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5. Kapitel
Hugo Stinnes: Die Ehe zwischen dem RWE und den Kommunen
ОглавлениеSchon das erste größere Geschäft, das der damals 28jährige Zechenbesitzer Hugo Stinnes abschloss, zeigt seine Genialität, allerdings auch seine Schlitzohrigkeit. Stinnes, dem seine Familie schon mit 21 Jahren das Geschäft mit Zechen, Kohlenhandel und einer Flotte von Rheinschiffen anvertraut hatte, erfuhr, dass die Stadt Essen auf der Grenze zu seiner Zeche Victoria Mathias ein Kraftwerk errichten wollte. Er bot der Kraftwerks-Gesellschaft RWE, die ihn im April 1898 in den Aufsichtsrat gewählt hatte, obwohl er keine einzige Aktie besaß, den Verkauf von Dampf aus dem Kesselhaus seiner Zeche an. Die Sache hatte nur einen Haken: Stinnes hatte sich vertraglich verpflichtet, so wie alle Mitglieder des Rheinisch-Westfälischen Kohlesyndikats, ihre Kohle nur zu den (hohen) Preisen des Syndikats zu verkaufen. Stinnes aber verkündete seinen Mitarbeitern: „Dampf ist keine Kohle!“ Prompt verklagte ihn das Syndikat auf Unterlassung – und verlor schließlich beim Reichsgericht.
Stinnes Geschäftsidee war schon damals, dass man nicht nur mit dem Verkauf von Anlagen, sondern auch von Strom Geld verdienen konnte. Deswegen drängte er das RWE, statt des geplanten Generators mit einer Leistung von 500 Kilowatt einen solchen für 1.200 Kilowatt aufzustellen. Der Lieferantin war das nur Recht: Das RWE war nämlich eine Betriebsgesellschaft des Lahmeyer-Konzerns. Die Frankfurter hatten die Konzession von der Stadt Essen erworben, um ein Kraftwerk zu verkaufen.
Der Stromverkauf selbst interessierte Lahmeyer als Anlagenbauer kaum. Für ihn spielte auch die kommunale Licht-Kundschaft nicht die entscheidende Rolle. Der Markt, der erschlossen werden musste, lag vielmehr beim Industrie-Kraftstrom. Denn der von der Industrie in ihren dezentralen und störanfälligen Eigenanlagen produzierte Strom konnte auch in Großkraftwerken hergestellt werden, wie sie Stinnes schon vorschwebten. Dafür war das Lahmeyer’sche Geschäftsmodell allerdings nicht geeignet. Lahmeyer war als Anlagenbauer nur am Verkauf seiner Generatoren interessiert. Deswegen verkauften die Konzerne die Betriebsgesellschaften schon nach wenigen Jahren mit beträchtlichen Gewinnen an die Kommunen, wodurch aus gemischt-wirtschaftlichen dann öffentlich-rechtlich organisierte kommunale Unternehmen wurden. So allerdings nicht beim RWE: Die Chance kam schon im Jahr 1902. Der Lahmeyer-Konzern war in der Stromkrise 1901 in Schwierigkeiten geraten und brauchte dringend Bargeld. Stinnes besprach sich mit seinem 28 Jahre älteren Freund und Geschäftspartner August Thyssen. Resultat des Gesprächs: 86 % der RWE-Aktien aus dem Besitz von Lahmeyer gingen an die Herren Stinnes und Thyssen aus Mühlheim an der Ruhr über.
