Читать книгу Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers - Pernille Juhl - Страница 9

Sønderborg, Winter '39 / '40

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Christian widmete sich mit Leib und Seele der Infanterie-Unteroffiziersschule in Sønderborg. Seine Zeit verbrachte er entweder in der Kaserne oder in Gesellschaft von Aksel und Petersen in ihrem gemeinsamen Studierzimmer. Er war fest entschlossen, Gerda zu vergessen und die Prüfungen mit Bestnoten zu bestehen.

Die Ausbildung gestaltete sich so, wie er es erwartet hatte, anspruchsvoll und hart. An den sechs Werktagen der Woche absolvierten sie vormittags Übungen draußen im Feld oder auf dem Kasernengelände. Er mochte es, seine Muskeln zu spüren, sein Körperbau konnte mittlerweile mit dem einer griechischen Statue konkurrieren, und auch die Übungen auf der Schießbahn im Sønderskoven, dem nahegelegenen Waldgebiet, bereiteten ihm keinerlei Probleme, ganz im Gegensatz zu dem korpulenten Aksel, der sich mit diesen Teilen der Ausbildung zunehmend schwertat. Einige der Ausbilder scheuchten ihre Schützlinge besonders gerne zur Schießbahn, um irgendwelche Übungen durchzuführen. Schon der Weg dorthin glich einem Gewaltmarsch, und in der Nähe gab es eine drei Meter hohe Mauer, die die Soldaten mit vollem Gerödel überklettern mussten.

In diesen Augenblicken, in denen ihm alles abverlangt wurde, erkannte Christian, dass es ihm nicht gelingen würde, Gerda voll und ganz aus seinen Gedanken zu verbannen. So manches Mal ertappte er sich bei dem Gedanken: Wenn du mich jetzt sehen könntest …, während er die Mauer überquerte und sich dabei stark wie ein Ochse fühlte, während Aksel als einer der letzten den anderen hinterherstolperte.

Nachmittags stand Theorie auf dem Stundenplan, und auch hier gehörte er in sämtlichen Fächern zu den Besten. Den Samstag mochte er am wenigsten: Reinigen der Ausrüstung sowie der Stube, außerdem persönliche Hygiene. Ganz gleich, wie sehr er sein Zeug putzte und polierte, die abschließende Musterung brachte er nie hinter sich, ohne von seinem Ausbilder abgekanzelt zu werden. Meistens war es Nikolajsen. Christian hatte ihn im Verdacht, ihn auf dem Kieker zu haben.

Sonntags hatten sie die berühmte Pimmel-Parade zu überstehen, anschließend wurde der Stubendurchgang geradezu zelebriert. Die Fenster mussten geputzt und der Boden gewischt sein. Immer Punkt acht Uhr wurden Kleidung, persönliche Hygiene und Spinde genauestens überprüft. Nach einiger Zeit betrachtete Christian es als einen natürlichen Bestandteil des Heeres. Er verstand die Notwendigkeit von Regelmäßigkeit und Routine, und samstags musste er nun mal mit Nikolajsen leben.

Das Dasein in der Sønderborg Kaserne war vorhersagbar und verlässlich. Sie lebten wie in einer Enklave, abgesondert vom Rest der Welt. Nur auf dem Weg zwischen Studierzimmer und Kaserne und bei Besuchen zu Hause bei der Familie hatten sie kurz Kontakt mit der Welt außerhalb des Militärs. Sowohl Christian als auch Petersen und Aksel schlossen die Ausbildung zum Feldwebel mit guten Prüfungen ab, und alle drei entschieden sich, mit der Ausbildung zum Oberfeldwebel weiterzumachen.

Im Herbst und Winter '39 / '40 beanspruchte die Welt außerhalb ihres Alltags mehr und mehr Aufmerksamkeit. Die Überschriften der Zeitungen erreichten auch die Sønderborg Kaserne, wo man mit wachsender Beunruhigung die politischen Spannungen in Europa verfolgte; Hitlers aufstachelnde Reden, die immer unmenschlichere Behandlung der Juden und die Invasion Polens. Ende November überfiel die Sowjetunion ohne Kriegserklärung Finnland.

