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Anhaltende Trostlosigkeit

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Am 31. August 1868 sass Königin Victoria, nur oberflächlich getarnt als Gräfin von Kent, auf einer Schweizer Alpenwiese. Sie genoss dort während des Abstiegs von einer Bergtour ihren Nachmittagstee, nachdem ihre Begleiter Herausforderungen wie das Fehlen eines Teekessels und die schiere Unmöglichkeit, in dieser Gegend Wasser aufzutreiben, souverän überwunden hatten.3

So waren sie, die britischen Reisenden, so traten sie – mit ihren typischen Gewohnheiten – die friedliche Eroberung der Schweiz an. Überall im Land waren sie unterwegs, einige auf strapaziöse und abenteuerlustige Weise, andere gemächlicher. Nur wenige von ihnen aber werden einen ähnlichen Aufwand wie ihre Queen betrieben haben, um in die Schweiz zu entkommen. Für die Königin war dieser Urlaub der Gipfelpunkt mehrerer Jahre des Planens, des Hoffens und des Ränkespiels.


«Er beschützte mich. Er tröstete und ermutigte mich.» Königin Victoria mit Prinz Albert im Buckingham-Palast, 1854.

Sechs Jahre lang hatte Königin Victoria völlig zurückgezogen gelebt. 1868 war das siebte Jahr ihrer Trauer um Prinz Albert, den Prinzgemahl, dessen Tod 1861 ihrem Leben den leuchtenden Mittelpunkt geraubt hatte. Sie war 49 Jahre alt, nicht sehr gross und mittlerweile etwas rundlich geworden, ausserdem Mutter von neun Kindern und Herrscherin über ein Viertel der Weltbevölkerung. Es hiess, sie habe seit dem Verlust, der sie so tief erschüttert hatte, nicht mehr gelacht. Albert hatte weit mehr als nur die Bürde der Verantwortung mit ihr geteilt. Ohne seinen Ratschlag und Schutz fühlte sie sich verloren und unsicher. Sie war davon überzeugt, ihren Aufgaben als Königin alleine nicht gewachsen zu sein. Zwar versuchte sie, ihr Bestes zu geben, und kam ihren königlichen Pflichten nach, wann immer es die Situation erforderte. Doch sie fürchtete öffentliche Auftritte und empfand sie als qualvoll. Sie wirkte steif und unnahbar, obwohl sie ihrer Natur nach eigentlich das Gegenteil war.

«[…] ihr einfacher und starker Charakter bestand aus einigen grundsätzlichen Wesensmerkmalen. Von Natur aus besass sie nach Auffassung derjenigen, die die Kühnheit besitzen, verallgemeinernde Aussagen zu diesem Thema zu treffen, beinahe alle Eigenschaften einer typischen Frau: Sie war einfühlsam, gefühlsbetont, nicht intellektuell, parteiisch, detailverliebt, mehr an der konkreten als an der abstrakten Sicht der Dinge interessiert und von einer tiefen natürlichen Ehrfurcht vor dem Sicheren und Anständigen. Neben diesen klassischen Eigenschaften ihres Geschlechts besass die Königin auch diejenigen ihres Zeitalters … obwohl königlich, war sie nicht aristokratisch im britischen Sinne. Das gesunde, biedere deutsche Blut, das durch ihre Adern floss, hatte ihrem Geschmack eine alltägliche, ja bürgerliche Färbung verliehen. Allerdings war sie ungewöhnlich energisch. Ihre Freuden waren schwelgerischer als die einer durchschnittlichen jungen Frau, ihr Interesse am Detail unerschöpflich, ihr Eigensinn heftiger, ihre Unschuld frischer. Sie war, auch dies mochte eine auf Deutschland zurückgehende Veranlagung sein, mit einem ausserordentlich starken Temperament begabt, welches das Gewöhnliche an ihr in einem Ausmass steigerte, dass es zu etwas Aussergewöhnlichem wurde. Zu dieser verblüffenden Leidenschaftlichkeit des Gefühls kam eine verblüffende Leichtigkeit des Blicks hinzu.»4

David Cecils Charakterskizze steht in deutlichem Kontrast zur verbreiteten, allzu einseitigen Wahrnehmung Königin Victorias als Inbegriff des viktorianischen Geistes: unamused, prüde, sittsam. Seiner 1954 veröffentlichten Skizze gingen andere voraus – darunter die mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor entstandene Darstellung Lytton Stracheys –, die ein differenzierteres Bild von Victorias Persönlichkeit zeichneten. Doch das Klischee der strengen, zurückgezogenen, in ernstes Schwarz gekleideten Frau ist so tief verwurzelt, dass es bis heute existiert. Es überlagert unsere Sicht auf die heitere und spontane Seite der Queen, die sich, nachdem sie aus ihrer tiefen Trauer einigermassen in den Alltag zurückfand, durchzusetzen wusste und ihr Selbstvertrauen als Monarchin aus eigener Kraft stärkte.

Königin Victorias Urlaub in der Schweiz im Jahr 1868 half ihr dabei, doch bis dahin war es noch ein langer Weg. Der Tod Prinz Alberts war für sie so niederschmetternd gewesen, dass sie Jahre benötigte, um sich von diesem Schock zu erholen. Den Rest ihres mehr oder weniger in Trauer verbrachten Lebens verwendete sie darauf, mit diesem Verlust zurechtzukommen. Erst in den 1870er-Jahren begann sie das Schicksal zu akzeptieren und wurde ausgeglichener. In den Jahren davor jedoch wurde der Umstand, dass sie auf ihrer Zurückgezogenheit beharrte, zu einem ernsthaften nationalen Problem, sodass zeitweise sogar die Möglichkeit ihrer Abdankung erwogen wurde.

Die Familie der Queen und ihr Hofstaat unternahmen alles, um sie zu unterstützen, allen voran ihr damals noch nicht offizieller Privatsekretär General Grey, dem sie 1863 (wie üblich in der dritten Person) schrieb:

«[…] sie kann nicht leugnen, dass er ihre wichtigste Stütze ist und dass sie sich, wenn er abwesend ist, stets besonders ängstlich fühlt. Im Augenblick macht sie sich keine Sorgen & ist ruhiger; doch ihr ständiger & immer stärker zunehmender Kummer, der zu einem schrecklich nervösen Temperament noch hinzukommt (& das ihr teurer Gatte nur zu gut kannte & der allzu häufig unter ihren Ängsten leiden musste, welche er aber natürlicherweise beschwichtigen konnte, da sie ihm zu jeder Tages- & Nachtzeit alles anvertrauen konnte), hindert sie, irgendetwas gelassen aufzunehmen.»5

Dass die Queen General Grey ins Vertrauen zog und mit ihm über ihre Reisepläne sprach, überrascht nicht angesichts ihrer fortwährenden Sehnsucht nach einer Vaterfigur und einer männlichen Schulter, an die sie sich anlehnen konnte. So erzählte sie Grey etwa von ihrer Absicht, 1863 drei Wochen in Coburg zu verbringen, dem Familiensitz Prinz Alberts in Deutschland (im damaligen Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha), einem Ort, dem sie sich sehr verbunden fühlte. Sich dorthin zu begeben, sei ihr ein Bedürfnis, schrieb sie an General Grey,

«[…] da sie es fast als Pflicht empfindet, etwas für ihre erbärmliche Gesundheit & Nerven zu tun, damit ihre Depression & Erschöpfung nicht noch weiter zunehmen.

Weiss Gott, dass sie, ginge es nur nach ihrem eigenen Willen, nichts für ihre Gesundheit täte, da es ihr einziger Wunsch ist, dass ihr Leben bald enden möge. Aber sie spürt, dass sie, wenn sie denn weitermachen muss, ab und zu einen kompletten Tapetenwechsel vornehmen muss (falls sie dies nicht an der Ausübung ihrer Pflichten hindert & sie hofft, dass es dies nicht tut). Folglich muss sie im Frühjahr für zwei oder drei Wochen nach Balmoral & im Sommer für 3 Wochen nach Coburg (nur nach Coburg) gehen, einmal abgesehen von einem Besuch bei ihrem lieben Onkel in Brüssel, der eine Pflicht & absolut notwendig ist.