Vom Charakter her waren beide äußerst unterschiedlich. Hugo Stinnes war ein prüder Protestant, der patriarchalisch für Frau und sieben Kinder sorgte. August Thyssen hingegen – nur 1,54 groß und geschiedener Katholik – hatte eine Vorliebe für dralle Damen und derbe Witze. „Thyssen war ein Herr, aber kein feiner“, schreibt Pritzkoleit.2 Aber beide waren gleichzeitig glänzende Techniker, hervorragende Organisatoren und geniale Finanzakrobaten. Thyssen lieh sich 24.000 Mark von seinem Vater und baute den größten und modernsten europäischen Stahlkonzern. Stinnes wurde auf ähnliche Weise von seiner Mutter unterstützt, sanierte scheinbar todkranke Unternehmen und gründete den ersten Mischkonzern der Wirtschaftsgeschichte. Aber beide legten keinen Wert auf Repräsentation: Thyssen schrieb an seine Direktoren: „Ich bitte die Herren, zur Sitzung einige Butterbrote mitzubringen, damit wir durch das Mittagessen keine Zeit verlieren.“ Stinnes hatte eine Schwäche für Eintopf und lehnte Orden und Titel ab. Für Romane oder Theater hatte er weder Zeit noch Sinn, sondern lebte im Dauerstress seiner Transaktionen. Seine Frau Claire stützte ihn. Trotz der vielen Kinder fanden sie immer Zeit, die größeren Geschäfte durchzusprechen. Für Walter Rathenau war Stinnes „ein Zweckmensch, jenseits von Geist und Gottheit“. Sein Biograph von Klass schreibt: „Stinnes liebte die Nacht mehr als den Tag. Der Fernsprecher war ihm ein unentbehrliches Requisit. Wenn andere schlafen gingen, führte er seine stundenlangen Ferngespräche, bei denen es immer um höchst konkrete Geschäfte ging.“
Diese Geschäfte betrieb Stinnes um der Expansion willen. Das Unternehmen hieß ja Rheinisch-Westfälisches und nicht Essener Elektrizitätswerk. Stinnes und Thyssen schrieben in ihren ersten Geschäftsbericht nach Übernahme des RWE: „Wir betrachten es, im Gegensatz zu den meisten Kommunalbetrieben, nicht als unsere Aufgabe, unter Ausnutzung unserer Monopolstellung in einzelnen Gemeinden bei geringem Stromabsatz großen Gewinn zu machen, sondern wir gedenken, dadurch unsere Aufgabe für uns und für die Allgemeinheit zu erfüllen, dass wir den Konsumenten, insbesondere der Eisenbahnverwaltung und der Industrie, zu den denkbar billigsten Preisen größtmögliche Strommengen zur Verfügung stellen.“ Die Akquisitionen liefen über den Strompreis: Der Bau immer größerer Dampfturbinen erlaubte die Senkung des Strompreises von 60 auf 40 Pfennig pro Kilowattstunde. Jeder neue Stromkunde erhielt für die ersten drei Jahre zusätzlich einen Rabatt von 20 %. Da für die Gestehungskosten der Kohlepreis ausschlaggebend war, plante Stinnes ein neues Kraftwerk in Düsseldorf, das mit der dort billigeren Braunkohle betrieben werden sollte. Der Chef des Steinkohlesyndikats, Emil Kirdorf, war alarmiert. Aber er konnte Stinnes von dem Plan erst abbringen, in dem er Steinkohlelieferung zu Preisen anbot, die erheblich unter den üblichen des Syndikats lagen – was Stinnes von Anfang an bezweckt hatte. Als Gegenleistung machte Stinnes dem Syndikat den Vorschlag, einen Gegenseitigkeitsvertrag zu schließen, um den Bau von äußerst unrentablen Spitzenlastkraftwerken zu vermeiden. Tagsüber sollte das RWE den Strom für den allgemeinen Verbrauch liefern. Aber abends, zur Zeit der „Lichtspitze“, nahm das RWE den dann nicht mehr arbeitenden Zechen den Strom ab. Das war das erste überörtliche Verbundsystem verschiedener Kraftwerke.
Dieses System setzte Stinnes ein, um die gesamte Elektrizitätsversorgung des Ruhrgebiets und des Rheinlands in die Hand zu bekommen. Städte und Gemeinden ohne eigenes Kraftwerk wurden durch niedrige Strompreise und hohe Konzessionsabgaben angelockt, bestehende Kraftwerke aufgekauft und entweder geschlossen oder als Reserve- und Spitzenlastkraftwerke weiterbetrieben, um Verbraucher und Politiker über die veränderten Machtverhältnisse im Unklare zu lassen. Nach drei Stinnes-Jahren versorgte das RWE die Städte Essen, Mühlheim und Gelsenkirchen, belieferte über die aufgekaufte Tochter Bergisches Elektrizitätswerk die Industrie im Bergischen Land, betrieb im Umkreis von Köln zwei kleinere Kraftwerke auf der spottbilligen Braunkohle und begann den Bau einer Überlandzentrale in Westfalen. Thyssen dazu: „Stinnes ist der tüchtigste Geschäftsmann, den ich kenne.“
Daraus entstand das „gemischt-wirtschaftliche Unternehmen“. Stinnes baute die Kommunen als Aktionäre in das RWE-Netz ein. Die Kommunen hatten zwar nicht die Kapital-, aber die Stimmenmehrheit. Sie bekamen hohe Dividenden und erhielten Konzessionsabgaben. Zusätzlich bekamen die Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte in den Aufsichtsräten hohe Tantiemen – Summen in der Höhe ihrer Beamtensaläre. Im Gegenzug erhielt das RWE langfristige Konzessionsverträge und billige Kommunaldarlehen. In nur acht Jahren baute Stinnes ein ausgedehntes Stromimperium auf. Trotz des Monopols sanken die Strompreise. Eine amtliche Statistik von 1913 zeigt, dass man beim RWE eine Kilowattstunde für 5,8 Pfennig Selbstkosten produzieren konnte, während die Stadtwerke Hannover und Nürnberg 22 und die Stettiner sogar 38 Pfennig aufwenden mussten. Erheblich ins Gewicht fiel ferner, dass das RWE ohne Transportkosten direkt auf der Brennstoffbasis produzierte.