Anfang Januar, unmittelbar nach der Zwischenprüfung, gönnte sich das Trio ausnahmsweise einmal einige Glas Bier im Gasthaus Christian IV. Hemmungslos zogen sie über Staatsminister Staunings Neujahrsansprache her, und nach den ersten Bier wechselte die Stimmung zwischen lauthals vorgetragenen Ansprachen, ohrenbetäubendem Gelächter und ausschweifenden Prophezeiungen des kurz bevorstehenden Weltuntergangs. Sie hatten völlig vergessen, dass sie nicht allein waren, und achteten nicht auf die neugierigen oder leicht vorwurfsvollen Blicke der übrigen Gäste.

Aksel hatte einen Satz aus der Rede Staunings auswendig gelernt und zitierte ihn im Laufe des Abends mehrere Male: „Aufgrund der Struktur unseres Landes sind wir nicht in der Lage, eine Verteidigung aufzubieten, wie andere Länder es können, obwohl der Wille dazu durchaus vorhanden war.“

Petersen schüttelte den Kopf, trank einen Schluck Bier und sagte: „Stauning wirft von Vorneherein das Handtuch. Nach dieser Rede denkt das ganze Land, die Niederlage sei schon besiegelt.“

Aksel schlug mit der Faust auf den Tisch und rief: „Sind wir uns einig, dass er den Mut und die Bereitschaft der Dänen, sich zu verteidigen, infrage stellt?“

„Er sagt den Deutschen, dass sie ruhig bei uns einmarschieren können, so wie die Russen es in Finnland getan haben. Wir können sowieso nichts ausrichten! Liebe Deutsche, kommt gerne her … Wir haben uns flach auf den Bauch gelegt … Seid so gut und übernehmt das Land, es gehört euch.“ Petersen unterstrich seine Worte mit einladenden Handbewegungen, als sei er dabei, die Deutschen über die Grenze zu bitten.

Sie lachten schallend.

Christian begnügte sich damit, den beiden anderen zuzuhören. Das Thema beschäftigte ihn. Was, wenn die Deutschen Dänemark tatsächlich angriffen, trotz der Neutralitätspolitik? Was würde mit der Familie geschehen? Tidde wohnte direkt an der Grenze. Oma, Alma und Jes? Er würde nicht dort sein können, um sie zu unterstützen.

Und welche Rolle spielte das Militär im Falle eines Angriffs? Konnte es tatsächlich zum Krieg kommen?

„Ich stimme euch zu. Wir halten die Luft an und versuchen, uns irgendwie durchzulavieren, wie damals im Großen Krieg“, sagte er, nachdem er er eine Weile nachgedacht hatte.

„Ha! Und gibt es irgendetwas, das darauf hindeutet, es könnte uns gelingen? Das nennt man die Vogel-Strauß-Methode. Hitler ist vollkommen wahnsinnig – nichts ist vorhersagbar.“ Aksel trank einen großen Schluck Bier, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und rülpste.

Sie lachten alle drei, als er hinzufügte: „Das ist jedenfalls meine Meinung zu diesem beschissenen Emporkömmling von einem deutschen Kanzler.“

Die Leute an den umstehenden Tischen stimmten in ihr Gelächter ein.

In der nächsten Zeit hörte Christian immer wieder, wie Offiziere und andere Militärs über die denkwürdige und von Niederlage und vorauseilender Kapitulation geprägte Rede des Staatsministers diskutierten. Einige meinten, nach Staunings Worten müsse man daran zweifeln, ob Dänemark sich im Falle eines Angriffs überhaupt verteidigen wollte. Mitte Januar konnte man einiges von dem, was auf den Fluren besprochen wurde, in der Berlingske Tidende lesen. Zwar war die 'Kopenhagen-Zeitung' in Sønderborg verpönt, doch hatte Petersen über verschlungene Wege, auf die er nicht näher einging, die aktuelle Ausgabe besorgt.

