Читать книгу Freiheit und Ehre - Roman nach der wahren Geschichte eines dänischen Freiheitskämpfers - Pernille Juhl - Страница 6
Haderslev, 1937
ОглавлениеAcht Tage sollten vergehen, bevor sie die Erlaubnis erhielten, die Kaserne zu verlassen. Er hatte den militärischen Gruß gelernt, rechte Hand an die Nahtkante der Mütze, alle Finger durchgestreckt. Die Grußpflicht war Teil seines Bewusstseins geworden, und er reagierte ohne Zögern, sobald er eine Uniform sah. Genauso war ihm der Befehl „Stillgestanden!“ in Fleisch und Blut übergegangen. Er hatte gelernt, dass Offiziere mit silbernen Sternen bestickte Schulterklappen trugen, die der Unteroffiziere zierten braune Dienstgradabzeichen und Feldwebel trugen Balken. Die Gefreiten hatten keine Schulterklappen. Christian schwor sich, seine Schultern sobald wie möglich mit Dienstgradabzeichen auszustatten.
Intensive Tage voller neuer Erfahrungen, aber auch Wiederholungen lagen hinter ihm, trotzdem waren seine Gedanken immer wieder zu Gerda gewandert. Wann würde er Gelegenheit haben, raus nach Lindholm Herregård zu radeln? Ob sie sich diesmal küssten? Jedenfalls würde er sie einladen, einen Film anzuschauen, in einem dunklen Kino. Es gab so vieles, wovon er träumte.
Dann, am ersten freien Nachmittag, verließ er die Kaserne in der vorgeschriebenen khakifarbenen Ausgehuniform. Er war glücklich. Die Sonne schien wunderbar, und es war der perfekte Tag, um Gerda zu treffen. Im Waschraum nahm er sich reichlich Zeit, stand so lange unter der kalten Dusche, bis ihm beinahe der Atem stockte. Er rasierte sich gründlich und strich prüfend mit der Hand über die glatte Haut. Ein paar Minuten lang putzte er sich die Zähne und konsultierte schließlich den Spiegel. Er war zufrieden. Das dunkle Haar war modisch kurz geschnitten, die Uniform strahlte Autorität aus, und von den vielen Stunden an der frischen Luft war seine Haut sonnengebräunt. Gerda würde Augen machen.
Fröhlich pfeifend rollte er auf einem geliehenen Fahrrad durch das Kasernentor.
Während seiner Zeit in der Bäckerei war er Gerda ab und zu begegnet, wenn sie zu Hause in Kollund gewesen war. Sie trafen sich an einer Straßenecke oder in einem Laden, und ein paar Mal hatte er sie besucht. Starr wie Salzsäulen saßen sie im Wohnzimmer und führten nichtssagende Gespräche über Wind und Wetter, während Gerdas Geschwister um sie herumwuselten und ihre neugierige Mutter sie überwachte. Sie saß in ihrem Sessel und las in einem Wochenmagazin oder strickte unaufhörlich, wobei sie so tat, als höre sie ihnen gar nicht zu. Unterdessen hockte Christian auf dem Sofa und fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut, obwohl Gerda neben ihm saß.
Sie sprachen über Lindholm und die Bäckerei. Er erzählte von der Arbeit, malte alles schöner aus, als es war und tat so, als sei er ein beliebter und geschätzter Mitarbeiter. Seinen Kollegen Ivar, der ihn hartnäckig ignorierte, erwähnte er nicht, und auch die Bewerbung beim Militär behielt er für sich.
Manchmal verließ Gerdas Mutter für ein paar Augenblicke das Zimmer. Dann hatten sie einige Minuten für sich, ignorierten die störenden Kinder, die auf dem Fußboden spielten, und ihre Blicke trafen sich. Die Zeit stand still. Sie errötete ein wenig und sah zu Boden, hob dann aber wieder den Kopf und sah ihm in die Augen. Er meinte, Verlangen und Zärtlichkeit in ihrem Blick zu lesen, und fühlte sich innerlich zerrissen. Am liebsten hätte er die Hand ausgestreckt, um sie zu berühren, ihre warme Haut, spürte Lust, aufzustehen und sie an sich zu ziehen, aber er widerstand der Versuchung.
