Читать книгу Das Abseits als sicherer Ort - Peter Brückner - Страница 8
Die Konfirmation
ОглавлениеWollte ich meine Erinnerungen so darstellen, wie sie sich mir spontan aufdrängen, so wäre der Leser wahrscheinlich über lange Strecken enttäuscht. Habe ich denn eben über Lebensverhältnisse im NS-Staat berichtet? Immer sind es unsere Theorien, die der Macht – des NS-Staats, des Staats überhaupt, des Kapitals – eine Totalität des Zugriffs einräumen, die die Macht wohl anstrebt, aber eben nur in unseren Theorien erreicht. Immer bleibt deshalb eine Kindheit im Faschismus eine Kindheit. Und selbst dort, wo die These vom totalitären Zugriff – oder von der »reellen Subsumtion« – an der Daseinsweise von Menschen empirisch belegt werden könnte, gerät meist in Vergessenheit, daß auch Kinder und junge Leute sich entscheiden; so daß, wie die Ähnlichkeit unter eineiigen Zwillingen, auch die Kongruenz von herrschender Ideologie, Klassenlage und Innerlichkeit im modernen Staat irgendwann von den Individuen selbst gewollt, angenommen, ja vielleicht sogar gesucht worden ist. Andererseits bleibt, wer die Übereinstimmung (oder Subsumtion) nicht will, keineswegs ungeschoren. Er muß sein »Nein« gegenüber der faktischen Normalität ja realisieren und nicht nur »denken«, sonst denkt er es nicht sehr lang. Er braucht Kritik im Handgemenge, das heißt ein gemeinsames Gelände mit der Macht. Das Abseits, von dem ich so oft spreche: der Ort also, wo wir vor der Faschisierung sicher sind, ist nur anfangs ein Geschenk; wir erhalten es uns in der Regel doch nur als Realitätstüchtige. Realität ist aber zu großen Anteilen die Realität der Macht. Ohne ein Minimum an Anpassung, ohne einen Rest an Bereitschaft zum Handel (»bargaining«) fände man nicht einmal Nischen, um sich zurückzuziehen, und verlöre bald die Chance, eigene Produktivkräfte zu entwickeln – wie aber soll Dissidenz, wie Flucht, wie Widerstand ohne entfaltete Produktivität auf Dauer zu stellen sein? Auf seine Weise versteht auch der Vierzehnjährige schon, worauf es in der Diktatur ankommt: weder Opfer des Systems (des Kriegs, des Staats, der Ideologie, der Polizei) noch sein Handlungsgehilfe zu werden. Zwischen beiden Extremen oszilliert seine jugendliche Lebenspraxis. So lange, bis er von Umständen und Lebensbedingungen dazu genötigt wird, diese Praxis zu revidieren: er kann sich eines Tages nur retten, indem er Widerstand leistet. Im NS-Staat bedeutete dies wiederum: realitätstüchtig zu sein, sich im Gelände der Macht geschickt und wach zu bewegen.6
In diesem Zusammenhang bildet meine Beziehung zur Jugendorganisation des NS-Staats, zur NSDAP und zu anderen Institutionen natürlich eine Achse des Identitätsproblems und der Dissidenz. Ich will aber eher chronologisch als systematisch vorgehen und weder auf Reflexionen noch auf Handlungsvollzüge späterer Jahre vorgreifen; daher ein frühes Beispiel für lebensgeschichtliche Dialektik, das von entglittenen Lernprozessen nicht frei ist. Man betritt das »gemeinsame Gelände« in kritischer Absicht, aber man verläuft sich in ihm.
Wie war denn meine Situation 1936? Im Internat kann die Kontrolle über die Schüler in mancher Hinsicht optimale Werte annehmen. So war es fast ausgeschlossen, das Haus auch außerhalb der an Wochentagen spärlich bemessenen Stadtfreizeit zu verlassen. Und fast unmöglich, den Unterricht in der Schule zu schwänzen. (Die Schule wurde von etwa 600 Jungen besucht, die meisten Externe.) Doch auch der Beitritt zur Jugendorganisation, Jungvolk oder HJ, war praktisch unvermeidbar.7 Es gab aber im Internat keine eigene Gruppe, home made – unsere Dienstorte und -stellen lagen in der Stadt.