Ihr Geliebter Engel würde nichts dagegen einzuwenden haben, dass sie diesen zusätzlichen Ortswechsel vornimmt, wenn man ihn fragen würde & er sähe, wie schwach & angst- und gramgebeugt sie ist – und dass das immer weiter zunimmt.»6

Das Umfeld der Königin wusste nur zu gut, was der eigentliche Grund der Probleme war. In diesem Sommer schrieb Grey aus Coburg an Sir Charles Phipps, einen zuverlässigen Hofbeamten und Hüter der königlichen Privatschatulle:

«Ich hatte in der Zwischenzeit ein langes Gespräch mit Prinzessin Alice [Königin Victorias zweiter Tochter, der späteren Grossherzogin von Hessen-Darmstadt]. Sie sagt, es gehe der Königin sehr gut. Sie habe das 18 Teilnehmer zählende Mittagessen für den österreichischen Kaiser hervorragend bewältigt, viel gesprochen & sei auch noch zum Fenster gelaufen, um ihn wegfahren zu sehen. Prinzessin Alice sagt auch, die Königin habe ihr anvertraut, sie habe Angst, es könnte ihr zu gut gehen, als ob das ein Verbrechen sei & dass sie befürchte, es könne anfangen, ihr Spass zu machen, auf ihrem schottischen Pony zu reiten usw. usf. Sie ist so liebenswürdig & anrührend in ihrer Art, dass es einem schwerfällt, sie zu etwas zu drängen, das sie nicht mag. Doch nach dem nächsten Jahrestag müssen wir alle, ganz behutsam, versuchen, sie dazu zu veranlassen, wieder ihre alten Gewohnheiten aufzunehmen.»7


«… dieses Gefühl anhaltender Trostlosigkeit», Königin Victoria an Kronprinzessin Victoria, 3. September 1867.

Doch das war leichter gesagt als getan und sollte noch eine ganze Weile dauern. Zwar unternahm die Königin vereinzelt Reisen, doch einige Jahre lang wagte sie sich nicht über die ihr vertrauten und sie beruhigenden eigenen Residenzen und die ihrer nächsten Familie im Ausland hinaus. Eine davon war das Sommerhaus Rosenau bei Coburg, in dem Prinz Albert zur Welt gekommen war. Aber so friedlich dieses Haus auch sein mochte – es befanden sich immer viele Leute dort. Als Königin Victoria sich im August 1865 auf der Suche nach Frieden und Ruhe dort aufhielt, kam ihr eine Idee, die sie nicht mehr losliess und die sie drei Jahre später in die Tat umsetzen sollte.

Sie hielt diese sofort in einer kurzen Notiz für General Grey fest:

«28. August 1865. Die Königin hat das Gefühl, dass sie eines Tages versuchen muss, 4 Wochen an einem völlig ruhigen Fleck in der Schweiz zu verbringen, wo sie alle Besucher abweisen und völlige Ruhe haben kann. Während der ersten Woche hier spürte sie den Vorzug der Ruhe, doch seit letztem Dienstag gab es keine einzige Unterbrechung mehr. Seit Montag wurde sie von der Zahl der Besucher und Verwandten völlig überwältigt, sodass sie es bedauert, nicht 3 oder 4 Tage länger hier zu bleiben, um sich vor Antritt der Reise zu erholen. Im Ernst meint sie, dass sie, falls sie im nächsten Jahr noch leben sollte (und, ach!, sie muss weiterleben), versuchen muss, völlige Ruhe zu finden, denn sie spürt, dass sie mit ihren Nerven und Kräften allmählich am Ende ist. Sie hat mit Kanné gesprochen [dem Direktor für Reisen auf dem Kontinent] und auch mit Major Elphinstone [dem Erzieher ihres Sohnes, Prinz Arthur], doch sie wünschte, dass auch der General mit ihnen spricht, denn die Königin möchte, dass man einen ganz friedlichen Fleck in einem schönen Teil der Schweiz findet, den sie ohne eine allzu lange Reise erreichen kann. Sie möchte nicht in der Schweiz herumreisen oder sehr ermüdende Dinge sehen, denn ihre Kraft und ihre Nerven würden das nicht aushalten. Sie würde mit einer kleinen Gesellschaft reisen, keine Pferde mitnehmen, aber vielleicht 2 Ponys, um selbst zu reiten, und sie möchte auf möglichst zurückgezogene Weise wohnen. General Grey wird das begreifen, da er ihre Streifzüge durch die Highlands kennt, doch sie fürchtet, dass dies bei Kanné eher nicht der Fall sein wird. Er wird dann der Meinung sein, dass die Königin in Darmstadt übernachten müsse, und dann noch zweimal, mit einem Ruhetag dazwischen! … Die Königin verspürt ein wirkliches Verlangen, es auszuprobieren.»8

Dieses Verlangen hielt an und wurde immer stärker. Die Königin fand zusehends Gefallen an der Idee und fing an, General Grey mit einer Fülle in rascher Folge verfasster Notizen zu bombardieren. In den ersten beiden Notizen vom darauffolgenden Tag teilte sie ihm mit, sie habe während einer Ausfahrt mit dem Vorreiter Trapp gesprochen und dieser habe ihr gegenüber ein Haus namens «Riss» in Tirol in Österreich erwähnt, das sich eignen könnte.

«Es gibt dort ringsherum die grossartigste Alpenlandschaft und völlige Einsamkeit. Die Königin würde die Schweiz bevorzugen, da der Prinz das Land kannte und sie lieber nichts sehen möchte, was er nicht gesehen hat. Da aber andererseits völlige Ruhe und Einsamkeit der Hauptzweck der Reise sind, liesse sich dieser am besten im ‹Riss› erreichen. Ein Teil des Gefolges würde in der nächstgelegenen Stadt bleiben.»9

Später am selben Tag kam ihr noch ein Gedanke, und sie schrieb an Grey, sie wünsche, dass er

«[…] sich nicht davon abschrecken lassen soll, wenn er hört, wie klein die Unterkunft, wie gross die Entfernung zur Stadt und wie schwierig es sei, im ‹Riss› Lebensmittel zu beschaffen.

Die Königin könnte und würde mit den schlichtesten Speisen und Lebensmitteln vorliebnehmen. Sie würde ihre Mahlzeiten (ausser vielleicht das Frühstück und das Mittagessen) mit ihrem ganz kleinen Gefolge einnehmen. Ausser ihren Kindern würde sie lediglich einen Kammerherrn und 1 Hofdame & einen Arzt- & ganz wenige Diener mitnehmen. Kurzum, sie würde sich mit dem Nötigsten begnügen und nur diejenigen Diener mitnehmen, die wirklich unerlässlich sind. Die Königin hat Berechnungen angestellt & ob wir in einer Nacht und einem Tag von hier dorthin fahren können. … Die Königin meint, wir könnten es leicht schaffen, von Antwerpen ohne Unterbrechung hierherzukommen. Wir sind ja bewusst langsam in Antwerpen und Darmstadt losgefahren & sind sehr spät aufgebrochen. Wenn wir 3 oder 4 Stunden früher aufbrechen & hier 2 Stunden später ankommen & ein bisschen schneller fahren, können wir das leicht schaffen.»10

Nun sollte es also Österreich sein.