Dann gerieten sich die Kleinen in die Haare, und einen Moment später war Gerdas Mutter wieder da, um sie auseinanderzuhalten und zu fragen, ob Christian noch eine Tasse Kaffee wolle. Gerda und er glitten zurück in die Wirklichkeit, in der es nichts Unbedeutenderes als Kaffee gab. Er brachte ein blasses Lächeln zustande und lehnte höflich dankend ab. „Aber Ihr Kaffee ist sehr gut, Frau Madsen.“
Ein paar Wochen bevor der Brief vom Militär gekommen war, hatten sie sich das letzte Mal im Wohnzimmer der Familie Madsen getroffen. Er hatte nichts darüber gesagt. Wenn er nach Haderslev kam, konnte er Gerda überraschen. Und sich vielleicht ohne all die anderen Madsens mit ihr treffen!
Gerda wurde zu einer Art Besessenheit für ihn. Ständig tauchte sie in seinen Gedanken auf. Während der Stunden in der Backstube verdrängte sie immer öfter sogar das Militär aus seinen Fantasien. Und wenn er ins Bett ging oder nachts aufwachte, materialisierte sie sich förmlich vor seinen Augen. Mal hielt sie ihn wach, mal versank er in intensiven Träumen. Er wollte allein mit ihr sein, sie umarmen, sie küssen.
Dass es tatsächlich passieren könnte, obwohl Frau Madsen und der Rest der Sippschaft zu Hause waren, ging über seine Vorstellungskraft. Aber Gerda brachte ihn zur Tür, nachdem er ihrer Mutter zum Abschied höflich eine klamme Hand gereicht hatte. Sorgfältig schloss Gerda die Tür zum Wohnzimmer, und als sie hinter der matten Glasscheibe der Haustür standen, lehnte sie sich an ihn. Sein Herz schlug heftig. Er nahm sie in die Arme und ihre Münder begegneten sich in einem kurzen, feuchten Kuss. Dann blickte sie zu Boden und flüsterte „Auf Wiedersehen.“ An diesem Tag hatte sein Rad den Weg nach Hause wie von allein gefunden, und das in Rekordgeschwindigkeit.
Die Erinnerung daran ließ ihn stärker in die Pedale treten.
Schon von Weitem raubte ihm die Schönheit des Lindholm Herregård beinahe den Atem. Weiße, herrschaftliche Gebäude mit Zinnen und Spitzen thronten zwischen gepflegten, grünen Wiesen, die sich erstreckten, so weit das Auge reichte. Hinter einem der Häuser konnte er einen kleinen See erahnen, und exotisch bepflanzte Terrassen und Gärten vervollständigten das Bild. Er fuhr jetzt langsamer. Vielleicht war es doch keine so gute Idee? Vielleicht hätte er doch besser anrufen oder einen Brief schreiben sollen. Konnte er hier einfach so unangemeldet aufmarschieren?
Schließlich blieb er am Ende der Allee stehen, stieg vom Rad und schaute hinüber zu der pompösen Einfahrt, die zu den Gebäuden führte. Das hier war nichts für ihn, und er entschied sich, umzukehren. Er fühlte sich fehl am Platz in seiner Uniform, die er doch sonst voller Stolz trug, konnte sich nicht vorstellen, zu dem prächtigen Eingangsbereich des Hauptgebäudes zu gehen und die Türglocke zu betätigen. Im selben Moment hörte er Motorengeräusche und drehte sich um. Ein schwarzer, blank polierter Wagen näherte sich. War es die Polizei? Sein Herz schlug schneller, und er fühlte sich, als habe er etwas Verbotenes getan.
