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HJ-Zeltlager im Hunsrück

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In den ersten Sommerferien der Internatszeit ging ich auf große Fahrt, das heißt ich nahm am Zeltlager des Jungvolks (HJ) teil, mit Angst und mit kühnen Erwartungen.

Fürs erste war die »große Fahrt« wohl glaubhaft: Mit der Eisenbahn als bewimpeltem Schiff fuhren wir länger als einen Tag nach Birkenfeld im Hunsrück, also in die Pfalz, für einen sächsischen Jungen sehr weit weg. Danach ein Zeltlager im dörflichen Gelände.

Am zweiten oder dritten Tag schon stand ich am hölzernen Schlagbaum, der das Lager abschloß, in gehöriger Entfernung von der Wache, und sah sehnsüchtig nach den Waldstücken »im Tal«. Es war aber kein Tal da, unser Lagerplatz befand sich auf einer leicht gewölbten Ebene, es sollte nach meinen Erwartungen eins sein:

»Jenseits des Tales standen unsere Zelte,

vor’m roten Abendhimmel quoll der Rauch«,

war eines meiner Lieblingslieder, vor allem zweistimmig gesungen, doch auch in meiner literarisch geprägten Phantasiewelt war »Tal« eine Chiffre für das trunkene Verhältnis zur Natur. Das Draußen, von dem der lyrische Sog ausging, war betretbar entweder als Exerzierplatz oder als Ort für laute Spiele, und beidem konnte man sich kaum entziehen. So blieb mir von den Erwartungen der »großen Fahrt« wenig – der Abend am Lagerfeuer und die Nacht. Aber nur der Wachdienst durfte das Zelt für ein oder zwei Stunden verlassen, wenn der Himmel voller Sterne war oder sich im Osten schon erhellte.

Der Dienst bestand zu großen Teilen darin, praktische Bedingungen des Lagerlebens zu garantieren (also für Essen, Trinken, Sauberkeit zu sorgen), dazwischen oder danach: »Schulung«, Spiele, ein Wettkampf; manchmal ein Ausmarsch ins Gelände. Wir hatten auch Freizeit, aber man verbrachte sie im Lager. Erst am sechsten oder siebenten Tag durften wir alle ins Dorf, sahen in Bauerngärten und -häuser, kauften uns was. Bei dieser Gelegenheit verdarben sich einige von uns den Magen, wahrscheinlich am Speiseeis – ich leider nicht. Es gab zwar Fieber und Durchfälle, aber auch den vorgeschriebenen Besuch beim Arzt, der die Erkrankten aus dem Lager entließ: sie wurden nicht nur vom Dienst freigestellt, sondern bei Bauern »privat« untergebracht.

An diesem sechsten oder siebenten Tag hätte ich das Steinhaus dem Zelt schon vorgezogen, die Lust an bewimpelter Fahrt war verraucht. Ich wäre gern allein gewesen. Und in der Stadt hatte ich mich viel besser zurechtgefunden als zwischen Sträuchern und Zelten. Was tun? Sich krank melden? Ich war nicht krank. Einen guten Tag zögerte ich, weil ich meinte, der »Führer vom Dienst« (der für Krankmeldungen zuständig war) würde mir meine schlechten Absichten ansehen können, aber dann faßte ich mir ein Herz. Zu meiner Erleichterung handelte der zunächst telefonisch verständigte Arzt kurz und knapp. Ohne Umstände – und ohne Untersuchung – empfahl er meine Verlegung in ein Bauernhaus. Da saßen wir nun, zu zweit oder zu dritt, und redeten mit den Bauernkindern, die uns neugierig besuchten. Mit Befriedigung hörte ich von einem Führer, der gelegentlich nach den Kranken sah, was wir versäumten: unsere Kameraden erwarben anscheinend ein Sport- oder Leistungsabzeichen – Sprung, Wurf, Wettlauf, Bodenturnen, Übungen im Gelände, sie lernten, wie man mit Kompaß und Landkarte umgeht. In unserem »Abseits« gab es Abenteuer-Bücher aus der Schulbibliothek, und unter den Besuchern ein Mädchen, in das ich mich heftig verliebte. Ich weiß ihren Namen und ihren Geburtstag noch, ja, ich erinnere mich sogar an das Haus, in dem sie wohnte: als acht oder zehn Tage später die »große Fahrt« glücklich vorbei war und die »Kranken« sich pünktlich am Bahnhof einzufinden hatten, lief ich dort rasch noch einmal vorbei; sie sah aus dem Fenster.8

An einem Zeltlager der HJ habe ich nie wieder teilgenommen, sooft ich in den Ferien auch unterwegs war. Die Disziplinarordnung der Hitlerjugend enthielt einen lästigen Paragraphen: »Fahrten ohne Uniform, auch als Einzelwanderer, sind unzulässig«9, und mit Uniform war die Einzelwanderung erst verpönt, dann verboten.

Anfangs wußte ich davon nichts, welcher Junge liest eine Disziplinarordnung? Später kümmerte ich mich nicht darum, weil es keine organisierten Kontrollen gab, und als 1938 ein »Streifendienst« dafür eingerichtet wurde, fand ich einen Ausweg.10

Das Abseits als sicherer Ort

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