Sie beschränkten sich auf den offenen Brief von Oberst Alf Giersing, Chef des Gardehusarregiments, der die Regierung offen kritisierte und Staunings Äußerungen als „Unsinn“ bezeichnete. Giersing gab dem Staatsminister und dem radikalen Außenminister P. Munch die Schuld dafür, dass Dänemark praktisch wehrlos war. Hätte man in den Dreißigerjahren eine „vorausschauende und mannhafte Politik“ betrieben, könnte Dänemark heute über eine effektive Verteidigung verfügen.

Sie beugten sich alle drei über die Zeilen und verschlangen die Worte förmlich. Dann richtete Petersen sich auf, ballte die Fäuste und sagte laut: „Genau meine Worte! Man hätte eine vorausschauende und mannhafte Politik führen müssen.“ Die beiden anderen konnten sich ihm nur anschließen.

Kurz darauf griff die Konservative Folkeparti die Kritik des Obersts auf und empfahl dem Regierungschef, eine Volksabstimmung über die Verteidigung Dänemarks „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ durchzuführen. Die Meldung gab den Ausschlag darüber, für welche Partei Christian und die anderen bei der nächsten Wahl stimmen würden. Daran konnte auch Staunings Erklärung, er sei missverstanden worden und „selbstverständlich sollen alle Kräfte des Landes dafür eingesetzt werden, einen Angriff auf die Neutralität unseres Landes abzuwehren“, nichts ändern.

Im Laufe des Winters richtete sich der Fokus der Öffentlichkeit auf Finnland. Heute stand ein neuer Artikel in der Zeitung, und Christian und die beiden anderen saßen in ihrem Zimmer, bemüht, sich auf ihren Lernstoff zu konzentrieren, doch auf dem Tisch lag die Ausgabe und schrie geradezu nach Aufmerksamkeit. Es war tatsächlich nicht schwer, sich ablenken zu lassen, im Zimmer war es eiskalt, sie froren, obwohl sie ihre dicken Uniformmäntel trugen. Sie saßen über ihre Bücher gebeugt da, während ein leises Hintergrundgeräusch aus stetig stampfenden Füßen den Raum erfüllte, ein ebenso verzweifelter wie hoffnungsloser Versuch, Körperwärme zu speichern.

„Was schreiben sie denn? Hat einer von euch schon den Artikel gelesen?“ Aksels Fragen veranlassten seine Kameraden, den Kopf zu heben.

Beide hatten ihn gelesen, aber Petersen kam Christian zuvor: „Er bestätigt, was wir schon wussten. Seit der Winter in Finnland eingesetzt hat, laufen die Dinge für die Russen nicht mehr so reibungslos. Es ist der kälteste Winter seit Menschengedenken, und ihre Panzer sitzen in Eis und Schnee fest. Da sieht man mal, plötzlich haben die Finnen einen Vorteil, wo vorher alles komplett hoffnungslos aussah, aber jetzt haben sie eine reelle Chance.“

„Teufel auch, gut zu hören!“ Aksel schlug mit der Faust auf den Tisch.

In diesem Moment klopfte ihre Vermieterin an die Tür, es war wohl Zeit für den Abendkaffee. Vorsichtig schob sie die Tür auf und kam mit einem Tablett in den Händen herein. Wie gewöhnlich hatte sie reichlich Lippenstift aufgetragen und sich die Augenbrauen gezupft. Das Resultat war dramatisch und beinahe unfreiwillig komisch. Frau Jakobsen war und blieb eine eitle Witwe ohne jeden Inhalt in ihrem monotonen Dasein. Christian war überzeugt, dass die Vermietung des Studierzimmers und das Servieren des Abendkaffees die Hauptbeschäftigung in ihrem Leben war. Sie brezelte sich auf und tat alles, um die Aufmerksamkeit ihrer Mieter auf sich zu ziehen. Offensichtlich spielte ein Altersunterschied von dreißig, vielleicht vierzig Jahren aus ihrer Sicht keine nennenswerte Rolle. Sie hatten sich oft darüber amüsiert. Das Problem war nur, dass man sie kaum wieder loswurde, war sie einmal im Zimmer.