Der Wagen kam neben Christian zum Stehen, und der Fahrer öffnete die Tür. „Suchen Sie jemanden?“, fragte er freundlich und sah ihn forschend an. Der Mann trug eine karierte Schirmmütze und einen dunklen, kurz geschnittenen Oberlippenbart und machte einen ausgesprochen aristokratischen Eindruck. Christian entschied sich, dass er den Gutsbesitzer vor sich haben musste.
„Ja … Nein … Ich ...“. Er drehte sein Fahrrad in die andere Richtung.
„Junger Mann, sind Sie sicher, dass ich Ihnen nicht vielleicht doch behilflich sein kann?“
„Nun ja, ich hatte nur eine etwas verrückte Idee“, murmelte Christian und blickte dabei zu Boden. „Eine Bekannte von mir arbeitet auf dem Hof.“ Er sah hinüber zu den Gebäuden.
„Und wer, wenn man fragen darf?“ Der Mann sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.
„Ja, also ... Fräulein Gerda Madsen“, antwortete Christian und ärgerte sich darüber, dass er errötete.
„Aha.“ Der Mann schien sich jetzt zu amüsieren. „Ein richtig nettes Mädchen. Wollen wir mal sehen, ob wir sie finden? Schließlich haben Sie den ganzen Weg auf sich genommen. Kommen Sie am Besten einfach mit.“
Christian zögerte. Er wünschte, er wäre nie gekommen. Was in aller Welt sollte er zu Gerda sagen, wenn ausgerechnet der Gutsbesitzer dabeistand? Wie war er auf den Gedanken verfallen, er könne einfach so an der Tür klingeln und Gerda würde öffnen? Und was dann? Was hatte er sich bloß dabei gedacht?
Zwei große Hunde kamen bellend und mit aufgestellten Nackenhaaren auf sie zu. Der Gutsbesitzer fuchtelte kurz mit den Armen und sagte ein paar Worte, und die Tiere legten sich schwanzwedelnd in den Kies der Einfahrt. Der Mann stieg die breite Treppe zum Eingang hinauf, schob die Tür weit auf und winkte Christian, ihm zu folgen.
„Jemand zu Hause?“, rief er in die große Halle. Christian widerstand der Versuchung, nach oben zu schauen und den riesigen Kronleuchter zu bewundern. Eine breite, weiß gestrichene Treppe führte in die erste Etage.
In einer Tür erschien eine dünne, gut gekleidete Frau. „Musst du so einen Lärm machen, Mogens?“ Dann bemerkte sie Christian.
Er wäre am liebsten im Boden versunken. Kurz überlegte er, unter dem Vorwand, er habe noch etwas Wichtiges zu erledigen, zur Tür hinauszustürzen. Aber das wäre nur noch peinlicher gewesen.
Der Gutsbesitzer deutete auf Christian und entgegnete der Dame, die vermutlich seine Frau war: „Wo ist Gerda? Sie hat Herrenbesuch.“ Schelmischer Tonfall, ein Lächeln in den Mundwinkeln. Herrenbesuch! Die Götter mochten wissen, was sie darunter verstanden.
„Guten Tag.“ Lächelnd reichte die Dame Christian eine zerbrechlich wirkende, parfümierte Hand. Nachdem er ihren Gruß erwidert hatte, sagte sie: „Ich glaube, sie hilft in der Küche. Ich sehe mal nach.“
Kurz darauf stand er alleine in der Halle und fühlte sich mehr denn je klein und völlig fehl am Platz. Immerhin konnte er nun ungestört den Blick durch die Eingangshalle wandern lassen, wagte sich an ein großes Gemälde heran und betrachtete die zahlreichen Jagdtrophäen, die an den Wänden hingen.
Plötzlich hörte er Gerdas helle Stimme hinter sich. „Kedde! Bist du es wirklich?“
Sein Puls beschleunigte, als er sich zu ihr umdrehte.
Sie trug eine weiße Schürze und lächelte, sodass man ihre perfekten Zähne sehen konnte. Das kastanienbraune Haar war zu einem Knoten im Nacken geflochten.
