Читать книгу Finsterdorf - Peter Glanninger - Страница 18
14.
ОглавлениеWährend Steiger den Streifenwagen der Polizeiinspektion Gresten gemächlich nach Schandau lenkte, erzählte sie beinahe entschuldigend, dass hier in der Gegend nicht viel los sei. Keine großartigen Freizeitangebote oder sonstigen Möglichkeiten, der Langeweile zu entfliehen. Und natürlich gebe es auch kaum Kriminalität. Ab und zu einen Einbruch, manchmal eine Körperverletzung oder eine Sachbeschädigung. Meistens Wirtshausraufereien oder Vandalenakte von Jugendlichen. Sonst nichts. Einmal, das schien sie zu belustigen, hätten sie einen echten Wilderer gehabt, der in der Gegend sein Unwesen trieb. Da seien die Jäger völlig ausgerastet und hätten sich auf die Pirsch gelegt, ihn aber nicht erwischt. Der Wilderer habe innerhalb eines Jahres dreimal zugeschlagen und dann aufgehört. Die Jäger hätten jeden in Gresten und Umgebung verdächtigt und eigenständig versucht, den Wilderer auszuforschen. Aber der sei bis heute unentdeckt. Na ja, dachte Radek, diese Sorgen möchte man haben.
Das Haus, in dem die Lindners wohnten, mochte zehn oder fünfzehn Jahre alt sein und befand sich in einer Sackgasse, an der sich links und rechts Einfamilienhäuser auffädelten. Lediglich das erste Grundstück an der Ecke zur Hauptstraße war unbebaut.
»Ich würde gerne zuerst mit dem Mädchen sprechen«, erklärte Radek, als Steiger den Streifenwagen vor dem Haus parkte.
»In Ordnung, lass mich das mit der Mutter aushandeln.«
Sie läutete. Wenige Augenblicke später hörten sie ein Summen und die Gartentür sprang auf. Die beiden Polizisten gingen durch einen gepflegten Vorgarten, die Haustür wurde von einer Frau Anfang 40 in Jeans und einem weiten Sweatshirt geöffnet.
»Guten Tag, Frau Lindner«, grüßte Susi Steiger. »Ich war vor zwei Wochen schon einmal wegen Bernadette hier.«
»Ich weiß.« Misstrauisch musterte Frau Lindner zuerst die Uniformierte und dann Radek, der mit Sakko und Jeans zwar nicht allzu amtlich aussah, aber allem Anschein nach auch Polizist war.
»Das ist Gruppeninspektor Radek«, stellte Steiger ihren Begleiter vor. »Er kommt aus Sankt Pölten.«
Das schien die Lindner nicht zu beeindrucken. »Was wollen Sie?«
»Wir würden gerne noch einmal mit Bernadette reden«, erklärte die Polizistin.
»Warum?«
»Wegen der Zeit, in der sie abgängig war.«
»Weshalb?«, fragte Frau Lindner. »Darüber haben Sie doch schon mit ihr gesprochen.«
»Frau Lindner«, mischte sich Radek ein. »Ihre Tochter ist minderjährig. Daher müssen wir im Falle einer Abgängigkeit überprüfen, wo sie sich in dieser Zeit aufgehalten und was sie getan hat. Häufig verüben abgängige Jugendliche unterschiedliche Delikte in Form von Beschaffungskriminalität. Das beginnt bei kleinen Diebstählen und reicht bis zu illegaler Prostitution oder Suchtgiftmissbrauch. Und nachdem Ihre Tochter gesagt hat, sie sei in Wien gewesen, müssen wir dem nachgehen.«
Radek gab sich einen amtlichen Anstrich. Außerdem wollte er damit erklären, warum er aus Sankt Pölten hierhergekommen war, denn er hatte nicht vor, der Mutter zu erzählen, was er beim LKA machte.
