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SPEISEWAGEN THALWIL–WALENSTADT

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Er zeigte auf einen Vierertisch ohne Aschenbecher, obwohl er seine Pfeife bei sich hatte.

«Sie sind Nichtraucher», bemerkte seine Begleiterin erfreut, und er nickte.

«Pfeife. Ich kann gut und gern darauf verzichten.»

So kurz hinter Zürich war der Speisewagen noch fast leer. An einem Tisch gleich hinter der Küche saßen drei Männer bei einem Bier.

Sie rutschte über die Sitzbank ans Fenster, schüttelte sich, als ob sie friere und rieb sich die Hände. Dann stützte sie die Arme auf den Tisch und fragte:

«Überrumpelt?»

Er lächelte schwach und wunderte sich erneut über ihre tiefe Stimme.

«Ich heiße Melitta Strauß», stellte sie sich vor, «und finde es fad, allein im Speisewagen zu sitzen. Vor allem später, wenn die Biertrinker aus der zweiten Klasse eintrudeln. – Ich lebe in Wien, habe die letzten Wochen in Zürich gearbeitet …»

«Im Theater?»

«Ja. Woher wissen Sie das.»

«Eine Vermutung. Die Leute, die Sie begleiteten, ich hielt sie für Schauspieler …»

«Ja, das stimmt.»

«Sie sind Schauspielerin?»

«Nein, ich nicht. Ich habe für ihr Theater ein Stück geschrieben. – Aber bevor Sie mir alle meine Geheimnisse entlocken, darf ich vielleicht Ihren Namen erfahren?»

Er lachte entschuldigend und sagte:

«Mettler, Jürg Mettler.»

Er zögerte und kam über die paar Silben nicht hinaus. Was konnte einer von sich sagen, der weder Titel noch Beruf hatte und ohne Arbeit war. Fast wünschte er sich, noch bei der Polizei zu sein. – «Kommissar Mettler, Kriminalpolizei Zürich.» – Das hätte immerhin zur ihrer tiefen Stimme gepasst.

Zum Glück kam der Kellner mit den Speisekarten. Er empfahl ihnen ein Nudelgericht und brachte eine Flasche Zweigelt, einen österreichischen Rotwein, zu dem Mettler sich überreden ließ, obwohl er sich vorgenommen hatte, keinen Alkohol zu trinken.

Am Zweiertisch ihnen schräg gegenüber nahmen zwei weitere Gäste aus dem Schlafwagen Platz, der Sikh und seine Begleiterin. Er hatte sie für ein Paar gehalten, nun war er sich nicht mehr sicher. Auf jeden Fall besaß die Frau die größere Reiseerfahrung, sie betreute ihn. Sie fragte den Kellner nach einer Speisekarte in englischer Sprache, sie bestellte die Getränke, sie schaute sich neugierig nach allen Seiten um, und sie nickte Frau Strauß zu, als seien sie alte Bekannte. Der Mann schwieg und lächelte oder fummelte an seinem Turban, der nicht richtig zu sitzen schien.

«Mehr als Ihren Namen verraten Sie mir nicht?», nahm Frau Strauß den Faden wieder auf. «Warum fahren Sie nach Wien?»

«Ich besuche meinen Sohn. Er arbeitet in Wien, in einem Hotel. Ich, ich habe ihm eine traurige Nachricht zu überbringen. Seine Mutter …»

Er verstummte. Warum sollte er einer Frau, die sich allein im Speisewagen langweilte, erzählen, dass Alice gestorben war. Dass er Haus und Hof verloren und ohne Arbeit war. Die große Jammertour.

«Seine Mutter und ich leben getrennt», versuchte er den drohenden Einbruch ihres Tischgesprächs abzuwenden. «Noch nicht sehr lange. – Eine der üblichen Geschichten», sagte er rasch und um weiteren Fragen zuvorzukommen: «Erzählen Sie mir von Ihrem Theaterstück. War es ein Erfolg?»