Ein Geschäft misslang allerdings: Stinnes wollte den jungen rheinischen Braunkohlekönig Paul Silverberg in seinen Einflussbereich locken. Doch der Gründer und Chef der Rheinischen Aktiengesellschaft für Braunkohlebergbau und Brikettfabrikation, kurz Rheinbraun, baute lieber ein eigenes Großkraftwerk neben seinen Gruben und nahm Stinnes beim Rennen um Stromlieferverträge die Städte Köln und Mühlheim/Rhein ab. Zwar hatten die Kölner Stadtwerke sich das Recht ausbedungen, den von Silverberg gelieferten Strom auf eigene Rechnung an die umliegenden Landkreise weiterzuverkaufen. Doch dort war nichts zu machen: „Die vom RWE“ hatten die Landräte längst auf ihre Seite gezogen, und zwar nicht nur mit – wie geschildert – günstigen Strompreisen und hohen Konzessionsabgaben. Vielmehr hatten die Landräte, nunmehr im Aufsichtsrat des RWE oder seinem Beirat, plötzlich alle ein Auto, für damalige Verhältnisse ein Millionärsgefährt. Köln war umzingelt und die Truppen frei für einen neuen Einsatz: „Zu Beginn des Jahres 1911 erstreckte sich der Tätigkeitsbereich des RWE von der holländischen Grenze bis südlich von Bonn, sein Einfluss machte sich durch Beteiligungen bis nach Westfalen, Hessen, Thüringen und Baden geltend“, heißt es bei Asriel.3 Trotz der enormen Absatzerfolge waren allerdings 1913 erst 15 % der deutschen Haushalte und nur jede fünfte Kommune an das Stromnetz angeschlossen.
Das Reich verlor den ersten Weltkrieg. Jedoch konnte das RWE dank der Belieferung der Rüstungsindustrie seinen Stromverkauf von 290 auf 800 Mio. Kilowattstunden steigern. Stinnes wurde nicht nur Reichstagsabgeordneter, sondern nutzte die schon vor Kriegsende gewonnene Einsicht, dass es zu einer katastrophalen Inflation kommen würde. Sein System war einfach: Er kaufte Sachwerte – Firmen, Aktien oder Rohstoffe – zu niedrigen Zinsen auf Kredit und hielt alle Guthaben seiner Konzerne in Devisen. Der Wertverlust der Mark eliminierte die Kreditforderungen und steigerte umgekehrt proportional den Wert der Devisen auf dem Inlandsmarkt. Keine Woche verging, in der Stinnes nicht irgendwo im Reich ein Unternehmen gekauft hatte; insgesamt 1.535 mit 2.888 Fabriken und 600.000 Arbeitern. Das machte ihn zum größten Inflationsgewinnler und zum verhasstesten Kapitalisten des Deutschen Reiches. Stinnes kam auch an das – nach Rheinbraun – zweitgrößte Braunkohleunternehmen, die Roddergrube. Als deren Aktionäre auf dem Höhepunkt der Inflation feststellten, dass ihre Braunkohleaktien nur noch wertloses Papiergeld einbrachten, ließen sie sich von Stinnes überreden, eine Roddergruben-Aktie gegen zwei frisch gedruckte RWE-Aktien einzutauschen. Stinnes stand jetzt an der Spitze eines auf der Welt einmaligen Supermischkonzerns. Ihm gehörten neben den eigenen Montanbetrieben noch die Gelsenkirchener Bergwerks AG, der Bochumer Verein (Stahl). Selbst der Siemens-Konzern geriet unter den Einfluss von Stinnes, und zwar in der „Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union“. Nie hatte es einen mächtigeren Unternehmer gegeben. Aber im Jahr 1924 wurde er schwer krank und starb im Alter von erst 54 Jahren. Noch auf dem Sterbebett schärfte er seinen Söhnen ein: „Denkt daran: Was für mich Kredit ist, sind für Euch Schulden. Eure vornehmste Aufgabe wird sein: Schulden bezahlen, Schulden bezahlen, Schulden bezahlen.“ Aber seine noch nicht 30 Jahre alten Söhne deckten nicht alte Schulden ab, sondern machten neue. Ein Jahr nach dem Tod des Vaters zerfiel das Stinnesreich. Aber das RWE überlebte.
