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Weihnachten 1937

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Ein Mittelgebirge, das »Erzgebirge«, bildet die Ostgrenze Sachsens zur Tschechoslowakei; für ein Dresdener Stadtkind: Wälder, Pilze, holzgefertigtes Spielzeug und Volkslieder im Dialekt. Im Winter nahm man seinen Rodelschlitten mit. Wo die Ebene unweit von Chemnitz (heute »Karl-Marx-Stadt«) ins Gebirge übergeht, lebte ein Onkel meines Vaters, ein evangelischer Landpfarrer. Das Pfarrhaus roch, wie in vielen deutschen Lebenserinnerungen, nach Fröhlichkeit, Holz, Äpfeln und Tabak. Ich hatte als Kind dort abenteuerliche Ferien verbracht, aber das war lange her – zwei, drei Jahre.

Inzwischen war die Grenze zur Tschechei »politisiert«. Im Schullandheim wurde ich mit der Geschichte der deutschstämmigen Minderheiten des Nachbarlandes gelangweilt. »Wehe dem Volk, dessen Grenzländer nicht mehr so dicht besiedelt sind, daß ein dichter Wall von Menschenleibern dem Bevölkerungsdruck eines wachsenden Nachbarstaats standhalten kann!«, hieß es in unserem Geographiebuch. Bei den Friseuren im Dorf konnte man Zigaretten stückweise kaufen, darunter die tschechische Vlasta, für anderthalb Pfennige.

1937 wurden mein Vater und ich eingeladen, die Weihnachtstage »im Kreise der Familie« jenes Onkels zu verbringen. In dieser Phrase verflochten sich Mitgefühl und Kritik. Für die Gewohnheiten des geistlichen Mittelstands war jede Auflösung der Familie, die anders als durch den Tod entstand, Anlaß zur Sorge, das heißt: sie mißfiel. Den NS-Staat verdächtigte man der Familienfeindlichkeit, weil er Kinder gegen ihre Eltern einnahm und familiäre Beziehungen, begründet auf Sitte und göttliches Gebot, politisierte. Bewegte sich eine Mutter, die aus politischen Gründen Land, Mann und Kind verließ, nicht im selben Dunstkreis? Mitgefühl, ja, aber als »absprechende Liebe«.

Auf dem tief verschneiten Weg, in der Heiligen Nacht von Laternen in den Händen der Kirchgänger erhellt, teilte ich meinem Vater meine »absprechende Liebe« zur Verwandtschaft mit: ein gut antinazistisch gesinnter Landpfarrer, dessen großer Stolz noch immer das im Ersten Weltkrieg erworbene Eiserne Kreuz war! Die Bibel als Visitenkarte des »Kriegervereins«! Er litt an den Spätfolgen einer vor Tannenberg erworbenen schweren Verwundung (hatte also unter Hindenburg gekämpft), und, obwohl über den NS-Staat entsetzt, hätte er sich den Granatsplitter, der ihn traf, am liebsten in Gold gefaßt.

Mein Vater mußte nach den Feiertagen zu seinem Job zurück. Ich blieb noch ein, zwei Tage und las. Dann fuhr ich (mit väterlichem Einverständnis) nach Dresden. Das Land, nach dem ich hungerte, war die Stadt; das Abenteuer: dort allein zu sein.

Nicht ohne Zutun des Nationalsozialismus war Dresden für mich eine offene Stadt geworden. Wir sehen die Auflösung alter mitmenschlicher Beziehungen gern unter dem Aspekt des Leidens daran, als machte jeder Verlust arm. Daß meine Mutter nach England zurückgekehrt war, blieb ein Verlust. Aber sie löschte damit die vielen, über sie vermittelten sozialen Beziehungen aus, die ein Kind allein nicht fortsetzen mag oder kann; die ja auch nie wirklich die seinen waren, wenn auch feste familiäre Gewohnheiten. Andere Kontakte zu Menschen, Stadtvierteln und Straßen hatten schon die Emigration des Halbbruders Frank nicht lange überdauert. Oder schwanden langsam, seitdem der Vater nicht mehr gegenwärtig war. (Von Hassan Pré, seinem tschechischen Freund, wußte ich nicht einmal mehr, wo er wohnte.)

Unweit vom großen Garten, den ich beklommen mied – wo war Ellen, wo war Frank? – lebte eine Cousine meines Vaters in wohlhabenden Verhältnissen; sie nicht besuchen zu müssen, war nun möglich und ein Geschenk der Zeit. Bei einer frühen Gelegenheit, meiner Taufe, hatte sie mich mit dem harten, verzopften Blick der NS-Frauenschaft angesehen, der sie nach 1933 beigetreten war. Nicht aus Gesinnung, wie es in der Familie hieß, sondern wegen der Karriere ihres Ehemannes, einem Stadtrechtsrat. (An ihm hatte ich zeitig meine Abneigung gegen Corpsstudenten erworben. Er sammelte Briefmarken – wie ich; dieses »wie ich«, von einem Elfjährigen gesagt, brachte ihn außer sich.)

Verändert vom Straßenverkehr und von Neubauten war das Gelände der Volksschulzeit. Gleichgültig lief ich an dem kasernenartigen Schulgebäude vorbei. Der Bäcker nebenan bedeutete nichts mehr. Dresden war über die alten Schauplätze der Kindheit hinweggewachsen. Ein Stadtviertel nach dem anderen wurde wieder fremd; schon halb angeeignete Straßen, Plätze, Parks hatte die Stadt in ihre Anonymität zurückgenommen. Aber es blieb das mit den Gegenden und Räumen Dresdens verwobene körperlose Netz aus erinnerter Abneigung, Sehnsucht und Trauer; nicht mehr von sozialen Gewohnheiten gestört, nur von der Stadt und der eigenen Innerlichkeit gehalten, ließ es, locker geknüpft, endlich Raum für Entdeckungen.

Der Fünfzehnjährige fand zwischen Fremdheit und Wiedererkennen die städtische Objektivität; zwischen dem »damals« und dem bloßen »jetzt« seine Gegenwart. Ein lustvoller Prozeß des Vermittelns, in dem die Identität beider entstand: der Heimatstadt und dessen, der sie sich aneignen darf, unbeaufsichtigt, von Eltern, Verwandten, sozialen Gewohnheiten entlastet.

So endete das Jahr 1937 groß. Dem »Wendepunkt Konfirmation« war eine neue Entschlossenheit gefolgt, Existenz nicht mehr nur in der Auflehnung zu sehen. Mein erster Silvesterabend allein war der kulturellen Überlieferung Dresdens sogar getreuer, als es die früheren der Familie waren: erst geistliche Musik in einer der großen, zeitig überfüllten Kirchen, dann ein Buch. Ich bin sicher, daß es Goethe war, den ich zur Hand nahm, wenigstens für eine Weile.11 Für die gleichfalls traditionelle Party mit Gästen fehlte mir Sinn und Gelegenheit, doch die unruhige Erwartung der Mitternacht hatte ihre unterhaltsame Seite.

Danach, in den Straßen der Stadt, beim großen Feuerwerk und Neujahrsgeschrei, war die Jahreswende ein Rausch.

Das Abseits als sicherer Ort

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