«Ich bin zufrieden. Wir wurden nicht ausgepfiffen und die Kritiken waren gut, bis auf die eine schlechte, die einen dann so wurmt. «Das Stück treibt an der Oberfläche, ohne Pointen, ist banal und trifft das an sich wichtige Thema nicht.» Und schon hält man diese eine für die wichtigste und die Lobreden der anderen für oberflächlich. – Doch das ist wohl mehr ein persönliches Problem.»

«Wie meinen Sie das?»

«Man weiß selbst am besten, woran man mit einer Arbeit ist», sagte sie finster, und ihre Augen bohrten sich in die seinen.

«Der Erfolg gibt einem Recht.»

«O nein. Dem Erfolg darf man nicht trauen. Was alle bejubeln, tut niemandem weh. – Na ja, so simpel ist es nicht, und schon gar keine Entschuldigung für den eigenen Schiffbruch …»

«Den Sie ja nicht erlitten haben.»

«Richtig, vielen Dank. – Sehen Sie, kaum fragt mich jemand, nach meinem Erfolg, glaube ich, dass es, weil es einer war, wohl kein wirklicher gewesen sein kann. – Das meine ich mit persönlichem Problem.»

«Mit der Bratwurst in den Kaffee tunken», sagte er augenzwinkernd.

Sie lachte und schüttelte irritiert den Kopf. Doch bevor sie fragen konnte, was er denn mit seiner rätselhaften Bemerkung gemeint haben könnte, servierte ihnen der Kellner die Speisen.

Das Nudelgericht war eine fade Angelegenheit. Eine Mischung aus verkochten Teigwaren, Gemüse, ein paar Stückchen Huhn und einzelnen Blättchen hauchdünn geschnittenen Schinkens.

Sie waren mittlerweile eine halbe Stunde unterwegs (er glaubte, jenseits des Sees die Lichter von Rapperswil zu erkennen), und die Tische im Speisewagen waren fast alle besetzt.

Ihnen gegenüber hatten Laszlo und Claudia Platz genommen. Er las ihr die Speisekarte vor und gab Ratschläge und merkte nicht, dass sie sich entweder längst entschieden hatte oder gar nichts mehr essen wollte. Etwas weiter entfernt entdeckte er die Mollige. Sie las in einem Buch, und wenn er sich nicht täuschte, dann war es «Mord im Orientexpress». Das war wohl die Bahnfahrer-Standardlektüre.

Frau Strauß aß mit sichtbarem Vergnügen. Sie kaute und malmte die einzelnen Bissen kraftvoll und mit einer Ausdauer, die ihn unwillkürlich an einen Wiederkäuer denken ließ. Die stoische Gelassenheit einer Kuh. Die Augen seltsam abwesend. Es war lange her, dass er jemandem so interessiert beim Essen zugeschaut hatte, und leicht erstaunt stellte er fest, dass er sich nicht erinnern konnte, wie Alice gegessen hatte.

«Sie essen wie ein Fuchs», sagte Frau Strauß nach einem Schluck Wein, «beschnüffeln und zuschnappen.»

«Es ist Hühnerfleisch dabei. Es fliegt zwar nicht mehr davon, aber …»

«Ich zermalme alles wie eine Kuh.»

Er nickte unwillkürlich, und sie lachte und wischte sich den Mund ab. Gleich würde sie das Thema wechseln, und um all ihren Fragen zuvorzukommen, sagte er:

«Sie haben mir noch gar nichts von Ihrem Stück erzählt.»

Sie kicherte begeistert, wühlte in ihrer Tasche, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

«Ich habe geglaubt, ich habe noch ein Programmheft. Nun müssen Sie ohne Illustration auskommen. – Also. Aber wenn ich Sie langweile, müssen Sie es sagen.» Sie beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf. «Es geht um die Priester der Information. Ihre Kanzeln stehen in jeder Stube. Das Fernsehen – unsere moralische Anstalt.» Ihre Augen schlugen einen Salto. «Kirche, Elternhaus, Schule. – Tempi passati. Was wahr ist, was gut, gerecht, weise, was liebenswert ist, das teilen uns die Leute vom Fernsehen mit.» Ihr Blick durchbohrte ihn. «Und wir? Wir glauben, was wir sehen. Noch die dümmste Tussi wird zur Wetterfee.»