Vor lauter Verlegenheit rang er beinahe die Hände. „Ja … Ich … Ich wollte nicht, dass … Ich dachte ...“
Sie streckte die Hand aus und sie begrüßten sich förmlich. Mit einem anerkennenden Blick musterte sie ihn. Vielleicht war es doch keine so schlechte Vorschrift, die Ausgehuniform tragen zu müssen.
„Wollen wir uns nicht auf die Terrasse setzen? Möchtest du etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?“
„Öh, ein Kaffee wäre ...“
„Schön. Komm, ich zeige dir die Terrasse.“
Wenig später saß er auf der Kante eines Gartenstuhls und sah sich verstohlen um, während er darauf wartete, dass sie zurückkam. Ob der Graf oder was er nun auch immer sein mochte irgendwo hinter einer Gardine stand und ihn beobachtete? Und was dachten sie von Gerda und ihm? Dass sie verlobt waren?
Sie balancierte Tassen, Teller, eine geblümte Kaffeekanne im selben Muster und ein paar Plätzchen auf einem Tablett, als sie die Terrasse betrat.
„Wie schön“, sagte sie und arrangierte hektisch das Gedeck. Peinlich berührt, stellte er fest. Wie er selbst.
„Kannst du denn einfach so … Ich meine, während der Arbeitszeit …?“
„Ja, das geht schon. Sie sind sehr nett. Tatsächlich hat die Dame des Hauses vorgeschlagen, ob ich nicht eine Stunde freinehmen wolle.“ Jetzt lächelte sie wieder, und die Grübchen machten ihr Gesicht noch anmutiger.
„Ich bin in der Haderslev Kaserne stationiert“, erzählte er und versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen. Das konnte sie sich wahrscheinlich selbst denken.
„Wirklich?“ Ihre Augen funkelten.
„Bist du gerne hier?“, wechselte er das Thema.
Sie nickte und trank einen Schluck Kaffee. Er bemühte sich, seinen Blick nicht allzu ungeniert über ihren wohlgeformten Körper wandern zu lassen. Sie war jetzt zwanzig Jahre alt, wie er auch, war eine Frau geworden. Eine attraktive Frau! Seit fünf Jahren hatte sie die Stellung auf Lindholm inne. Wollte sie etwa den Rest ihres Lebens als Haushälterin verbringen, so wie seine Mutter? Sie schien sich wohlzufühlen. Aber was war mit den guten Noten, die sie in der Schule bekommen hatte? Sie hatte doch Ärztin werden wollen.
Warum in aller Welt hatten sie sich immer nur bei ihr zu Hause getroffen, wenn die Familie dabei gewesen war? Warum hatte er sie nie eingeladen, mit ihm auszugehen? Ein vertrauenswürdiger Bewerber brauchte ja wohl keine Anstandsdame. Vielleicht hielt Frau Madsen ihn einfach nur für einen alten Schulkameraden. Wofür hielt Gerda ihn?
„Mir geht es hier sehr gut“, antwortete sie.
Sie gehört zu mir. Wir sind füreinander bestimmt, dachte er. Aber was, wenn sie schon einen anderen hat? Ein kalter Schrecken durchzuckte ihn eine Sekunde lang. Was wusste er schon über Gerda?
„Schön zu hören.“ Er richtete sich auf seinem Stuhl auf.
Sie sprachen über Peter, die Mittelschule, die sie verlassen hatte. Über ihre Familien. Über Kollund und Haderslev. Sein neues Leben als Rekrut. Die Stunde verging wie im Flug.
„Komm bald wieder her, ja?“, sagte sie, als sie ihm die Hand gab. Er genoss ihre feuchte Wärme und hielt sie einen Moment zu lange.
