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1933–1935

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Am 30. Januar 1933, noch nicht elf Jahre alt, verfolge ich mit meinen Eltern im Restaurant die triumphalen Radiostürme der »Machtübernahme». Die Gäste sind vom Rausch der Zeitenwende ergriffen, das Reich der niederen Dämonen bricht auch in ihnen aus. Die Eltern klatschen gezwungen mit, man erhebt sich, setzt sich wieder, ich bin sehr müde – erregt davon, daß ich bis tief in die Nacht aufbleiben darf, aber beklommen von unserer spürbaren Isolierung. Mein Vater sagt in englischer Sprache: Das bedeutet Krieg. Meine Mutter will etwas erwidern, aber sie schweigt. Sie hat das Jahr 1923 nie vergessen.

Meine Erinnerungen an die Jahre 1933 bis 1936 bewahren ein Nacheinander von Ereignissen ohne erfahrenen inneren Zusammenhang auf. Vielleicht erleben manche Kinder so. Vielleicht spiegelt sich in der inneren Lebensgeschichte des Kindes die Wirklichkeit dieser Jahre: der alchimistische Terror des NS-Staats, der den Sinn der Geschichte auflöst und das Widersprüchliche zusammenzwingt.

Die Lage der »Innenwelt«, der Familie, veränderte sich in diesen drei Jahren: sie wird zerstört. Ich hätte damals nicht zu sagen gewußt, daß dies eine Konsequenz des 30. Januar war. Die Familie hatte für ein Kind größere Immanenz als heute. Der Vater, Mathematiker und Ingenieur, schon seit 1929 häufig arbeitslos, fand keine Stelle in seinem Fach.

Im Laufe von zwei, drei Jahren begann ich zu verstehen, daß er nun einer Anstellung entgehen wollte: sie hätte Folgen gehabt, die hinzunehmen er sich moralisch nicht in der Lage sah – Mitgliedschaft im VDI, »Verein deutscher Ingenieure«, früh gleichgeschaltet; Mitgliedschaft in der Deutschen Arbeitsfront, die das Erbe der Gewerkschaften verschleuderte; Mitgliedschaft schließlich in einer »Betriebsgemeinschaft«: mit dem Eigentümer als Führer. Außerdem suchte er eine Art von innerer Emigration: Gelderwerb außerhalb der Zumutungen der faschistischen Öffentlichkeit. Er wurde Vertreter für eine noch unpolitische Zeitschrift und reiste dafür in Thüringen und Sachsen; alle drei bis vier Wochen kehrte er für zwei Tage nach Dresden zurück. 1934 fand meine Mutter einen Job, denn das Einkommen des Ehemannes war für die Familie zu gering. Sie schlüpfte in eine drittklassige Tanzkapelle; auch sie war danach viel abwesend. Hatte sie ein Engagement in der sächsischen Hauptstadt, dann meist in einem der Cabarets: Sie, die einst Konzertsängerin war, stand nun mit einer Harmonika auf der Bühne. Ich saß oft bis nach Mitternacht unter dem orientalischen Dekor herum und rauchte.

Mein (Halb-)Bruder Frank verdiente sich Geld für das Studium am Konservatorium in der »Mücke« im Großen Garten, einem Tanzcafé von Ruf. Ab und an, wenn meine Mutter mit ihrer Kapelle auf Reisen war, klingelte mich seine Freundin Ellen, eine Norwegerin, spätabends aus dem Bett und nahm mich mit. Ich war damals zwölf. Das waren große Abende: unter Palmenkübeln, an einem reservierten Tisch, der den Musikern und ihren Bräuten vorbehalten war! Sooft ich durfte, besuchte ich Frank nachmittags in seinem möblierten Zimmer, während er Mozart spielte oder Hindemith. Er begleitete damals eine Sopranistin, die die »Marienlieder« sang. Doch Ende des Jahres 1934 reiste er nach Schweden und blieb dort. Er hatte sich nach einem Zusammenstoß mit der Polizei rasch zur Emigration entschlossen.

Da war vieles für mich vorbei; besonders schmerzlich: auch an Vertrauen. Man weiht ein Kind nicht in Pläne zur Auswanderung ein, es stand zu viel auf dem Spiel. Es wird zeitig genug merken … Ja, eines Tages merkte ich, daß Frank, und damit eine Fülle von Erlebnissen, für immer fehlen würden. Ellen kehrte nach Oslo zurück; auch von einer zweiten Freundin meines Bruders, Mercedes, blieb nur eine Schale voll Bisquits.