Oder vielleicht doch die Schweiz? «Wegen der Länge der Reise», schrieb sie am nächsten Tag an Grey, «wäre es, falls die Königin in die Schweiz ginge, notwendig, dort 4 Wochen zu verbringen, sonst könnte sie die Reise nicht antreten.»11 Zwei Tage später sah es wieder nach Österreich aus, wie sie Grey schrieb, wenngleich es sich diesmal um ein anderes Haus handelte – «[…] ein reizender Ort … als Reiseziel der Königin, der sämtliche Vorzüge & keinen der Nachteile des Riss’ besitzt».12

Und so ging es weiter. Tatsächlich aber sollte Königin Victoria im Jahr 1866 überhaupt nicht ins Ausland reisen, da Preussen und Österreich Krieg miteinander führten, und auch im folgenden Jahr kam die Reise nicht zustande. Doch schon im Sommer 1867 begann die Queen sich wieder intensiv mit dieser Angelegenheit zu beschäftigen und Pläne zu schmieden, 1868 einige Wochen in tiefer Abgeschiedenheit in der Schweiz zu verbringen. Prince Albert war 1837 vor ihrer Hochzeit durch die Schweiz gereist und hatte ihr begeisterte Berichte und Erinnerungen von dort geschickt, die ihr viel bedeuteten.13 Und 1864 war ihr dritter Sohn, Prinz Arthur, auf den Spuren seines Vaters durch die Schweiz gereist. Ein gut vorbereiteter Urlaub in diesem Land würde ihr die ersehnte Erholung und Zurückgezogenheit verschaffen und sie gleichzeitig auf indirekte Weise wieder mit ihrem geliebten Mann vereinen.


Der 14-jährige Prinz Arthur auf seiner Reise durch die Schweiz 1864 mit dem Reiseführer Antoine Hoffmann (rechts, mit Seil).

Doch dieser mächtige Drang, sich von allem zu entfernen, in die Einsamkeit einzutauchen und dieselbe reine Alpenluft zu atmen, die Albert geatmet hatte, stand in direktem Widerspruch zu einer nicht minder fordernden Erwartung. Diese ging von ihren Untertanen in Grossbritannien aus, die mehr von ihr sehen wollten, nicht weniger.

Ihre Hofbeamten hatten schon mehrere Jahre zuvor bemerkt, dass sich da etwas zusammenbraute. So hatte Viscount Torrington, ein Kammerherr der Queen, General Grey bereits 1863 auf diesen Sachverhalt hingewiesen:

«[…] von aussen geht, beinahe von den höchsten Persönlichkeiten im Lande bis hinunter zum kleinsten Gassenjungen in London, ein erheblicher Druck aus, die Königin einmal mehr dazu zu bewegen, nach London zu kommen. Die Öffentlichkeit akzeptiert niemanden als Ersatz, und es bestünde erhebliche Gefahr, wenn sich die Leute nicht mehr darum kümmern oder kein Interesse mehr daran haben sollten, ob die Königin unter ihnen weilt. Die Leute sollen sich nicht an die Abwesenheit Ihrer Majestät gewöhnen. Ohne die äusserlichen und sichtbaren Zeichen wird die unwissende Masse das Königtum für wertlos halten. Es gibt keinen Händler in London, der glaubt, keinen Schaden dadurch zu nehmen, dass die Königin nicht nach London kommt.»14

Queen Victoria hingegen versuchte mit aller Kraft, ihren Untertanen diese äusseren und sichtbaren Zeichen des Königtums vorzuenthalten. Sie war gekränkt, weil nicht gewürdigt wurde, dass sie trotz ihres Witwenstandes Haltung bewahrte und sich gewissenhaft den zwar weniger sichtbaren, aber beschwerlichen Schreibarbeiten und Gesprächen mit Ministern widmete, zu denen sie aufgrund ihrer verfassungsmässigen Stellung verpflichtet war. Sowohl vorsichtig formulierte und konstruktiv gemeinte Kritik an ihrer Weigerung, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, als auch sanfte Überredungsversuche, nach mehreren Jahren der Trauer allmählich wieder öffentlich in Erscheinung zu treten, erregten das scharfe Missfallen der Königin. Besonders allergisch reagierte sie auf derartige Ansichten von der Presse. In einem Memorandum schrieb sie an Grey:

«Sie ist schockiert über die Leute, die sie wie eine gefühllose Maschine behandeln und die es wagen, sie mit dem Prinzen zu vergleichen! Er war ein Mann und hatte ein glückliches Zuhause. Sie ist eine arme schwache Frau, gramgebeugt, angsterfüllt und von Natur aus schrecklich nervös! Doch sie wird diese Zeitungsvulgaritäten nicht beachten … und immer das tun, wozu sie in der Lage ist und was sie für richtig und angemessen hält. Sie wäre dankbar, wenn ihr der General mitteilen würde, wenn solche Artikel in der Zeitung stehen, da sie sie dann nicht lesen wird.»15

Aber sie las sie natürlich trotzdem. Bereits am nächsten Tag schickte sie Grey eine weitere Notiz:

«Obwohl die Königin General Grey versprach, die törichten, gefühllosen Artikel in den Zeitungen nicht zu lesen oder zu beachten, kann sie der Versuchung nicht widerstehen, ihm diesen Artikel aus der Zeitung John Bull zu schicken, da es sie ziemlich amüsiert, dass ihr Königin Emma von Honolulu als Beispiel vorgehalten wird! Man scheint dort zu vergessen (und das ist immer besonders erstaunlich), dass die Königin noch ein paar andere Pflichten zu erfüllen hat als Königin Emma!! Bitte geben Sie mir die Zeitung zurück.»16

Besonders graute der Königin davor, das Parlament eröffnen zu müssen. Ihr Anfang 1866 verfasster Brief an Lord Russell, den damaligen Premierminister, ist ein kleines Meisterwerk, sie verbindet darin ihr Engagement als Monarchin mit einem leidenschaftlichen Gnadengesuch:

«Um die Königin in die Lage zu versetzen, das durchzustehen, was sie nur mit einer Hinrichtung vergleichen kann, ist es äusserst wichtig, den Gedanken daran so weit wie möglich von ihr fernzuhalten. Daher würde es ihr definitiv Schaden zufügen, wenn sie sich nach Windsor begeben müsste, um dort zwei volle Tage auf diese schreckliche Tortur zu warten. Die Königin hat dieses qualvolle Thema bis jetzt Lord Russell gegenüber niemals erwähnt, doch sie wünscht nun ein für alle Mal ihre diesbezüglichen Gefühle zum Ausdruck zu bringen.

Dessen ungeachtet möchte sie ihren Beobachtungen die Bemerkung vorausschicken, dass sie Lord Russell und seine Kollegen von jeglichem Versuch entlastet, ihr jemals das aufzubürden, was für sie eine derart qualvolle Anstrengung ist. Die Königin muss sagen, dass sie auf sehr bittere Weise das mangelnde Mitgefühl derjenigen spürt, die von der Königin verlangen, dass sie das Parlament eröffnen soll. Sie hat volles Verständnis dafür, dass die Öffentlichkeit sie sehen möchte, und sie möchte das auch nicht verhindern – ganz im Gegenteil. Doch warum sollte dieser Wunsch so unvernünftiger und gefühlloser Natur sein, dass man sich danach sehnt, Zeuge des Schauspiels einer armen Witwe zu werden, die, an einem gebrochenen Herzen leidend, nervös und eingeschüchtert, in tiefe Trauer gekleidet und allein, feierlich ausgestellt wird? Dass sie, die es gewohnt war, von ihrem Ehemann gestützt zu werden, nun derart angestarrt werden soll, ohne jegliches Zartgefühl, das ist etwas, das sie nicht verstehen kann und das sie ihrem schlimmsten Feind nicht wünscht.

Sie wird es diesmal tun, wie sie versprochen hat, doch sie gibt zu, dass ihr die Gefühllosigkeit derjenigen zuwider ist, die dies lauthals von ihr gefordert haben. Von dem Leiden, das ihr dies in ihrem jetzigen nervösen Zustand verursacht, kann sie keine Vorstellung vermitteln, doch sie gibt zu, dass sie kaum weiss, wie sie dies durchstehen wird.»17

Sie schaffte es – so gerade eben.

