keiner von ihnen wollte daran denken, es könnte noch einmal zu einer ähnlichen Katastrophe kommen.

Nicolaj und er warfen sich verständnisvolle Blicke zu.

Sie sprachen über Christians Karriere beim Militär. Oma, Tidde und Alma strahlten vor Freude über ihren „kleinen Kedde“, und tatsächlich fühlte er einen gewissen Stolz. Er musste erzählen, wie die Tage in der Kaserne abliefen und was er sein würde, wenn er mit seiner Ausbildung fertig war. Alle möglichen Fragen prasselten auf ihn ein. Dann redeten sie über Nicolajs Ausbildung zum Buchdrucker in Fredericia.

Das Essen schmeckte ausgezeichnet, und alles war wunderbar, bis Oma sagte: „Sag mal, Kedde, du hast doch früher immer mit Gerda gespielt, der Tochter von Zimmermann Madsen, oder?“

Er räusperte sich. „Öh, ja.“

„Wusstest du, dass sie geheiratet hat? Letztes Jahr, in der Kirche in Bov.“

„Nein, wusste ich nicht.“

„Ich bin da gewesen, neugierig wie ich nun mal bin.“ Typisch Oma. Sie lächelte zufrieden und fuhr fort. „Ihr Vater ist ja ein Fall für sich. Nichts ist gut genug für seine kleine Gerda, und er platzte fast vor Stolz über seinen neuen Schwiegersohn. Hans-Jørgen Holst heißt er und ist wohl der Sohn eines der großen Gutsbesitzer bei Haderslev.“

Gerda Holst, du lieber Gott!

„Aha. Wie schön für sie.“

Nicolaj sah ihn forschend an, und es schien, als wisse er alles.

Oma bemerkte nichts, und unbekümmert sprach sie weiter. „Jetzt läuft sie mit dickem Bauch herum, ist wohl schon ein paar Tage überfällig. Sie war letzte Woche auf Besuch zu Hause bei ihren Eltern. Sehr hübsches Mädchen, muss man schon sagen.“

Den Rest des Tages musste Christian sich zusammenreißen. Es fiel ihm schwer, an den richtigen Stellen zu lächeln, und ein ums andere Mal überzogen dunkle Falten sein Gesicht.

Er wünschte, Oma hätte nicht von Gerda und dem dicken Bauch erzählt. Immer wieder tauchten Bilder von Gerda als schöner Braut und werdender Mutter vor seinem inneren Auge auf. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendwo in diesem Land eine Frau gab, die ihn genauso beeindrucken würde wie sie.

Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers

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