Der Beitritt in meinem Falle: – der Wiedereintritt – war nicht nur praktisch unumgänglich, weil vom Internat und den Mitschülern kontrolliert. Ich empfand ihn durchaus auch als starke Versuchung. Und dies eben nicht aus den Gründen, von denen man heute häufig liest: weil der Vierzehnjährige auf die Sensationen des Lagerfeuers, der Lieder, der Nachtwachen, Kriegsspiele und Zeltplätze hofft, auf Unternehmungen, die, wie er weiß, den Alltag des Dienstes nicht ausmachen; oder weil ihn die Peergroup magisch anzieht; oder einfach weil die Teilnahme am Dienst sich in Schule und Internat von selbst versteht. Sondern weil er zu solchen Zwecken das Internat verlassen darf – nicht nur darf, sondern muß; ein »muß«, vor dem sich der Zwang der Hausordnung als bloßes Papier erweist. Weil der Zwang des Dienstes den des Hausmeisters und der Hauslehrer bricht; weil zwischen dem »Dienst« und dem Zeitpunkt der Rückkehr ins Internat eine wie immer schmale Marge an Zeit entsteht, die sich der herrschaftlichen Kontrolle entzieht. Die Versuchung, sich in Jungvolk und HJ zu organisieren, lag also in der antiautoritären, ja rebellischen Chance, die sie dem Heranwachsenden bot. Ihre objektive Basis war die Rivalität der Institutionen Schule und HJ.
Die antibürgerliche Rebellion der HJ hatte im Jahre 1936 jedoch schon gar keine Substanz mehr, sie war nur noch pseudo. Ein Vierzehnjähriger bemerkt das nicht oder nicht deutlich: »pseudo« ist manches in ihm selbst. Identitätsfindungen, pubertäre Krisen enthalten immer ein Stück Spektakel, Effekte, denen die Ursache fehlt. So war es eben doch so, daß mich bei aller Abneigung ein Stück Faschismus auch anzog – aus welchen guten oder trüben Gründen auch immer.
Erst in den Jahren nach 1937 ging ich durch einen lebensgeschichtlichen Kristallisationsprozeß, der dieses Moment des Schwankens eines Tages tilgte – ein Prozeß, der mir selbst, und gewiß mit Recht, als glückliche Kontinuität des »ich, ich selbst …« erschien, weit weg vom NS-Staat, von Politik. Daß er mich noch vor Ende der Schulzeit in enge Beziehungen zu Antifaschisten, zu kommunistischen und liberalen Intellektuellen gebracht und sich wie mit einem Male politisiert hat, lag zwar in der Geschehenslogik dieser Kristallisation, aber keineswegs in jenen inneren Bildern, die ich mir damals von zukünftigen Ereignissen machte.
Es gab einen Wendepunkt, Ostern 1937, der die »alte« Periode – 1934 bis Ende 1936 – in einigen ihrer Widersprüche zusammengefaßt und zu neuen Entwicklungen übergeleitet hat: meine Konfirmation. Die »Einsegnung« war damals im evangelischen Sachsen durchaus üblich, einer der kirchlichen Riten, die der NS-Staat den Bürgern ließ. Ende 1936 gab es daher für meine Altersstufe den »Konfirmanden-Unterricht«, der von einem Geistlichen erteilt wurde. Als ich mich anmelden wollte, stellte sich heraus, daß ich gar nicht getauft war. Ich wußte das nicht oder hatte es längst vergessen.
Mein Vater war der Auffassung gewesen, sein Sohn solle eines Tages selbst entscheiden, wie er sich zu Gott und Kirche verhalten wolle, ohne ein im Zustand vollständiger Unmündigkeit verhängtes Präjudiz. (Dies war ein Akt der Emanzipation von seiner Seite: in der väterlichen Familie hatte es viele Generationen lang unter den Söhnen immer mindestens einen Pfarrer gegeben. Es existierte ein Erbanspruch auf evangelische Theologie; ich werde an anderer Stelle darüber berichten.)
Es ist nicht leicht, deutlich zu machen, wie sehr ich im Internat ein Außenseiter und manchmal ein outcast war, aber nur wenn man das weiß, wird der »Wendepunkt Konfirmation« verständlich. – Nach den anarchischen Perioden der letzten Dresdener Jahre konnte mein Verhältnis zu Regel und Ordnung des Internats nur die Form des erbitterten Kriegs annehmen, und der Wechsel vom gelernten Alleinsein, ja der Lust an der Einsamkeit, in eine große Schülergemeinschaft enger räumlicher Konzentration ließ mich reagieren wie ein in die Enge getriebenes Tier. (Die vorhin erörterten Beziehungen zum Mädchenwohnheim hatten auch die Funktion des buen retiro; das hat allerdings meine Lage auf »meiner« Seite des großen Gebäudekomplexes nicht gemildert.) Und wenn sich meine Position schließlich verbesserte, so zunächst jedenfalls nicht infolge entwickelter sozialer Kontakte, sondern durch etwas, was man meine Unbeugsamkeit nennen mag, oder die Unfähigkeit, mich anzupassen – so oder so, es machte auf Schüler und Hauslehrer mit der Zeit Eindruck. Dann die Entfaltung einer gewissen polemischen Intelligenz, die auch Ältere lehrte, mir lieber aus dem Wege zu gehen; einige Jäger wurden scheu. Und erst als letztes eine Freundschaft mit Älteren, die Schutz gewährte (aber das kam erst später).