«Grosse Menschenmenge draussen, deshalb wurde ich von einer Eskorte begleitet (erstmals seit meinem grossen Schicksalsschlag). Nach dem Mittagessen, das ich kaum anrühren konnte, angekleidet. Trug mein übliches Abendkleid, habe mich nur mit Grauwerk verbrämt, und mein Häubchen mit einem langen fliessenden Tüllschleier, ein kleines Diamanten- & Saphirdiadem relativ weit hinten und Diamanten, die die Vorderseite meines Häubchens säumen.

Es war ein furchtbarer Moment für mich, als ich alleine in die Kutsche stieg und die Kapelle spielte; auch als die Menge jubelte und ich grosse Mühe hatte, meine Tränen zu unterdrücken. Aber unsere beiden lieben warmherzigen Mädchen [Prinzessin Helena und Louise, die der Königin in der Kutsche gegenübersassen] waren eine wahre Hilfe & Unterstützung für mich, und sie verstanden ganz genau, was ich durchmachte. Die Menge war höchst enthusiastisch, & die Leute schienen mich mit Sympathie anzusehen. Trotz eines sehr starken Windes hatten wir beide Fenster geöffnet.

Als ich das Parlament betrat, das sehr voll war, hatte ich das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Alles war still und alle Augen waren auf mich gerichtet, und da sass ich nun allein. Ich war extrem erleichtert, als alles vorüber war & ich vom Thron hinabstieg … So dankbar, dass die grosse Tortur von heute endlich vorüber war & dass ich imstande war, sie durchzustehen.»18

Die Presse liess sich die Gelegenheit nicht entgehen, die wachsende Unzufriedenheit der Öffentlichkeit über die Abschottung der Königin zum Ausdruck zu bringen, ja sie heizte diese Unzufriedenheit noch an. 1867 hatte die Verbitterung derart zugenommen, dass sich General Grey als Antwort auf die Bitte der Königin, er solle «auf den Schaden hinweisen», den Artikel wie ein jüngst in der Times erschienener anrichteten, 19 gezwungen sah, ihr so behutsam wie möglich klarzumachen, dass sie ihre eigene Lage damit nur verschlimmere, so verständlich ihre Haltung sei:

«[…] seine Betrübnis hinsichtlich dieses Anlasses wird noch stark gesteigert durch das Gefühl, wie wenig er tun kann, um zu verhindern, dass sich das Ganze wiederholt. Doch wo ein Gefühl ganz allgemein & sehr stark ist, ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, zu verhindern, dass es zum Ausdruck kommt. General Grey würde Ihre Majestät nur täuschen & eine Wahrheit verheimlichen, deren sich Ihre Majestät bewusst sein muss, würde er nicht hinzufügen, dass es, wie unsinnig dieses Gefühl auch sein mag und was immer man von der Zeit oder Art, in der es ausgedrückt wird, oder über die gewählte Zeit, um es auszudrücken, denken mag, eine Tatsache ist, dass die Times in diesem Artikel lediglich dem Impuls von etwas gefolgt ist, das, wie General Grey vor sich selbst nicht verheimlichen kann, ein sehr allgemeines & sehr starkes Gefühl ist. […] Die Leute haben, ganz allgemein, das Gefühl, dass sich der Ton der Gesellschaft sehr verschlimmert hat & dass er, wenn seiner voranschreitenden Tendenz nicht irgendwie Einhalt geboten wird, noch schlimmer werden wird & dass dies sehr ernsthafte Folgen haben könnte. Die Leute glauben, dass Ihre Majestät die einzige Person ist, die die Macht besitzt, diesem Zustand auf wirkungsvolle Weise Einhalt zu gebieten, & dass dies nur dadurch möglich ist, dass Ihre Majestät wieder den Platz einnimmt, den niemand ausser Ihrer Majestät auszufüllen vermag.»20

Dies also ist der Hintergrund, vor dem die Königin in grösster Heimlichkeit den Plan schmiedete, in die Schweiz zu fliehen. Im Sommer und Herbst 1867 pflegte sie eine lebhafte Korrespondenz mit Howard Elphinstone, dem Erzieher Prinz Arthurs, in der es um die Frage ging, wo sie den nächsten Sommer verbringen sollte. Anfangs spielte sie noch, wie wir oben gesehen haben, mit der Idee, nach Tirol in Österreich zu reisen, 21 gab diese Pläne jedoch auf, als sie hörte, wie weit entfernt das fragliche Haus lag, wie lange die Reise sein würde, um dorthin zu gelangen, und wie extrem heiss es in diesem Tal werden konnte. Ein Eintrag in ihrem Tagebuch von Anfang August legt nahe, dass sie sich noch immer beinahe schuldig fühlte, sich in ihrem Witwenstand auf diese Weise aus dem Staub zu machen. Immerhin konnte sie ihren Drang nach Abgeschiedenheit rechtfertigen, indem sie auf ärztliche Anweisungen verwies. Zudem konnte sie sich ihres Schuldgefühls bei der Vorstellung entledigen, dass sie sich in jene Gegend begab, in der Prinz Albert 1837 gewesen war:

«Hatte ein langes Gespräch mit Maj. Elphinstone über einen geplanten Besuch in der Schweiz (so Gott will!) nächstes Jahr, den ich Dr. Jenner zufolge meiner Gesundheit zuliebe unbedingt in die Tat umsetzen sollte, auch wenn es schrecklich ist, irgendetwas ohne meinen geliebten Albert zu tun. Dennoch sehne ich mich danach, eine schöne Landschaft zu sehen & Maj. Elphinstone macht sich freundlicherweise auf den Weg, um zu versuchen, ein nettes Reiseziel für mich zu finden.»22

Elphinstone schlug einige mögliche Orte in der Schweiz vor, worauf die Königin Ende August mit einer sehr klaren Vorgabe antwortete:

«Die Temperatur der Orte, die Major Elphinstone erwähnt, wäre in der Tat für die Königin völlig ungeeignet. Falls sie keine kräftigende Luft finden kann, würde sie überhaupt nicht daran denken, in die Schweiz zu gehen. Natürlich würde sie heisse Sonne und heisse Tage in Kauf nehmen, aber es müsste gleichwohl ausserdem frische & kalte Luft geben.

Sie würde mit einigen kleinen Häusern vorliebnehmen, vorausgesetzt, nur sie & ihre Kinder – Dienstmädchen & 2 oder 3 Diener wohnten in dem einen, und die Hofdamen & Kammerherren wohnten in dem anderen & so weiter. Das wäre völlig in Ordnung – ja, das wäre ihr am liebsten – & die Ausgaben für die Durchführung irgendwelcher erforderlichen kleinen Änderungen würde sie übernehmen. Mögen wir lediglich einen ruhigen Fleck in einer echten Berglandschaft finden mit guter, kräftigender! Luft.»23

Die Königin schloss diesen Brief, indem sie die Hoffnung äusserte, dass das Geheimnis gewahrt würde. Einige Tage später fügte sie ihrer Vorgabe noch Folgendes hinzu:

«Die Königin dankt Major Elphinstone für alle seine Briefe & all die grosse & freundliche Mühe, die er auf sich genommen hat, um ihre Wünsche zu erfüllen. … Sie ist äusserst gespannt, von ihm alles über die Möglichkeiten zu erfahren, die sich ihr bieten, in die Schweiz zu gehen. Doch später als Anfang August könnte sie nicht dorthin gehen – und sie wünscht, nicht länger als bis zum 10. oder 12. September dort zu bleiben. Es würde sie sonst daran hindern, genug von der kräftigenden Luft der Highlands abzubekommen. Sie wünscht, 6 Wochen von letzterer zu haben.»24

Elphinstone unternahm eine Erkundungsreise in die Schweiz und erstattete im Oktober pflichtgemäss Bericht in Form eines Memorandums, das Beschreibungen zweier möglicherweise geeigneter Häuser am Vierwaldstättersee enthielt.