Seine Nachfolger, insbesondere der geniale Arthur Koepchen, nutzen besonders eine seiner Akquisitionen aus der Vorkriegszeit: Den Erwerb des Lahmeyer-Konzerns. Lahmeyer hatte nämlich RWE den Weg nach Süden geöffnet. Die Frankfurter hatten vier reizvolle Tochterunternehmen: Die Mainkraftwerke in Höchst versorgten das rechtsrheinische Gebiet im Norden bis in den Westerwald und mainaufwärts bis Aschaffenburg. Das Kraftwerk Altwürttemberg in Ludwigsburg und das Großkraftwerk Württemberg in Heilbronn waren Stromlieferanten der schwäbischen Kernlande. Die Lech-Elektrizitätswerke besaßen Wasser- und Dampfkraftwerke samt Netz in Bayern. Außerdem hatte Stinnes die AG für Energiewirtschaft in Berlin erworben, eine Holding mit den süddeutschen Töchtern Überlandwerke Niederbayern in Landshut, Bayerische AG für Energiewirtschaft in Bamberg, Ostbayerische Stromversorgung, München und Überlandwerke Oberfranken.
Für Koepchen, der ein hervorragender Techniker war, war dieses süddeutsche Standbein der Anlass für die Ergänzung des „schwarzen“ Stroms aus den Kohlekraftwerken mit „weißem“ Strom aus Wasserkraftwerken in Süddeutschland und den Alpenländern. Dafür musste man allerdings erst die Spannung in den Überlandleitungen auf 220.000 Volt steigern. Koepchen studierte zur Lösung dieser Aufgabe Erfahrungen, die man in den USA gemacht hatte. Die erforderlichen Aufgaben stellte er den Firmen Siemens, AEG und Felten & Guilleaume. So konnte Ende 1924 damit begonnen werden, eine Höchstspannungsbrücke zwischen dem Kohlestrom von Rhein und Ruhr und dem weißen Wasserkraftstrom zu verwirklichen. Ein Beispiel konnte das RWE beim gerade fertig gestellten Walchenseekraftwerk des Bayernwerks studieren, das Oskar von Miller entworfen hatte. In den Pumpspeicherkraftwerken der Schluchsee AG, an der RWE beteiligt war, konnte man den zur Nachtzeit billigen Kohlestrom nutzen, um Wasser von niedriger gelegenen in höher gelegene Speicherseen zu pumpen. Tagsüber, zu Zeiten des Spitzenlastbedarfs, stürzte das Wasser dann herab, um den Strom so zu „veredeln“. Dafür war der Bau einer letztlich 800 km langen Trasse quer durch West- und Süddeutschland nötig. Bis zum Jahr 1930 verlegte das RWE insgesamt 4.100 km Höchstspannungsleitungen. Neben dem Bau des Schluchseewerks im Schwarzwald wurden Zubauten in der Schweiz mit zwei Flusskraftwerken am Hochrhein und Aare beendet. Im Jahr 1929 kam es erstmals zu dem geplanten Austausch weißen Stroms in der Spitzenzeit und Rückfluss schwarzen Pumpstroms nachts. Das RWE stand auf der Weltrangliste der Stromverkäufer nach drei US-Konzernen auf Platz 4 und war an Europas Spitze. So wurde die Stromproduktion für das RWE immer billiger, so dass zahlreiche Industrieunternehmen ihre eigene Stromerzeugung einstellten. Diese Expansion des Konzerns wurde allerdings auf längere Sicht von den Tarifkunden bezahlt. Sie subventionierten nämlich mit ihren hohen Strompreisen die niedrigeren Industriestrompreise und damit die Akquisitionen des RWE.
2 Kurt Pritzkoleit, Männer, Mächte, Monopole. Hinter den Türen der westdeutschen Wirtschaft, 1953. 3 Asriel, Camillo J., Das R. W.E., Rheinisch-westfälisches Elektrizitätswerk Essen a.d. Ruhr. Ein Beitrag zur Erforschung der modernen Elektrizitätswirtschaft, 1930.