„Ah, da sitzen meine Jungens ja und sind wieder so fleißig“, flötete sie in irritierend hohem Ton.

Als sie das Klopfen hörten, hatten sich alle drei rasch wieder über ihre Bücher gebeugt und so getan, als seien sie in die Lektüre vertieft.

„Was steht denn heute auf dem Stundenplan?“, fragte sie. „Sind etwa bald Prüfungen?“

„Stellen Sie den Kaffee bitte einfach dorthin.“ Aksel zeigte auf die kleine Anrichte, auf der Frau Jakobsen das Tablett stets abstellte, nachdem sie hereingekommen war.

„Ah, endlich ein bisschen was, um sich aufzuwärmen“, sagte Petersen. „Ist es wirklich nicht möglich, etwas mehr zu heizen?“

„Aber Herr Petersen, seien Sie doch nicht so streng mit einer Dame. Stramme junge Männer wie sie haben doch nun wirklich andere Möglichkeiten ...“ Was für Möglichkeiten sie meinte, beließ Frau Jakobsen im Ungewissen, jedenfalls ging Christian davon aus, dass es in ihrem Zimmer kaum wärmer werden würde.

„Danke, Frau Jakobsen“, sagte Aksel kurz angebunden.

„Na denn ...“ Sie zog sich zur Tür zurück.

„Aber Herr Petersen, seien Sie doch nicht so streng ...“, sagte Aksel mit theatralischer Stimme, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, und sie lachten laut.

Beinahe gierig griffen sie nach den dampfenden Kaffeetassen, und Aksel sagte: „Also, was ist da los in Finnland? Die Russen sitzen in Eis und Schnee fest?“

„Ja, genau“, antwortete Petersen und blies auf seinen Kaffee. „Sie wurden vom Winter überrascht. Ich weiß, das klingt ziemlich albern, aber es sind wohl schon eine ganze Menge russischer Soldaten gefallen. Die Finnen kämpfen mit Todesverachtung, sie halten sich verdammt noch mal wacker, und es sieht gar nicht schlecht für sie aus, aber sie brauchen Hilfe.“

„Da kann man mal sehen, ein kleines Land kämpft um seine Eigenständigkeit, und es gelingt ihm tatsächlich, den Russen die Stirn zu bieten. Man sollte ihnen beispringen“, meinte Aksel und sah sie entschlossen an.

„Zuerst haben sie Schweden um Hilfe gebeten, dann aber auch Dänemark und Norwegen und andere Alliierte.“

Christian seufzte und trank nachdenklich von seinem Kaffee. „Ich stimme dir ja zu, man sollte ihnen zu Hilfe kommen“, er hielt kurz inne, „aber kann man als Südjüte in diesen Zeiten sein Land verlassen? Hitler wird immer unberechenbarer, marschiert er vielleicht plötzlich in Dänemark ein? Müssen wir dann nicht hier sein und Südjütland verteidigen? Ist das nicht unsere Pflicht?“

„Was gerade in Finnland passiert, erfordert entschlossenes Handeln, und zwar jetzt. Dass die Deutschen die Grenze überschreiten, ist hypothetisch“, entgegnete Petersen. „Wir sollten ihnen helfen und den Russen zeigen, was eine Harke ist – ich konnte die Kommunisten noch nie ausstehen.“

Christian rümpfte die Nase. „Und ich konnte die Nazis noch nie ausstehen.“

„Einer meiner Vetter ist auch beim Militär. Er hat sich entschieden, nach Finnland zu gehen, zusammen mit zwei Kameraden“, sagte Petersen und stellte seine Tasse auf den Tisch.

Aksel runzelte die Stirn. „Ich glaube, ich muss meine Meinung ändern. Christian hat recht. So, wie die Sache steht, müssen wir hierbleiben und unsere Heimat verteidigen, bis zum letzten Blutstropfen, wenn es sein muss. Die Deutschen können jederzeit hier auftauchen.“

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