«Er bedauert freilich, keine weiteren Details zur Verfügung stellen zu können. – Es war unmöglich, […] diese in Erfahrung zu bringen, da es sich bei beiden Häusern um private Wohnsitze handelt, sodass es nicht möglich war, sich Zutritt zu diesen zu verschaffen, ohne den Zweck des Besuches preiszugeben.»25

Die Idee des Privathauses wurde fallengelassen, nicht aber der Ort. Obwohl Elphinstone, ein gewissenhafter Hofbeamter, sich nicht weiter vorwagte als bis zu der Bemerkung «Ihre Majestät ist sich jetzt bis zu einem gewissen Grade darüber schlüssig geworden, wo Sie zu wohnen gedenkt», 26 hatte die Königin inzwischen die Zentralschweiz fest ins Visier genommen und verfolgte dieses Ziel bis August 1868 mit äusserster Entschlossenheit, ungeachtet all der Hindernisse, die sich ihr in der ersten Hälfte dieses Jahres in den Weg stellen sollten. Diese Hindernisse waren beträchtlich. Es gab dramatische politische Entwicklungen, die die Anwesenheit der Monarchin am Sitz der Regierung erforderten, und die Presse begann unangenehm zu werden. Die konservative Regierung stellte im Unterhaus nur eine Minderheit, der gesundheitlich angeschlagene Premierminister Lord Derby trat im Februar zurück (und starb im Jahr darauf), und das ganze Jahr über drohte die Aussicht auf eine Parlamentswahl. Dies nahm der Königin jegliche Gewissheit, dass sie den einzigen Glücksfall – sprich ein kongenialer Premierminister in Gestalt Benjamin Disraelis, der als vormaliger Schatzkanzler die Nachfolge Lord Derbys angetreten hatte –, den ihr das Schicksal in vielen Jahren gewährt hatte, noch lange würde geniessen können. Disraeli wusste, wie wertvoll General Grey als freimütiger und furchtloser Berater war, und als Grey zu verzweifeln begann und sich fragte, ob es ihm je gelingen würde, die Königin davon zu überzeugen, häufiger in der Öffentlichkeit aufzutreten, schrieb Disraeli ihm und flehte ihn an, weiterzumachen.

«[…] Nachdem wir den Prinzen verloren hatten, was mir zunächst wie ein Schlag erschien, der die Ausübung der öffentlichen Angelegenheiten fast unmöglich machte, habe ich Sie stets als das wichtigste Instrument angesehen, mittels dessen sich der Umgang mit der Öffentlichkeit zur Zufriedenheit der einzelnen Minister und zum Vorteil des Staates fortführen lässt. Es scheint mir beinahe ein Akt der Vorsehung zu sein, dass die Entwicklung des privaten Vertrauens der Königin einem echten Gentleman gilt, einem ehrenwerten, intelligenten, verdienstvollen Mann, der überdies über eine nicht geringe und zwar insbesondere über politische Lebenserfahrung verfügt. Ich würde es ausserordentlich bedauern und als grosses Unglück empfinden, wenn Sie aus den Diensten Ihrer Majestät ausscheiden würden.»27

In seiner Antwort hielt Grey sich lange mit Betrachtungen darüber auf, wie notwendig es sei, zu spüren, dass einem Vertrauen entgegengebracht wird:

«Bereits der blosse Verdacht, dass dies nicht der Fall ist, beeinträchtigt zwangsläufig die eigene Nützlichkeit, wenn es sie nicht ganz zerstört, und macht eine Situation wie die meine ganz und gar unerträglich. Ich kann nicht vor mir selbst verheimlichen, dass die Königin, seit ich ihr bei mehr als einer Gelegenheit unangenehme Meinungen vorgesetzt habe, mir gegenüber reservierter geworden ist und sich bei gewissen Fragen nun mir gegenüber gänzlich abschottet. Ich glaube freilich, dass dies weniger mit einer Abnahme des Vertrauens zu tun hat als mit der Furcht, dass man ihr Dinge aufdrängt, die nicht im Einklang mit ihren Neigungen stehen, und vor allem diese Überzeugung ist es, die mich veranlasst, auf einem Posten zu verharren, der, wie ich Ihnen sagte, als Sie hier waren, sehr unangenehm für mich geworden ist.»

Der Brief fährt mit einer düsteren Vorahnung fort:

«Ich wünschte, ich könnte der Meinung sein, dass sich die Angelegenheit bereinigen liesse, doch wenn ich meiner Pflicht gegenüber der Königin aufrichtig nachkomme, und ich bin entschlossen, dies zu tun, dann sehe ich voraus, dass die Sache nur noch schlimmer werden wird. Gleichwohl können Sie sicher sein, dass ich keine überstürzten Schritte unternehmen werde, und die freundliche und schmeichelhafte Weise, in der Sie sich mir gegenüber geäussert haben, ermuntert und ermutigt mich sehr, dabeizubleiben.»

Das Ende dieses Briefes enthält einen Hoffnungsschimmer:

«Seit ich diesen Brief geschrieben habe, habe ich (zum ersten Mal seit einigen Wochen!) wieder Anweisungen seitens der Königin erhalten, die eindeutig keinen Mangel an Vertrauen erkennen lassen, auch wenn bestimmte Themen tabu sein mögen, und obwohl sie es vielleicht vorzieht, nicht persönlich mit mir zu kommunizieren!»28

Grey blieb auf seinem Posten, doch weder er noch Disraeli noch irgendjemand oder irgendetwas sonst (einschliesslich der Presseattacken aus dem Hinterhalt) konnten die Königin daran hindern, die Lage zu verschlimmern: Sie beschloss, sich im Mai für einige Wochen nach Balmoral, ihre Residenz in Schottland, zurückzuziehen. Disraeli unternahm einen Versuch, sie davon abzuhalten, aber wie er bereits zu Grey gesagt hatte – «Sie sollte nicht nach Schottland gehen, doch sie wird es tun»29 –, so kam es auch. Grey hatte umso mehr Grund, sich um die Königin zu sorgen, als er eine der wenigen Personen war, die wussten, dass sie nach der Rückkehr aus Balmoral in Richtung Kontinent aufbrechen würde.


Benjamin Disraeli, Premierminister im Jahr von Königin Victorias Reise in die Schweiz.

Fairerweise müsste man sagen, dass die Königin – neben der Bürde, die sie sich mit ihrer eigenen Form der ewigen Trauer, dem ehrenden Andenken an ihren lieben Verstorbenen, auferlegt hatte – tatsächlich Grund für Kummer und Angst hatte. Nachdem sie ihres Gemahls und damit ihrer wichtigsten Stütze beraubt worden war, benötigte sie viele Jahre, um ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen. Im März 1868 wurde ihr zweiter Sohn, Prinz Alfred, in Australien von einem Angehörigen der irischen Unabhängigkeitsbewegung, der sogenannten Fenian Brotherhood, angeschossen und verwundet. Im April betete sie für den Erfolg eines britischen Expeditionskorps, das gegen König Theodore von Abessinien vorrückte, der sämtliche britischen Untertanen, deren er in seinem Land habhaft werden konnte, als Geiseln genommen hatte. Ihre Gebete wurden erhört: Das Korps rückte durch eine nahezu unpassierbare Gegend bis zu Theodores Festung in Magdala vor und befreite die Gefangenen.