Gut, es stellte sich also heraus, daß ich nicht getauft war, daher auch nicht zum Konfirmanden-Unterricht zugelassen werden konnte. Es mag unlogisch erscheinen, daß ich diesen Ausschluß nicht hinnehmen wollte. Wäre es nicht ein »Abseits« gewesen, ein Moment, sich zu unterscheiden? Hätte es mir nicht sogar zusätzlichen Unterricht und die Teilnahme an Zeremonien erspart? Doch es war ein Moment der Differenz, das nicht eigentlich das »meine« war, kein Aspekt des »erbitterten Kriegs«, ein zufälliges, nicht angeeignetes, sinnarmes Moment der Nicht-Übereinstimmung. Nahmen denn alle evangelischen Schüler meines Alters an der Konfirmation teil? Nein, einige nicht. Aber warum? Entweder waren ihre Eltern Angehörige einer der vielen Sekten, die es in Sachsen immer gegeben hat: wunderliche Heilige, mit meist geduckten, stillen Kindern, mit denen ich nichts gemeinsam hatte, oder es waren die Söhne dezidierter Faschisten, deren aufgeblasene Kirchenfeindlichkeit nur die andere Seite ihrer »Weltanschauung« war. Da lag mir alles an Distanz und nichts an objektiver Nähe. Überdies hatte ich begonnen, Träumen und Stimmungen nachzugehen, die wir »religiöse« nennen. Am Religionsunterricht war ich sogar sehr interessiert, so selten er mir damals auch das gab, was ich erwartete.
Kurz: ich ließ mich in Dresden taufen und wurde Ostern 1937 in derselben Kirche konfirmiert. Nun war die Konfirmation aber, anders als die Taufprozedur, ein öffentlicher, kein privater Akt. Diese kirchliche Öffentlichkeit hat bekanntlich ihre spezifische Verkehrsform. Man erschien reinlich und gut gekleidet – es gab dafür ein besonderes Kleidungsstück, den »Konfirmanden-Anzug«. Ihn neu zu erwerben, lag außerhalb der finanziellen Möglichkeiten meines Vaters; er mußte irgendwo geliehen werden – aber wo? Dann gab es für die Feier eine peinliche Choreografie, die im Unterricht eingeübt worden war.
Und nur über der Taufe hatte ein schwacher Glanz des Magischen geschwebt, eine Erinnerung an jene unio mystica, von der ich später in den Predigten des Meister Eckehart las; die Konfirmation dagegen roch. Sie roch nach Unterwerfung, nach faktischer Normalität. Sie trieb den Geist aus wie ein unerwünschter preußischer Katechet.
So machte ich Gebrauch von einer Möglichkeit, die es immerhin gab, obwohl in meinem Erfahrungsumfeld kaum jemals genutzt: die Teilnahme am kirchlichen Zeremoniell in Jungvolk-Uniform. Für mich war dies die Fortsetzung des »Kriegs« gegen die Normalität. Ich wurde auf paradoxe Weise im Abseits konfirmiert, nämlich unter dem Hakenkreuz, und an gewissen Stellen des Rituals, wo man sich eigentlich verbeugen sollte, schlug ich die Hacken zusammen wie ein Soldat – eine Abwandlung der Zeremonie, die nirgends vorgesehen war, aber die Logik faschistischer Formen für sich gehabt hat. Es war, bei Licht betrachtet, Lebenspfusch. Mein Vater war nicht gerade glücklich. Gewiß: Pfarrer, Öffentlichkeit und Ritual mußten es sich bieten lassen, daß einer den Bruch mit ihren Traditionen ausdrückte, während er sich ihren Riten unterzog; Traditionen, die leer genug waren, so daß es ihnen recht geschah. Ich hatte aber die Form gewählt, in der Faschisten mit Traditionen brechen. Ich wählte ihre Uniform als Mittel meines Protests, doch es war ihre Verkehrsform, die sich zum Inhalt meines Protests gemacht hatte.
Ich war am Ende selbst nicht glücklich damit. Es war nicht Scham, was ich empfand, eher ein Verlust von Identität. Das ist ein Niveau, auf dem es sich mit der Lüge schlecht lebt, und ich lebte gern. Ein Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger, der hinterher Kaffee und Kuchen genießt »und nicht mehr daran denkt«, denkt sehr wohl lange daran. Was ist denn Mut? Was ich da bewiesen hatte, war keiner. Ich empfand, was ich erst sehr viel später auch ausdrücken konnte: Mut ist die Gesinnung der Freiheit, und das Ergebnis von Freiheit überwältigt den Mutigen, weil es ihn überrascht – es ist nämlich Glück. Ich war aber unglücklich. Jedenfalls wurde die Konfirmation für mich in der Tat das, was sie ihrem kirchlichen Sinne nach einst für den Gläubigen markiert hat: ein Wendepunkt.