Vorbei war auch die Oberrealschule Seevorstadt: Ich konnte aus finanziellen Gründen auf der Höheren Schule nicht bleiben. Ostern 1934 kehrte ich in die Volksschule zurück, der bloße Terror. Je häufiger ich allein war, um so gründlicher entzog ich mich ihm. Mein Vater brachte mich schließlich als – beaufsichtigter – Untermieter bei verschiedenen armen Leuten billig unter, aber das hielt immer nur eine Zeit. Ich weinte, war aber unbezähmbar. Nach Zwischenaufenthalten bei Verwandten meines Vaters floh ich im Sommer 1935 in die meist leere elterliche Wohnung zurück: versorgte mich selbst, kaufte ein, ging kaum zur Schule, fraß das Leben der Stadt mit Augen, Ohren und Nase, lief in Kirchenkonzerte (der Eintritt war damals meistens frei). In den Nächten, wenn ich sie nicht auf dem Bahnhof verbrachte, las ich, was immer mir in die Hände fiel: anarchische Lust des »Abseits«. Es war die uns versprochene Freiheit der großen Stadt, die ein Zwölf- und Dreizehnjähriger sehr wohl als Quelle von Identität und Glück zu nutzen versteht, solange man ihn in Ruhe läßt.

Im Winter 1935 war die Ruhe vorbei, Polizei und städtisches Wohlfahrtsamt kamen dazwischen. Ich galt als »verwahrlosungsgefährdet«, Fürsorgeerziehung wurde angedroht. Die Ordnungsmacht kam nicht aus eigenem Entschluß, jemand hatte sie gerufen, ein »Jemand« im Plural. Meine Mutter gehörte dazu, zögernd, aber eben doch, sie fühlte sich auf der Suche nach einer neuen Lebensweise und -organisation von mir bedroht. Sie steckte damals mit einem tschechisch-jüdischen Kapellmeister unter einer Decke, der auch eine Überlebens- und Emigrationschance suchte; das Auswandern kostete Geld. Er stiftete meine Mutter an, eine seltene Sammlung alter südamerikanischer Briefmarken zu verkaufen, ein Erbstück aus den USA, von der ich meinte, sie gehöre mir. Eifersüchtig und tief verletzt brach ich in den Schreibtisch unseres Untermieters ein, in dem, wie ich wußte, eine Schußwaffe lag. Ich verbarg sie unter meinem Kopfkissen; dazu bereit, auf jemanden zu schießen – auf »sie« oder auf »ihn«. Die Sache kam natürlich heraus, der Untermieter lief zur Polizei, Nachbarn meldeten ihre Beobachtungen, und so gab es ein großes Spektakel.

Mein Vater kam und gab bei der Jugendfürsorge zu Protokoll, daß er ein Internat für mich gefunden habe. Ich wußte nicht, daß zu der Suche danach auch der Entschluß meiner Mutter beigetragen hatte, sobald als möglich zu emigrieren.

Im Frühjahr 1936 verließ ich Dresden, aufgenommen in eine Oberschule mit Schülerheim in Zwickau, einer kleinen Bergwerks- und Industriestadt in Westsachsen. Wenige Monate später kehrte meine Mutter für immer nach England zurück. Auf ihrer Frisierkommode stand noch jahrelang ein kleiner Bilderrahmen ohne Bild – er hatte früher eine in Kunstschrift gehaltene Karte mit ihrem Goethe’schen Lieblingsspruch enthalten:

»Feiger Gedanken / Bängliches Schwanken

Weibisches Zagen / Ängstliches Klagen

Wendet kein Elend / Macht dich nicht frei.

Allen Gewalten / Zum Trutz sich erhalten

Nimmer sich beugen / Kräftig sich zeigen

Rufet die Arme / Der Götter herbei«

Die Bedingungen, unter denen ich meine Mutter fast zwölf Jahre später wiedersah, sind für den Geist der Zeit, das heißt für den transzendentalen Rahmen unser aller Existenz bezeichnend: es waren Bedingungen der Illegalität. Ich lag 1946, inzwischen Mitglied der KPD, in einem Leipziger Krankenhaus, also in der sowjetisch besetzten Zone, SBZ. Meine Mutter kam im gleichen Jahre, als senior officer einer halbmilitärischen Organisation, mit der britischen Besatzungsmacht nach Deutschland zurück. Freunde in der Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der SBZ schleusten sie mit gefälschten Dokumenten und ohne Wissen auch der britischen Dienststellen über die Zonengrenze ein, via Berlin.

1965 – sie hatte inzwischen einige Jahre in Schweden, danach erneut in London gelebt – besuchte sie mich, 77 Jahre alt, in Heidelberg. Fassungslos stand sie vor meinen Büchern: »Wie willst du das alles mitnehmen, wenn du mal weg mußt?« Ihr Besitz bestand noch immer aus zwei großen Koffern.