Anfang Mai löste Gladstones liberale Opposition heftige politische Unruhen aus. Sie brachte eine Resolution ins Unterhaus ein, die vorsah, den irischen Zweig der United Church of England and Ireland abzuschaffen, da es sich bei diesem nur um eine sehr kleine Minderheit handle. Die Liberalen wussten, dass die Regierung eine solche die Verfassung betreffende Frage nicht entscheiden konnten, ohne eine Neuwahl anzuberaumen. Tatsächlich riet Disraeli der Königin dann auch, das Parlament aufzulösen, und teilte ihr mit, die Minister seien bereit, sofort zurückzutreten, falls sie dies für das Beste hielte. Die Königin lehnte das Rücktrittsangebot (verständlicherweise) ab, stimmte aber zu, dass das Parlament zu gegebener Zeit aufgelöst werden und Neuwahlen stattfinden sollten. Dies geschah schliesslich im November, und sie verbrachte den Sommer und den Herbst ängstlich hoffend, dass ihr neuer Verbündeter und Unterstützer nicht aus dem Amt gefegt und durch den weit weniger sympathischen Gladstone ersetzt würde. Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet Disraeli sie, wenn auch zweifellos unbeabsichtigt, in einem Brief voller blumiger Dankesbekundungen auf grausame Weise an diese Möglichkeit erinnert hatte. Die Königin hatte ihm – schicklicherweise durch eine Mittelsperson an Frau Disraeli adressierte – Frühlingsblumen gesandt, «da diese sein Zimmer zum Strahlen bringen würden». Vom Unterhaus aus schrieb Disraeli sofort an die Queen und bedankte sich dafür, dass «Ihre Majestät sich heute Morgen auf so strahlende und anmutige Weise seiner erinnert hat […]». Doch dann machte Disraeli die Wirkung seiner Worte wieder zunichte, indem er im selben Brief schrieb: «Das Parlament ist völlig ruhig und im Begriff zu sterben.»30 Die Königin auf eine mögliche politische Veränderung hinzuweisen, war zweifellos das Letzte, was er damit beabsichtigte. Vielmehr ging es ihm wahrscheinlich darum, vor der Queen die unangenehme Tatsache zu verbergen, dass Ruhe im Parlament ein äusserst rares Gut war.


«Eine Vision»: Königin Elizabeth I. erscheint Königin Victoria und ermahnt sie, ihre Pflichten über ihre Trauer zu stellen. Karikatur in The Razor. A Weekly Shaver, or the London Humorist & Satirist, 11. Juli 1868.

Tatsächlich befand sich das Parlament in hellem Aufruhr, wie der Globe and Traveller am 19. Mai anschaulich schilderte:

«Wird das Parlament aufgelöst werden? – Die Stimmung der Opposition wird immer gereizter und bösartiger. Was immer der PREMIERMINISTER vorschlägt – HR. GLADSTONE und seine Verbündeten versuchen, wenn irgend möglich, es zu verhindern. Nie zuvor in seiner Geschichte ist durch ein derart schmutziges und skrupelloses Parteiengeplänkel so viel Schande über das Unterhaus gebracht worden. Nie zuvor hat ein Politiker – denn HR. GLADSTONE hat jeglichen Anspruch darauf verwirkt, als Staatsmann bezeichnet zu werden – auf eine derart verachtenswerte Weise die gemischten Folgen persönlicher Abneigung und enttäuschten Ehrgeizes zur Schau gestellt. Der Geist des Neides hat die Form eines Sterblichen angenommen, und dieser repräsentiert South Lancashire.»

South Lancashire war der Wahlkreis des liberalen Gladstone und The Globe unterstützte die Konservative Partei.

Um den Sorgen der Königin eine weitere hinzuzufügen, äusserte die Presse ihre heftige Kritik an Victorias Abwesenheit vom Zentrum des Geschehens nun immer unverhohlener. Besonders gekränkt war diese, als ein entsprechender Artikel Mitte Mai im Globe erschien, unmittelbar nachdem sie alles darangesetzt hatte, im Buckingham Palace eine grosse Einladung zu geben und ausserdem den Grundstein für das neue St. Thomas’ Hospital in London zu legen. Der Artikel würdigte diese öffentlichen Aktivitäten als Anbruch eines neuen Frühlings in den Beziehungen zwischen der Landesmutter und ihren loyalen Untertanen, beklagte aber Victorias Absicht, diesen Neubeginn gleich wieder im Keim zu ersticken, indem sie sich fast unmittelbar danach schon wieder aus dem Staube mache.

«Die Königin mit ihren Untertanen – Mit unverhohlener Zufriedenheit und frei von oberflächlichem Pflichtgefühl berichten wir hiermit, dass IHRE MAJESTÄT gestern auf anmutigste Weise eine der wichtigsten Aufgaben des Königtums wahrgenommen hat. Der tiefe Sorgenschatten, den der Tod des illustren und äusserst beliebten PRINZGEMAHLS auf die Herrscherin und den Hof von England warf, hat für einige Zeit den Glanz der Krone getrübt. Immer wieder einmal […] erwartete das Volk zwischen Hoffen und Bangen jenen Augenblick, in dem die Monarchin […] sich aus dem düsteren Schatten erheben und mit strahlender und geläuterter Miene wieder vor ihrem Volk erscheinen, die mit ihrer herausragenden Stellung verbundene Verantwortung wahrnehmen und erneut die Pflichten ihres einzigartigen Ranges erfüllen würde […].

Die Monarchin ist nicht nur die Herrscherin, sondern auch das Oberhaupt der Nation. In der Trägerin der Krone konzentriert sich die Kraft und Vitalität der nationalen Körperschaft. Von der Throninhaberin ergiesst sich, gleich einer Quelle, alle Ehre. Von der Dynastin hängt alle Würde ab. Was die Sonne im Planetensystem bedeutet, das bedeutet der SOUVERÄN für die Gesellschaftsordnung … Wenn das Haupt von Trauer umwölkt ist, dann leidet der ganze Körper. Wenn die Quelle nur schwach sprudelt, dann befindet sich die Ehre auf einem Tiefstand. Wenn die Dynastin den Blicken entzogen ist, findet die Würde keine Beachtung mehr. Wenn die Sonne verfinstert ist, dann sind Lebenskraft, Wachstum und Harmonie in der Gesellschaftsordnung gefährdet.

Mit tiefem Respekt […] wagen wir, dem Wunsch Ausdruck zu verleihen, dass der Eindruck, IHRE MAJESTÄT ziehe eine frühe Abreise an ihren entlegenen Wohnsitz in den Highlands in Erwägung, sich selbst jetzt noch als unbegründet erweisen möge. […] Ein königlicher Geburtstag in den Highlands […] fernab von uns, wäre sicherlich angenehm für die Königliche Familie, doch in gewissem Masse ein Unglück für die Nation.»31

Die Königin reagierte höchst ungehalten. Noch am selben Tag, an dem dieser Artikel erschien, schrieb sie Disraeli einen Brief, in dem sie sich verteidigte. Darin erklärte sie, sie sei bereit, früher als vorgesehen aus Schottland zurückzukehren,

«sollte irgendetwas … sehr Schwerwiegendes dies erforderlich machen, doch sie [sei] völlig erschöpft von den Anstrengungen dieser wenigen Tage. […] In den letzten 2 oder 3 Jahren [hatte sie] so viel Kummer und Sorgen aller Art, dass dies gravierende Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihre Nerven zu haben beginnt, die beide bereits sehr stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. […] Die Königin hätte dies alles Herrn Disraeli nicht jetzt geschrieben, empfände sie nicht grossen Ärger und Schmerz über einen Artikel in der dieser Regierung nahestehenden Zeitung The Globe (ihres Wissens handelt es sich dabei um eine Regierungszeitung), den sie als höchst undankbare Antwort auf die extrem grossen Anstrengungen betrachtet, die sie in dieser Saison unternommen hat.»32

Am selben Tag wandte sich die Königin auch an Theodore Martin, einen Mann, der grossen Einfluss auf die Presse ausübte.