Das Misstrauen war noch nicht verschwunden, aber zumindest der Widerstand etwas aufgeweicht. Frau Lindner bat die beiden Polizisten ins Haus. »Muss das sein? Warum können Sie uns nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Weil noch einige Fragen offen sind und wir dazu erheben müssen«, antwortete Radek ruhig.
»Welche Fragen?« Frau Lindner wurde ungeduldig.
»Zum Beispiel, wo Bernadette gewesen ist, wovon sie gelebt hat, mit wem sie unterwegs war und so weiter.«
Die Frau schüttelte unwillig den Kopf, führte die beiden Polizisten dennoch über eine Treppe in den ersten Stock und klopfte dort sanft an eine Tür. »Bernadette, zwei Leute von der Polizei sind da.« Die Mutter sprach leise, als hätte sie Angst, die Tochter zu wecken. Vorsichtig öffnete sie die Tür.
Bernadette Lindner saß auf ihrem Bett in der Ecke an die Wand gelehnt. Die Knie hielt sie mit ihren Armen fest umschlungen. Sie trug eine Jogginghose und ein Sweatshirt, die dunklen Haare hingen ihr in wirren Strähnen ins Gesicht. Es schien, als würde sie die Besucher an der Tür gar nicht bemerken, zumindest blickte sie nicht auf, sondern starrte vor sich hin.
»So sitzt sie den ganzen Tag da«, sagte die Mutter und musste gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. »Und nachts lässt sie das Licht brennen. Wenn ich es abdrehe, beginnt sie zu schreien.«
Als sie in den Raum traten, erschrak das Mädchen. Mit panischem Blick huschten ihre Augen von einem zum anderen. Als sie die Mutter erkannte, schien sich ihre Furcht zu legen, und sie beruhigte sich wieder.
Radek setzte sich zu ihr aufs Bett, Steiger und die Mutter hielten sich im Hintergrund.
»Bernadette«, sagte Radek und fragte nach: »Ich darf doch Bernadette sagen?«
Sie nickte.
»Ich bin Thomas Radek von der Polizei in Sankt Pölten.« Er sprach ruhig und behutsam, als könnte sie davonlaufen, wenn er zu unwirsch mit ihr umging. »Ich bin hier, weil ich dir einige Fragen stellen muss.«
Bernadette sagte kein Wort. Sie wartete darauf, dass er weitersprach.
»Du bist eine Woche abgängig gewesen. Wir würden gerne wissen, wo du warst.«
Sie schaute ihn verwirrt an, als wäre sie erstaunt darüber, dass er es nicht wusste. Dann flüsterte sie: »Beim Teufel. Ich bin beim Teufel gewesen. Und wenn ich ihm nicht gehorche, wird er mich wieder holen. Und euch auch, euch auch. Alle wird er holen.«
Das kam so wahrhaftig und überzeugt, dass es Radek beinahe die Sprache verschlug. »Was meinst du damit?«
»Das, was ich gesagt habe.«
»Und wo ist dieser Teufel?«
»Nicht in der Hölle.« Sie lachte plötzlich. »Glauben Sie nicht alles, was Sie über den Teufel hören.«
»Bernadette, können wir die Sache jetzt ernsthaft angehen?« Radek wurde ungeduldig, er hatte keine Lust, sich von dem Mädchen verarschen zu lassen.
»Ich bin ernsthaft.«
»In Ordnung, dann sag mir bitte, wo du gewesen bist.«
»Unterwegs.«
»Und wo warst du unterwegs? In Amstetten, in Sankt Pölten, in Wien oder woanders?«
»In Wien.«
»In Wien?«
Sie nickte.