Nicht nur das Familien- und Schulverhältnis änderte sich in den ersten Jahren des NS-Staats, auch die »organisierten Außenbeziehungen«, mein Verhältnis zu den kollektiven Einrichtungen für kindliche Tätigkeit durchliefen einen Wandel.

1931, neun Jahre alt, war ich den Pfadfindern beigetreten, aber in den Probemonaten gewogen und als zu leicht befunden worden. Die Eltern erhielten einen Brief: Ich sei nicht ausdauernd, nicht leistungsbereit – eine Frage der Moral, nicht der körperlichen Konstitution; außerdem leider nicht offen und ehrlich. Kein richtiger deutscher Junge demnach (aber das stand nicht wörtlich in dem Brief). Gewiß: »Üb’ immer Treu’ und Redlichkeit«, das war nicht das Lied, das ich sang. Man muß kein Philosoph, man darf auch ein Kind sein, um zu bemerken, daß »Offenheit« in der pädagogischen Landschaft bedeutet, sich für den Zugriff der Macht zu öffnen. Wer sich verschließt, wer verstummt, gar lügt, sabotiert die allseitige Kontrolle des seelischen Materials, die nicht nur in der Ära des Nationalsozialismus das Geheimnis der mittelständischen Erziehung war.

Ein Jahr später sah ich bei einsamen Streifzügen in der Dresdner Heide mit Neid auf die »Falken« mit ihrem blauen Halstuch, eine Jugendorganisation der SPD, und mit einer Mischung aus Faszination und Angst auf singende und marschierende Gruppen der HJ, die sehr wenig Pfadfinderisches hatten. Doch im schönen Sommer 1933 lief ich begeistert zum Elbufer und schloß mich dem Jungvolk an, stolz auf Trommel, Fahne und Führertum. Im Herbst saß ich schon wieder zu Hause – gewogen und zu leicht befunden? Aus eigenem Entschluß? – und trieb mich allein in der Stadt herum.

Ich hatte einen Freund: Mit seinem Luftgewehr stiegen wir auf den Oberboden der Mietskaserne, in der er wohnte, und schossen aus einer winzigen Dachluke auf Tauben. Das flache Dach der Technischen Hochschule gegenüber beherbergte Brutkästen für wer weiß welches Experiment. Tauben, das waren feindliche Flugzeuge. Manchmal waren wir Rotarmisten und sangen: »Und höher, und höher, und höh-eer / ein jeder Propeller schreit surrend ›Rot Front‹! / Wir sind die Schützer der Sowjetunion.« In einem Holzkästchen bewahrte ich unseren Schatz auf: ein kleines silbernes Abzeichen der Hoheitsträger der NSDAP, den Reichsadler auf dem umkränzten Hakenkreuz (das Nädelchen zum Anstecken war abgebrochen), und einen glasierten Sowjetstern, rot, mit goldenem Hammer und Sichel.2

Dieser Freund war der Sohn des Fleischers an der Ecke und besuchte die Oberrealschule, die ich hatte verlassen müssen. In der Volksschule fand ich für ein paar Monate Kontakt zu einem kleinen jüdischen Jungen der Volksschulklasse. Er nahm mich mit zu seinen Eltern, orthodoxe Juden, die in einem jüdischen Sträßchen in der Altstadt wohnten; der Vater – mit schwarzem Käppchen und rituellen Locken – war Tischler. Im Haus roch es, wie es eben bei armen Leuten riecht. Manches war mir unangenehm, ohne daß ich noch zu sagen wüßte, warum.

Den Nichtorganisierten wurde samstags in der Volksschule Spezialunterricht erteilt, von HJ-Führern oder von Lehrern in SA-Uniform. Ob dies mir nun als das größere Übel erschien oder ob ich endlich als das anerkannt werden wollte, was ich doch war: als deutscher Junge jedenfalls trug ich im Frühjahr 1934 erneut das Braunhemd und hatte »Dienst«.