Auf dem Weg zurück zur Kaserne ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Ein ganzer Film lief vor seinem geistigen Auge ab. Er in inniger Umarmung mit Gerda, dann kniete er vor ihr und sie heirateten in der Kirche in Bov. Alma und Jes waren unglaublich stolz. Onkel Jes war ganz rot im Gesicht, wie jedes Mal, wenn er begeistert war, lächelte breit und fuhr sich mit seinem Taschentuch über den kahlen Schädel. Gab der Wahl seines Pflegesohns seinen Segen. Nach der Trauung umarmte Alma ihn, sichtlich gerührt, und voller Inbrunst schloss sie ihre neue Schwiegertochter in die Arme, denn als solche sahen sie Gerda. Sie wären überzeugt, seine Wahl sei perfekt und würden sich auf Enkelkinder freuen, die sie ebenso als ihre eigenen betrachten würden. Oma und seine Mutter, Tidde, würden natürlich da sein und beide vor Stolz strahlen. Und er würde über seinen Schatten springen und seiner Mutter zeigen, dass er sie liebte. Dass es kein Problem für ihn war, mehrere Mütter in seinem Leben zu haben. Und auch Gerda würde es hinbekommen, Schwiegertochter zweier Mütter zu sein. Onkel Jacob und Vetter Georg würden da sein, und nicht zuletzt Vetter Nicolaj, grün vor Neid. Peter und Hans mussten sie natürlich auch einladen.
Der Gedanke an die Freunde Peter und Hans rief die Erinnerung an die Zeiten der Mittelschule wach, an die er gerne zurückdachte. Johannes Fosmark, einer der Lehrer, hatte sein erwachendes Interesse für Literatur gefördert. In den übrigen Fächern lief es nicht so gut, aber Alma und Jes sprachen die Zeugnisnoten nie an, weshalb er davon ausging, dass sie leidlich zufrieden mit ihnen waren.
Die Zeit verrann wie Sand zwischen den Fingern, und eines schönen Frühlingstags – sie gingen bereits zwei Jahre auf die Mittelschule –, den er nie vergessen würde, war alles anders als gewöhnlich. Gerda blickte den ganzen Tag mürrisch drein, und Christian war froh, dass Peter auf direktem Weg nach Hause fuhr, weil er seinen Eltern bei irgendetwas helfen musste. So hatte er das letzte Stück des Schulwegs Gerda für sich allein.
„Wollen wir noch bei den Pferden vorbeischauen?“, fragte er und sah Gerda von der Seite an, die die ganze Zeit über schweigend in die Pedale getreten hatte. Die Aprilluft war ungewöhnlich mild und die Sonne lugte grüßend zwischen den freundlichen Wolken hervor.
„Gerne.“ Sie starrte weiter vor sich auf die Straße, die Lippen fest zusammengekniffen. Sie nahmen sich viel Zeit für ihr Ritual, die Räder gegen die Hecke lehnen und die Pferde füttern, die träge mit dem Schweif nach Fliegen schlugen und zufrieden das Gras aus ihren ausgestreckten Händen kauten. Christian hätte zu gerne gewusst, warum Gerda in so selten schlechter Stimmung war.
„Komm, legen wir uns ins Gras. Ist dir kalt? Du kannst meine Jacke haben, wenn du willst.“
„Danke.“
Ihre Einsilbigkeit beunruhigte ihn immer mehr. Der traurige Blick, die hängenden Schultern.
Eine Weile sahen sie stumm in den Himmel, lauschten dem Zwitschern der Vögel und genossen den Duft des noch jungen Frühjahrs. Dann drehte Christian den Kopf, sah sie an und brach die Stille: „Was ist denn los mit dir?“
„Ich gehe nicht mehr auf die Duborg Schule.“ Gerda starrte weiter ausdruckslos hinauf zu den Wolken.
„Was meinst du damit?“ Christian setzte sich unwillkürlich auf.
Gerda sah ihn immer noch nicht an. „Ich komme nicht mehr zur Schule.“
„Nicht mehr zur Schule?“, echote er und bemerkte ein Schimmern in ihren Augenwinkeln.
Mit dem Handrücken wischte sie ein paar Tränen weg und sah ihn immer noch nicht an. „Mein Vater sagt, ich soll eine Lehre als Zimmermädchen machen.“ Sie schniefte und tupfte sich die Nase mit dem Zipfel ihres Ärmels ab.