»Und wo in Wien?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Bist du die ganze Zeit über in Wien gewesen? Also die ganze Woche?«
Sie überlegte. »Nein, auch in Sankt Pölten.«
»Und wo in Sankt Pölten?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Bist du allein gewesen?«
»Nein.«
»Mit wem warst du zusammen?«
Bernadette warf ihm einen Blick zu, als hätte er eine unmögliche Frage gestellt. »Keine Ahnung«, antwortete sie, »ich habe die Leute nicht gekannt.«
»Was hast du die ganze Woche über gemacht?« Noch einmal versuchte Radek, eine brauchbare Erklärung aus ihr herauszubekommen.
Sie flüsterte: »Ich war beim Teufel. Weil, der Teufel ist unter uns, ich hab ihn gesehen. Geben Sie acht!«
Radek musste sich zusammenreißen, um seinen Ärger nicht zu zeigen. »Möchtest du mir etwas über den Teufel erzählen?«, fragte er und bemühte sich dabei um einen verständnisvollen Ton.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das darf ich nicht.«
»Erzählst du mir dann etwas über die Leute, mit denen du unterwegs warst?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nichts über sie.«
»Was heißt, du weißt nichts? War es ein Mann oder eine Frau, einer oder mehrere?«
»Mehrere, einige Männer und einige Frauen.«
»Wie viel?«
»Das war unterschiedlich, manchmal zwei, manchmal drei.«
»In Sankt Pölten?«
»Ja.«
»Und in Wien?«
»Da auch.«
»Wann bist du in Wien gewesen und wann in Sankt Pölten?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Warst du zuerst in Sankt Pölten und dann in Wien, oder umgekehrt?«
»Zuerst in Sankt Pölten.«
»Wie lange?«
»Weiß ich nicht mehr.«
Radek wurde klar, dass diese Befragung sinnlos war. Entweder wollte Bernadette nichts sagen oder sie war völlig von der Rolle und redete deshalb nur Scheiße. Oder sie hatte tatsächlich keine Ahnung, was in der Woche ihres Verschwindens mit ihr passiert war. Aber dann stellte sich die Frage, warum?
Radek hatte keine Ahnung, was er jetzt mit ihr machen sollte, deshalb versuchte er es noch einmal, diesmal auf die direkte Art. »Bernadette«, sagte er ruhig und vergewisserte sich, dass sie ihm zuhörte und ihn richtig verstand, »ich glaube dir nicht. Du belügst mich. Ich denke, dass nichts von dem, was du mir gerade erzählt hast, stimmt. Warum willst du mir nicht die Wahrheit sagen?«
Sie starrte ihn lange an, ihre Augen schienen durch ihn hindurchzusehen in eine andere, weit entfernte Welt. Dann sah sie zu der uniformierten Polizistin, danach zu ihrer Mutter, anschließend wieder zu Radek. Und plötzlich schrie sie: »Die Wahrheit geht euch nichts an! Das ist meine Wahrheit, nur meine! Verschwindet, lasst mich in Ruhe! Der Teufel soll euch holen!« Sie wurde von einer Sekunde auf die andere aggressiv und versuchte, Radek vom Bett zu stoßen. »Der Teufel wird auch euch holen, wenn ihr so weitermacht«, kreischte sie. »Verschwindet, schert euch zum Teufel!«
»Bitte, lassen Sie Bernadette in Ruhe«, mischte sich die Mutter ein.
Das Mädchen hatte aufgehört zu schreien, war noch weiter in die Ecke gerutscht.
Radek stand auf und sie gingen aus dem Zimmer. Das war völlig danebengegangen. Sie folgten der Mutter hinunter ins Vorzimmer.
»Hat Sie Ihnen erzählt, was passiert ist?«, fragte er die Mutter.
»Nein«, war die knappe Antwort.