Die Infamie des Faschismus war in diesen Jahren noch nicht bürokratisiert, Individuen durften noch zerstörerisch sein auf eigene Faust. An einem Sonntagmorgen führte uns so ein siebzehnjähriger Condottiere, unser Scharführer, an Kirchen vorbei: Dort werde gegen Führer und Volk gepredigt. Besucht jemand den Gottesdienst? Dann soll er sich merken, was der Pfarrer sagt, und es ihm berichten; er werde es weiterleiten an die Gestapo. Er führte uns sogar ein anderes Mal zu einer Gestapo-Leitstelle, wo er jemanden kannte. Das alles war faszinierend, aber beängstigend, fesselnd, aber fremd; es stieß ab und erfüllte doch mit einem untergründigen Herzklopfen von Befriedigung. Allein daß am Sonntagmorgen »Dienst« angesetzt war, suggerierte Aufruhr: ein épater le bourgeois, gegen den langweiligen Feiertag, gegen die Kirche, gegen Ordnung gerichtet. (Das wurde übrigens bald verboten: die Ordnung kehrte zurück, das heißt, der Terror wurde arbeitsteilig organisiert, und antiautoritäre Gesten waren unerwünscht.)

Ich erzählte meinem Vater an einem unserer Wochenenden davon, und er verwickelte mich – für viele Monate – in kaum endende Gespräche: über Gott, Kirche, Freimaurerei (er war Atheist, zumindest neukantianisch: ignorabimus), über Wirtschaft und Staat. Die Wirtschaft als neue Monarchie, der »Untertan« müsse aber Bürger werden, der Arbeiter und Angestellte mitbestimmen; bei dieser Gelegenheit erfuhr ich etwas Verläßliches über Streiks. (Seine »konstitutionellen« Ideen verdankte er Friedrich Naumann – ein Name, den er oft genannt hat, wie auch den von Friedrich List.) Bei unseren Spaziergängen gab der »Damaschkeweg« Anlaß zu Bemerkungen über das Eigentum an Grund und Boden, über Arbeitersiedlungen und über Bodenreform. Wir sprachen auch über Denunziation und neuere Geschichte. Schließlich hielten die neuen Führer Zwölfjährige für reif genug, »politisch« zu sein, sollte er von seinem Zwölfjährigen schlechter denken? Er besorgte mir die Geschichte unserer Welt von H.G. Wells; ein kleines, verbotenes Buch über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, einen Roman von Upton Sinclair und ein gleichfalls verbotenes Buch mit Reportagen. Das begann mit rührenden Berichten von Charles Dickens und endete, glaube ich, mit Notizen von Egon Erwin Kisch (oder von Sling, dem Gerichtsreporter der Weimarer Zeit).

Im Laufe weniger Monate erloschen meine Beziehungen zum Jungvolk erneut – sie »erloschen« wirklich, erlahmten, schwanden dahin. Es war da von meiner Seite kein spektakulärer Akt im Spiel, etwa ein formeller Austritt. Ich fing einfach an, die »Kameraden«, die Organisation, die Führer zu meiden; suchte Plätze auf, wo ich sicher sein konnte: da waren sie nicht, verlegte meine wieder einsamen Streifzüge ins Abseits, wo ich für »mein« Fähnlein und es für mich unsichtbar war.

Bis wir uns schließlich aus den Augen verloren hatten. Diese zwar nicht erkämpfte, aber doch nicht ohne List selbsttätig herbeigeführte Einsamkeit enthielt eine Glückserfahrung, die mich allen Gefühlen von Vereinzelung enthob: Es gibt immer Orte zu finden, die leer von Macht sind. Die institutionelle Umklammerung des Lebens ist zu Anteilen Schein.

Bei meinen Wegen in das Antiquariatsviertel der Altstadt zog mich eines Tages der Lärm eines öffentlichen Ereignisses zum Rathausplatz; hohe SA-Führer (im Juni 1934 dann zum Teil erschossen) eilten in schwarzen Stiefeln und Breeches eine Treppe hinauf, die sich ins Unendliche zu erstrecken schien. Ich zwängte mich durch die Massen, die frenetisch Beifall spendeten, bis zur Absperrung: nichts als Auge, als sinnliche Wahrnehmung, unberührt von den Emotionen um mich herum, erneut das »Abseits« als Bedingung der Erfahrung von Glück. Später besuchte Hitler die Stadt. Am Tage danach saß ich im Omnibus mit Vater und Onkel, die sich in englischer Sprache unterhielten; uns gegenüber zwei SS-Leute der Leibstandarte Adolf Hitlers. Sie hielten uns für Briten, einer beugte sich vor: »Have you seen us? We are Hitlers bodyguard.« Ich hielt zu dieser Zeit gerade sehr wenig von meiner Verwandtschaft, aber die Situation entflammte mich minutenlang für meinen Onkel, der kühl und unnahbar blieb, und ebensowenig wie mein Vater den Irrtum aufzuklären beabsichtigte. Macht ist dumm.