„Als Zimmermädchen?“, fragte er und bemerkte, dass er einmal mehr wiederholte, was sie gesagt hatte. Dann fügte er hinzu: „Wo? Warum?“
„Auf Lindholm Herregård, bei Haderslev. Mein Vater sagt, es sei eine sehr gute Stellung.“ Sie sprach immer noch zu dem Himmel über ihnen. Konnte sie ihn nicht wenigstens ansehen?
„Aber wieso denn?“, rief er beinahe. „Du musst doch erst die Schule fertig machen.“
Endlich schaute sie ihn mit feucht glänzenden Augen an. „Wir brauchen das Geld. Es ist teuer, mich zu Hause zu haben, und Mädchen studieren ja doch nicht.“
„Aber du wolltest doch Ärztin werden“, setzte er zaghaft nach, hielt aber inne, als er bemerkte, wie sehr es sie schmerzte. Er wünschte, er hätte es nicht gesagt.
„Es ist entschieden“, sagte sie mit tonloser Stimme und wandte den Blick ab, starrte wieder in die Wolken, die plötzlich schwer und bedrohlich wirkten, als solle es gleich Regen geben; ein Spiegelbild der Stimmung, die über ihnen lag. Gerda zog ihre Jacke zu.
Ein Pferd wieherte. Unten auf der Straße fuhr ein Auto vorbei. Christian hatte einen Kloß im Hals. Er wollte die Hand ausstrecken und sie trösten, hielt dann aber inne. Es würde doch nur unbeholfen wirken. Sie hatten sich nie berührt. Stattdessen sagte er: „Ich würde so gerne weiter mit dir zur Schule gehen. Ohne dich ist es nicht dasselbe.“ Er hörte sein eigenes Seufzen.
Er ließ sich wieder neben sie ins Gras sinken. Wartete darauf, dass sie etwas sagte.
„Wir können uns doch trotzdem hin und wieder sehen, oder nicht?“, fragte sie schließlich.
Wieder richtete er sich auf. „Natürlich. Ich besuche dich, wenn du frei hast. Du kannst dir Bücher von mir leihen, und vielleicht können wir mal ins Kino gehen.“ Seine Stimme klang beinahe begeistert.
Gerda lächelte vorsichtig, setzte sich auf und wandte sich ihm zu. „Du bist sehr nett, Kedde“, sagte sie, und sein Herz schlug etwas schneller. Ärgerlich, dass er Peter nicht davon erzählen konnte. Peter wäre ganz sicher selber gerne alleine mit Gerda gewesen. Das Problem war, dass Peter gerne mit ihr, aber auch mit ihm zusammen war, nur eben am liebsten alleine mit jedem von ihnen. Und Christian ging es genauso. Das würde sich nun ändern. Peter und Christian würden weiter zur Schule gehen, ohne Gerda.
Mit der Erinnerung kam die Traurigkeit. Er versuchte, sich auf das Positive zu konzentrieren. Die Zukunft. Er würde Gerda heiraten und eine glänzende Karriere beim Militär machen, General oder vielleicht Major werden. Er sah bereits die Orden an seiner Brust und dachte an das viele Geld, das er verdienen würde. Sie würden in ein großes Haus ziehen, und er würde Alma und Jes Geld schicken, sodass sie es sich endlich ein wenig gutgehen, ihr Haus renovieren lassen und einen Helfer für die Hühnerfarm einstellen konnten. Alma würde sich weiße Paneelen fürs Esszimmer und ein neues Badezimmer leisten können, wovon sie seit ihrem Einzug träumte.
Er lächelte still, überzeugt, dass er Gerda schon nächsten Samstag ins Kino einladen und in der Dunkelheit ihre Hand halten würde. Und danach, wenn sie noch ausgingen, würde er ihr von seinen Plänen erzählen. Zumindest von einem Teil seiner Pläne. Er wollte keinesfalls mit der Tür ins Haus fallen, aber sie sollte wissen, dass er ehrliche Absichten hatte. Und er war überzeugt, dass er ihr einen Kuss geben würde, sollte sich die Gelegenheit bieten.