Radek wartete vergeblich, dass sie noch etwas hinzufügte. »Hat sie gesagt, wo sie gewesen ist?«
»Nein.«
»Oder was sie in dieser Woche gemacht hat?«
»Nein, auch nicht.«
»Was hat Sie Ihnen eigentlich gesagt?« Radek wurde ungehalten. »Irgendetwas werden Sie ja gesprochen haben, nachdem Ihre Tochter heimgekommen ist.«
Die Mutter blickte ihn unverwandt an. Dann antwortete sie mit ruhiger Stimme: »Sie hat nichts gesagt. Nur das, was sie Ihnen eben erzählte, das hat sie auch uns erzählt, mehr nicht.«
»Und damit haben Sie sich zufriedengegeben?«
»Ja.«
Radek begriff, dass die Mutter nichts wusste oder es nicht sagen wollte und es sinnlos war, weiterzubohren. Er hätte zwar noch gut ein Dutzend Fragen gehabt, aber ihm wurde klar, dass es vergeblich war, Mutter oder Tochter weiter zu löchern.
»Eines würde ich gerne noch wissen«, sagte Radek, als er sich schon zum Gehen wandte. »Hat Bernadette einen Führerschein?«
»Nein«, antwortete sie. »Warum interessiert Sie das?«
Radek zuckte die Schultern. »Es erscheint mir hier in dieser Gegend praktisch, möglichst früh mobil zu sein.«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, Bernadette hat das bis jetzt noch nicht interessiert.«
Die beiden Polizisten verabschiedeten sich an der Tür und gingen.
»Wie ist das gelaufen, als du bei ihr warst?«, wollte Radek von seiner Kollegin wissen, als sie im Funkwagen saßen.
»Ganz ähnlich«, antwortete Steiger. »Bernadette hat nur Scheiße gequatscht, und ihre Eltern haben gemauert.«
»Aber warum?«, dachte Radek laut nach. »Was haben sie zu verbergen? Hat das Mädchen etwas angestellt, als sie abgehauen war?«
»Gut möglich. Jedenfalls glaube ich, dass die Eltern Bescheid wissen«, mutmaßte Steiger.
»In Ordnung. Gehen wir einmal von folgender Überlegung aus: Das Mädchen ist abgehauen und hat irgendwo eine Straftat begangen. Etwas Gravierendes, das verschwiegen werden muss. Trotzdem beichtet sie es den Eltern? Das ergibt keinen Sinn.«
»Möglicherweise brauchte sie ihre Hilfe.«
»Das wäre eine Möglichkeit.«
»Gut. Bernadette beichtet ihren Eltern, was sie getan hat, und die stellen sich hinter sie und decken sie. Das wäre bis zu einem gewissen Grad verständlich.«
»Das heißt, sie haben sich abgesprochen und stecken unter einer Decke«, brachte es Steiger auf den Punkt.
»Das erscheint plausibel«, bestätigte Radek. »Allerdings bringt uns das nicht wirklich weiter.«
»Nein, tut es nicht. So weit war ich nämlich auch schon. Mir ist das genauso komisch vorgekommen wie dir. Das war der Grund, warum ich versucht habe, einen Kriminalsachbearbeiter oder jemand anderen hinzuzuziehen«, rechtfertigte sich Steiger.
»Zumindest hast du jetzt jemanden.«
»Ha ha – da kann ich aber nicht lachen.« Steiger meinte das durchaus ernst.
»Außerdem ist da die Sache mit dem Teufel. Was soll das? Hast du dich im Zimmer umgesehen? Da deutet überhaupt nichts in diese Richtung. Was will sie damit?«, fragte Radek.
»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist es einfach eine Schutzbehauptung, um uns in die Irre zu führen. Vielleicht sollen wir nach einem satanistischen Hintergrund suchen, damit wir vom Kern der Sache abgelenkt werden.«
»Aber was ist der Kern der Sache?«
»Keine Ahnung. Wie machen wir jetzt weiter?«
»Ebenfalls keine Ahnung. Wir haben zu wenig Informationen. Wir sollten noch weiter im Leben der Lindner herumstochern. Vielleicht sollten wir mit ihrem Chef sprechen.«
Bevor Radek den letzten Satz beendet hatte, startete seine Kollegin den Wagen und fuhr los.