«Herr Martin war so freundlich und mitfühlend; und da er so gut weiss, wie mitgenommen die Gesundheit und die Nerven der Königin sind, wird er verstehen, wie ausserordentlich gross die dieses Jahr unternommenen Anstrengungen in London waren: eine Woche in London, drei Salons und die grosse Zeremonie gestern, unter der sie heute sehr leidet; er wird folglich nicht über die Empörung und den Schmerz überrascht sein, mit der sie heute Abend den Artikel im Globe las, und verstehen, welch grosses Anliegen es ihr ist, dass er oder Herr Helps versuchen mögen, das Erscheinen ähnlicher Artikel in der Times und im Daily Telegraph zu verhindern. Solche unverschämten Artikel sind der Dank für jede gesteigerte Anstrengung, und die Entmutigung und der Schmerz, die sie hervorrufen, sind sehr gross. … Würde sie nicht für drei oder vier Wochen verreisen (und kein öffentlicher Dienst kann darunter leiden, denn Nachrichten lassen sich sehr rasch übermitteln), dann, so meint sie, würde sie wohl völlig zusammenbrechen. Sie missgönnen es ihr sogar, dass der Prince of Wales für drei Tage hierherkommt, um den Geburtstag seiner armen verwitweten Mutter mit ihr zu verbringen (und zwar zum ersten Mal seit 1861!). Das ist sehr grausam! Die Königin hört, dass dies keineswegs die allgemeine Empfindung ist und dass die Leute sich wirklich Sorgen um sie machen; aber sie ist wirklich völlig erschöpft und wünschte sich, irgendeine Zeitung würde darauf hinweisen, wie viel sie getan hat und wie notwendig es ist, dass sie bei guter Gesundheit bleibt, um weitermachen zu können, denn andernfalls wird sie dazu möglicherweise nicht in der Lage sein.»33

Doch ihre Bitte wurde nicht erhört. Sechs Tage später polterte die Times los. In scharfen Formulierungen attackierte der Artikel den Premierminister, weil er die Königin nicht hinreichend von der Notwendigkeit überzeugt habe, dass sie, als verfassungsmässiges Staatsoberhaupt, in dieser Zeit einer politischen Krise in Reichweite bleiben müsse.

«Am Montagabend erlitten die Minister der Königin im Unterhaus eine doppelte Niederlage. […] Es gibt eine Kabinettskrise, die entweder zur Auflösung des Kabinetts oder zu der des Parlaments führen wird. In Anbetracht dieser Tatsache wurde die Öffentlichkeit von einem weiteren aktuellen Vorfall überrascht. In derselben Zeitung von gestern, die die Nachricht von HERRN DISRAELIS Niederlage und seinem Antrag, über die Fortschritte bei der Scotch Reform Bill berichten zu dürfen, enthielt, wurde bekannt gegeben, dass die KÖNIGIN mit ihrer Familie am Abend zuvor, um halb sieben, Windsor Castle verlassen und sich auf den Weg nach Balmoral gemacht habe. In derselben Stunde also, in der eine ausserordentlich wichtige Debatte stattfand, bei der es für die Regierung oder das Parlament um eine Frage von Leben und Tod gehen könnte, eilte die erste Person im Staate, zu der man in jedem folgenschweren Augenblick Zuflucht nehmen können muss, volle Fahrt voraus aus der Hauptstadt in einen entlegenen, sechshundert Meilen von ihrem Kabinett und Parlament entfernten Highland-Bezirk. Im Monat Mai, zu einer Zeit, in der in den Angelegenheiten der Nation Hochbetrieb herrscht und Interessen aller Art Menschen dazu veranlassen, sich in London zu versammeln, zu einer Zeit, in der es besonders wichtig ist, dass der SOUVERÄN für ihre Minister und die Legislative erreichbar ist, hat sich der gesamte Hof an einen derart entlegenen Ort zurückgezogen, dass jegliche persönliche Kommunikation unmöglich ist. […] HERR DISRAELI ist 63 Jahre alt, und obwohl er geistig äusserst rege ist, hiesse es, zu viel von ihm zu verlangen, mit dem Postzug in die Highlands zu eilen und dann innerhalb von 48 Stunden zurückzukehren. Man muss also per Boten mit IHRER MAJESTÄT kommunizieren, und wie immer diese Kommunikation getätigt wird, muss es eine ungelegene Pause geben, bis die Antwort eintrifft […]. Wir können daher nicht umhin, es für einen Akt sträflicher Nachlässigkeit seitens des Ministers zu halten, die KÖNIGIN nicht darüber informiert zu haben, dass die politischen Aussichten ihrer Regierung so zweifelhaft sind, dass ihre Anwesenheit am Sitz der Legislative oder in dessen Nähe unerlässlich ist.»


Schloss Balmoral, die schottische Sommerresidenz der Königin, vom gegenüberliegenden Ufer des Dee aus gesehen.

Und es sollte noch schlimmer kommen. Am nächsten Tag erfuhr man in Balmoral per Fernschreiben von einem ausserordentlichen Vorfall, der sich im Parlament ereignet hatte. Ein Abgeordneter hatte im Unterhaus formell die Frage nach der Abdankung Victorias aufgeworfen, indem er wissen wollte, «ob es stimme, dass Ihre Majestät die Königin aufgrund ihres labilen Gesundheitszustands gezwungen sei, sich für die Dauer dieser Sitzungsperiode aus England zurückzuziehen, und wenn dem so sei, ob die Regierung Ihrer Majestät die Absicht habe, aus Rücksicht auf die Gesundheit, das Wohlergehen und die Ruhe Ihrer Majestät, und im Interesse der Königlichen Familie und der Untertanen Ihrer Majestät im gesamten Reich, und insbesondere in dieser Metropole, Ihrer Majestät die Abdankung nahezulegen».34

In den Worten der Pall Mall Gazette wurde «diese Anfrage von allen Teilen des Hauses mit einem missbilligenden ‹Ordnungsruf› aufgenommen und vom Sprecher des Hauses wegen der respektlosen Formulierung getadelt, woraufhin [der Abgeordnete] sich für seinen Verstoss gegen den guten Geschmack und die Anstandsregeln des Parlaments entschuldigt habe».35

Die Königin fühlte sich über alle Massen provoziert. Sie liess ihrem Brief an Disraeli einen weiteren folgen, der die ultimative Drohung enthielt:


Faksimile des Briefes von Königin Victoria an Benjamin Disraeli vom 22. Mai 1868, in welchem sie abzudanken droht.

«Sie hält es für äusserst wichtig, dass man die Frage nach ihrem Gesundheitszustand ein für alle Mal begreift. Es verhält sich einfach so: Die Gesundheit & die Nerven der Königin benötigen im Frühling einen kurzen Zeitraum, in dem ihr kräftigende Bergluft & vergleichsweise Ruhe zuteilwerden. Andernfalls wird sie vollständig zusammenbrechen & wenn die Öffentlichkeit sie nicht akzeptiert, so wie sie ist, muss sie alles aufgeben – und zwar zugunsten des Prinzen von Wales … – Zweifellos hätten sie [die Abgeordneten] es gerne, wenn sie um ihrer eigenen Bequemlichkeit willen ständig in London wäre, […] aber das kann die Königin nicht. […] Das Aussehen der Königin ist trügerisch & niemand glaubt ihr, wie sehr sie leidet.»36

Die Königin forderte Disraeli auf, die Angelegenheit in Rücksprache mit ihrem Leibarzt Sir William Jenner verbindlich zu klären. Mit einem Seitenhieb auf General Grey fügte sie hinzu, dass dies schon lange zuvor hätte geschehen sollen und dass ihre eigenen Leute «in dieser Hinsicht nie klug oder umsichtig gewesen seien».37

Sicherlich hatte Königin Victoria recht mit ihrer Bemerkung, dass ihre äussere Erscheinung nicht ihrem tatsächlichen Zustand entsprach. General Grey, der seiner Frau von einem heiteren Ball anlässlich des Geburtstags der Königin in der letzten Maiwoche berichtete, bestätigte diese Behauptung auf ziemlich uncharmante Weise: «Prinzessin Louise sah bei diesem Ball wirklich reizend aus, und obwohl das bei Ihrer Majestät nicht der Fall war, hätte niemand, der sie auch nur einen Moment lang sah, angenommen, dass man sich um ihre Gesundheit Sorgen machen müsse.»38

Die Gemütsverfassung der Königin war natürlich eine andere Angelegenheit.