Einige Zeit später wohnte ich für ein paar Wochen bei einem Vetter meines Vaters. Ich mochte diesen Vetter nicht. Das hatte mit meiner Mutter zu tun, die in der Familie des Vetters nicht als deutsche Mutter galt: egoistisch, nicht verantwortungsbewußt, eine Katastrophe für den Ehemann. Und meine Abneigung – eigentlich eine Mischung aus Angst und Haß, gemildert durch Neugier – antwortete auch auf den Umstand, daß der Vetter und seine Frau, wiewohl antifaschistisch, ihre Kinder quasi-faschistisch erzogen; ohne das zu ahnen, besten Gewissens. Sie sahen in der autoritären Psychose, die man in Deutschland »Erziehung« nennt, ein Antidot gegen den NS-Staat. Auch in der Pedanterie ihres täglichen Kleinterrors und ihrer Verdachtspsychologie. Auch sie hatten am normalen Faschismus teil: sie rochen die Abweichung (in der ihnen »fremden« Schwägerin, im aufrührerischen Kind). Ein deutscher Antinazi konnte allemal ein zur Sparsamkeit gezwungener Mittelständler sein, das war schlimm genug.

Der Nationalsozialismus, die zum Staat gewordene Unordnung, hatte, was »gut« an ihm war, der Familie des Vetters sozusagen gestohlen – Turnen, den Mythos der frischen Luft, die tägliche Hygiene und Sauberkeit. Aber Hitler schwächte die Religion des Gehorsams. Den schuldeten Kinder den Erwachsenen. Es wurde über Anweisungen der Erwachsenen nicht diskutiert, das gab es in der HJ. Tischsitten waren heilig, jedenfalls was meine Wirtsfamilie unter Tischsitten verstand: etwas sehr Penibles, verknüpft mit der Idee des einfachen Lebens, vor allem mit Schwarzbrot. Und Kindheit, das war ein Paradies, so gut geht’s einem nie wieder. Als ich meine Mutter an einem Samstag besuchte (der mit ihr verabredete Besuchstag), sie hatte gerade ein Engagement in der Stadt, im sogenannten Schweizer Viertel, fand ich sie von Kopfschmerzen geplagt und ohne einen Pfennig Geld. Ich kehrte um, verlangte von meinen Wirten mein Taschengeld, das es immer sonntags gab, um es meiner Mutter zu bringen – für eine Schachtel Aspirin hätte es vielleicht gelangt – und erhielt es nicht: Sonntags wurde es ausgeteilt. No discussions, jedenfalls sprach der Vetter meines Vaters ein paar Worte Englisch, als Dokumentation nicht von Bildung, sondern von Antifaschismus. (Diese Sitte ist mir später wieder begegnet, aber unter anderen Menschen und unter erfreulichen Umständen.3)

Einige Tage danach lief ich meinen Wirten weg, ging zurück in die elterliche Wohnung, in der niemand mehr war (bis auf den Untermieter4) und blieb dort. Aber wie sollte ich mein Gepäck aus der Wohnung der Verwandten kriegen – darunter die Schuhe? Ich war im »Abseits« durchaus ruchlos geworden, wenn ich mir nicht anders zu helfen wußte. Ein Stück Darwinismus benötigt, wer in den Sozialdarwinismus der mittelständischen Familie verstrickt ist. Der Vetter wohnte weit weg von uns in einem Stadtviertel, in dem mich keiner kannte. So ging ich – noch immer in Hausschuhen zur HJ-Dienststelle dieses Viertels, behauptete, ich sei Mitglied, erzählte eine Schauergeschichte und erreichte es, daß zwei Ältere in Uniform zu meinen Verwandten gingen und dort auf sofortiger Herausgabe meines Koffers bestanden. Ich verschwand mit meinen Sachen und ließ mich in diesem Viertel nie wieder sehen.

So hatte der Faschismus für den Heranwachsenden eine gute Seite: er ließ sich gegen konkurrierende Formen des Terrors nutzen und noch dazu relativ gefahrlos für einen selbst, man mußte nur wissen, wie man sich ihm wieder entzog, also unsichtbar wurde.

Als ich 1936 Dresden verließ, verließ ich eine für mich sozial fast leere Stadt; ich sah in den letzten Monaten lediglich meinen zweiten Halbbruder Armin ab und an. Er war zwei Jahre älter als ich, und das ist manchmal viel. Wir mochten uns, wußten aber seit kurzem wenig mit uns anzufangen. (Er floh 1938 aus Deutschland.)

Heute würde ich sagen: Ich verließ die Stadt als ein einsam wandelndes Nashorn.


Die Eltern


Frühes Porträt


Mit dem Vater


Mit 6 Jahren

Das Abseits als sicherer Ort

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