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Internatsjahre 1936–1939 Widersprüche, nutzbar gemacht

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Das Internat hatte in einem Seitenflügel ein Mädchenwohnheim, bestimmt für auswärtige Schülerinnen der städtischen Höheren Mädchenschule. Koedukation galt »als der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht gemäß«, war daher zu vermeiden: die überlieferte Separierung der Geschlechter in diesem Internat erhielt so nach 1934 ein ideologisches Fundament. Die alte Sexualfeindschaft der Pädagogen schlüpfte in die »NS-Gesinnung«. Zugleich galt auch für Gymnasiastinnen Hitlers Forderung nach »Weibern, die […] Männer zur Welt zu bringen vermögen«. Das »Ziel« der weiblichen Erziehung »hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein«. In den Lehrplänen des Gymnasiums nahm dieses Ziel Formen an, die der deutschen Seele wohltun: Schülerinnen der Unterstufe hatten Erstlingswäsche für Mutter und Kind herzustellen, die der Mittelstufe zum Beispiel Wäsche für arme, kinderreiche Familien zu nähen, zu pflegen und auszubessern.

In der objektiven Anarchie meiner familiären Verhältnisse war ich auf einspringende Fürsorge angewiesen: es gab weder eine Mutter noch andere Verwandte, die sich um meine Wäsche hätten kümmern können. Und wir waren zu arm, um etwa Dienstleistungs-Unternehmen in Anspruch zu nehmen. Ich war auch sonst ein »Underdog«: als Einziger unter den gut hundertzwanzig Internatsschülern konnte ich die Wochenenden nur höchst selten zu Haus, das heißt bei meinem Vater verbringen (weil sein Zimmer zu klein, sein Arbeitsort zu entfernt, die Reise zu teuer war), ja sogar die Ferien über blieb ich das eine oder andere Mal als Einziger in den riesigen Gebäudekomplexen von Schule und Internat zurück.5

So geriet ich binnen weniger Monate zum Substitut für die von den Lehrplänen erwünschte kinderreiche Familie oder die Erstlingsausstattung. Das Mädchenheim nahm sich meiner an. Es entstand an dieser Stelle ein zugelassener Kontaktraum zwischen den Geschlechtern, der zur Expansion neigte: manchmal nahm mich eine Primanerin in den Ferien zu ihren Eltern mit. Und es bildete sich über die anfangs ganz sozialhelferische und schulisch geprüfte Kommunikation eine Vertrautheit und Verständlichkeit des Verkehrs zwischen den Mädchen und mir heraus, die damals rar genug war, um erneut ein Abseits zu sein. Es gab keine Präzedenzfälle dafür, aber Kopfschütteln, auch Eifersucht, doch die »normative Kraft des Faktischen« entzog das Verhältnis bald der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Die Hauslehrerin, selbst keine Hitlersche Mutter sondern Germanistin, sah sich außerstande, die Entwicklung zu einem »Verhältnis auf Gegenseitigkeit« zu unterbinden, wollte es wohl auch nicht. Sie nutzte die Emanzipationschancen, die der NS-Staat berufstätigen Frauen praktisch bot, während er Frauenemanzipation ideologisch streng negierte, und räumte dem Rektor wenig Kontrollrechte ein. Ich machte mich im Mädchenheim nützlich: zum Teil durch meine für damalige Verhältnisse fast monopolartigen Kenntnisse in schöner Literatur (das heißt als Hilfe beim Hausaufsatz), zum Teil durch Dienstleistungen wie das Besorgen von Schlüsseln für Klavierübungs-Zimmer oder den Bibliotheksraum. Mein Sinn fürs Verschwinden, für die Entdeckung von Nischen im System – eine für die Überlebenschance des »Stadtwilden« unerläßliche, daher schnell erworbene Qualifikation – machte mich binnen weniger Monate zum Spezialisten für Nebenräume, die sich als Abseits nutzen ließen.

Schon bald schwand aus den Beziehungen zwischen den Mädchen und mir alle Fremdheit, Unvertrautheit und Scheu, die – damals – den Untergrund für Liebe, Verliebtheit, erotische Affären, Sehnsucht bildeten. Unser Verhältnis wurde desexualisiert. So herrschte schließlich das Sexualtabu gerade an der Stelle des Internats, die immer im neidischen Verdacht stand, es zu übertreten. In einer auf Homogenität, auf »faktische Normalität der Verhältnisse« gestimmten Gesellschaft bilden solche Schwirrphänomene, wie ich sie eben skizziert habe, einen point de résistance gegen die terroristische Normalität; damit aber sind sie Quelle von Glück, so daß letztlich doch das glücksfeindliche Sexualtabu der Betrogene war.

Das Abseits als sicherer Ort

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