Gegen Ende des turbulenten Monats Mai hatte sich die öffentliche Stimmung gewandelt und die Kritik begann abzuklingen. Anlässlich des Geburtstags der Landesmutter am 24. Mai leistete die Presse, wenn auch verhalten, Abbitte für ihre früheren Vorwürfe und bekundete nun plötzlich ihre Loyalität und ihr Verständnis für die «prekäre» Lage Ihrer Majestät. Auch ein Brief ihrer ältesten Tochter, der Kronprinzessin von Preussen, spendete der Queen Trost. Sie antwortete:


Victoria, Kronprinzessin von Preussen, die älteste Tochter der Königin.

«Dein lieber, liebevoller, warmherziger Brief vom 20. erreichte mich am Morgen meines armseligen, traurigen … Geburtstags – so voller Erinnerungen – so weit weg. Die Gegenwart ist jetzt eine Wirklichkeit geworden & wie ein anderes Leben. Du sprichst so inniglich & liebevoll & ich sehne mich so sehr danach, Dich an mein Herz zu drücken – meine ureigene geliebte Erstgeborene! – aber Du musst Nachsicht haben mit Deiner alten Mama, denn ihr Kopf wird so müde & sie ist so erschöpft & verbraucht, dass ich befürchte, dass Du sie als langweilige, ermüdende Gefährtin empfinden wirst. … Doch ich akzeptiere dankbar, was Gott mir gesandt hat, um mich aufzuheitern … & zu trösten.»39

Während des verbleibenden Monats in Balmoral studierte und beantwortete die Königin die langen Berichte über die Parlamentsdebatten, die Grey für sie vorbereitet hatte, sowie die in Eile verfassten Lagebeurteilungen Disraelis. Und wie üblich kümmerte sie sich auch gewissenhaft um all die umfangreichen Schriftstücke, die auf ihrem Schreibtisch landeten. Unterdessen dürfte sie sich gefragt haben, wie sie die Nachricht verkaufen sollte, dass sie schon kurze Zeit nach ihrer Rückkehr nach England abermals verreisen würde – und diesmal noch dazu über eine längere Distanz, durch fast halb Europa. Während all dieser unruhigen Monate hatte sie sich beharrlich wie an einen Strohhalm an ihr Projekt einer Flucht in die Schweiz geklammert, von dem sie sich einen Tapetenwechsel und vollkommene Ruhe erhoffte. Doch sie hatte dieses Geheimnis nur mit zwei oder drei Personen geteilt, die mit den Vorbereitungen für ihre Reise und Unterbringung befasst waren.

Doch selbst diese wenigen Personen waren offenbar zu viele. Anfang Juni schrieb die Kronprinzessin Victoria ihrer Mutter aus Potsdam, sie habe von ihrem Schwiegervater, dem König von Preussen, gehört, sie käme «im August in die Schweiz. Ist das wahr?»40.

Um den Schaden zu begrenzen, antwortete die Königin umgehend mit einem Brief, und erklärte ihr, warum diese Angelegenheit unbedingt ein Geheimnis bleiben müsse.41 Dennoch muss Königin Victoria den ganzen Monat über Albträume gehabt haben, dass jemand in London die Katze aus dem Sack lassen und diese sich in einen wilden britischen Löwen verwandeln würde, der seine Missbilligung der Tatsache herausbrüllte, dass sie ihr Reich verlassen und sich in fremde Gefilde begeben würde.

Schottland tat ihr gut. Sie fühlte sich durch den Aufenthalt gestärkt und musste sich regelrecht losreissen. Dies schrieb sie der Kronprinzessin an ihrem letzten Abend, um dann noch hinzuzufügen: «Es ist jetzt fast 11 Uhr & nach wie vor sehr hell; dieses sanfte, klare Licht besitzt so viel Anmut.»42

Daheim in Windsor fand die Königin das Leben noch unerträglicher, als sie befürchtet hatte. Sie musste nicht nur öffentlich an der gefürchteten «English Season» teilnehmen, sondern sie geriet auch direkt aus der belebenden Luft ihrer geliebten schottischen Bergschluchten und Wälder in eine mächtige Hitzewelle. Ihr Körper war für kühles Wetter gemacht, nicht für hohe Temperaturen, und dementsprechend litt sie auch. Es gibt kaum einen Tagebucheintrag oder Brief von ihr aus jener Zeit, der nicht irgendeinen Hinweis auf die Hitze und deren Auswirkungen auf sie enthält.

Doch sie machte unermüdlich weiter. Am 20. Juni nahm sie eine eineinhalbstündige Parade von 24 000 Soldaten ab. «Sehr müde, aber höchst erfreut und befriedigt» heisst es dazu in ihrem Tagebuch. Doch am selben Tag schrieb sie der Kronprinzessin:

«Die Hitze heute ist so furchtbar, dass ich kaum die Feder halten kann. […] Seit meiner Rückkehr machen mir heftige Kopfschmerzen und Übelkeit so zu schaffen, dass ich ganz zitterig bin.»43

Zwei Tage später stellte sie sich wieder dem ganzen Trubel und begab sich anlässlich einer riesigen Gartenparty in den Buckingham-Palast.

«Um 5 Uhr war der beängstigende Augenblick da & ich ging in den Garten hinunter. … Unmengen von Leuten auf dem Rasen, die ich im Weitergehen erkennen musste & nach fast 8 Jahren Zurückgezogenheit war das sehr irritierend & verblüffend.»44

Es gab Sänger aus Tirol und eine Kapelle. Die Königin machte Konversation und nahm in einem Zelt den Tee mit der Hofgesellschaft.

«Nachdem dies vorüber war, ging ich langsam in den Palast zurück und unterhielt mich unterwegs mit den Leuten. Fühlte mich völlig erschöpft & der Ohnmacht nahe & ich kam mir vor wie in einem Traum, so völlig ungeeignet für diesen Auftritt.»45

24 Stunden im Buckingham-Palast genügten ihr völlig. Bereits am nächsten Nachmittag war sie nach Schloss Windsor zurückgekehrt und schmorte dort – «überwältigt von der Hitze» –, bis sie sich ohne viel Aufhebens nach Osborne, ihr Refugium auf der Isle of Wight, zurückziehen konnte. Dort war es zwar nicht minder schwül, doch wenigstens war sie nicht mehr in Windsor, das sie als ein «Verlies»46 empfand.

Bevor sie sich endlich losmachen und in die Schweiz fahren konnte, stand noch ein weiteres Martyrium bevor. Dabei handelte es sich um die Thronrede, mit der die Sitzungsperiode des Parlaments auf den Herbst vertagt wurde. Doch das Schicksal meinte es gut mit ihr, denn die Rede wurde in ihrem Namen von den Lords Commissioners vorgetragen. Natürlich war ihr diese Rede, die wie üblich von der Regierung verfasst worden war, zuvor vorgelegt worden. In ihrem Tagebucheintrag vom 30. Juli heisst es, sie habe einen Kronrat abgehalten, «vor welchem ich Herrn Disraeli sah, der sich freundlich über die Rede äusserte und zu mir sagte, er sei so dankbar, dass ich im letzten Absatz eine kleine Änderung vorgeschlagen hätte, die, wäre sie so stehen geblieben, wie sie zunächst dastand, die Regierung hinsichtlich jeder zukünftigen liberalen Politik gefesselt hätte. Das gesamte Kabinett stimmte der Änderung zu, doch keines seiner Mitglieder hatte daran gedacht.»

Das war also zur allgemeinen Zufriedenheit erledigt. Ausserdem neigte sich die Saison dem Ende zu, und diejenigen, die konnten, wollten sich nun so bald wie möglich ländlichen Aktivitäten widmen. Im Gentleman’s Magazine hiess es hierzu: «Die Londoner Saison beginnt mit der Schonfrist für die Rebhühner und Fasane, und sie endet mit dem Todesurteil für das Raufusshuhn.»

Doch ein grosses Problem gab es noch, und dessen Lösung war noch keineswegs sicher.

Queen Victoria in der Schweiz

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