Ihre Stimme dröhnte.

Er hörte ihr zu und dachte an die Moderatorin. Ob die Dramatikerin die Wolf auch zu den Priesterinnen der Information zählte?

«Fernsehen macht dumm, glaubten meine Eltern», sagte sie viel zu laut, als hätte er etwas anderes behauptet. «Fernsehen macht kaputt. Als Erstes die Augen. Nicht das Organ, auch, aber viel schlimmer ist der Betrug, dem unser Schauen ausgeliefert wird.» Sie fixierte ihn, um wieder ein bisschen ruhiger fortzufahren. «Unsere Gefühle werden durch Bilder geprägt, vor allem unser Sicherheitsempfinden. Alles, was einer im Laufe eines Lebens sieht, wird vom Gehirn gehortet, verglichen und geordnet, und genau hier liegt das Problem. Als Speicher ist unser Gehirn phänomenal, praktisch unbeschränkt, aber es ist träge –, die Masse Mensch ist träge – und darum können unsere grauen Zellen so leicht überlistet werden. Sie lassen sich täuschen. Sie glauben, anstatt zu denken. Und schon haben wir den Salat.» Sie lehnte sich zurück und riss die Augen auf. «Über Jahrtausende entwickelte Vorsicht wird durch die Folgenlosigkeit konsumierter Fernsehbilder gestürzt und macht unser Sicherheitssystem kaputt. Sinnsprüche, Rätsel, Weisheiten verlieren ihre Gültigkeit.»

Er verstand nicht, was das mit einem Theaterstück zu tun haben sollte, ihre Ansichten teilte er nicht. Auch Bilder logen, zeigten eine Oberfläche, waren subjektiv. Das war doch schon immer so.

«Wie schade, jetzt habe ich Sie erschreckt. Sie sollten Ihr Gesicht sehen», spottete die Strauß. «Aber Sie haben natürlich Recht. Ich verheddere mich immer in der Einleitung, anstatt zur Sache zu kommen.»

«Ich nehme einmal an, es war wichtig», sagte er unhöflicher als beabsichtigt.

«Der Rest ist schnell erzählt, und Sie haben es überstanden», sagte sie, die seine Verstimmung wohl längst bemerkt hatte, und zwinkerte ihm zu. «Die Hauptrolle des Stücks ist eine junge Fernsehmoderatorin. Sie bringt mit, was von ihr erwartet wird. Gutes Aussehen, Stimme. Eine Topfrau. Ihre Show wird als Livesendung verkauft. Die Probleme von ­Paaren: unfreiwilliger Kindersegen, zu kleiner Busen und zu dicker Hintern – Alles Lug und Trug. Nichts ist live. Die Paare sind Schauspieler, die Szenen einstudiert, das Publikum instruiert. Wann klatschen, wo lachen. Selbst die schöne Moderatorin ist eine Fälschung.»

«Haben Sie für Ihre Moderatorin ein Vorbild?», fragte er scheinheilig und dachte erneut an die Rote.

«Nein, es geht ja nicht darum, jemanden bloßzustellen. – Auf der Bühne wird nun gezeigt, wie eine solche Sendung entsteht. Die Moderatorin selbst ist eine dumme Gans. Eitel, überkandidelt und unkollegial. – Nun, nachdem die Zuschauer gemerkt haben, dass die Sendungen getürkt werden, wird die Situation auf den Kopf gestellt. Echte Leute, echte Probleme, live. Alle wissen es, nur die Moderatorin nicht. Die Rache ihrer Kollegen. – Die Moderatorin versagt, und die Sendung muss abgebrochen werden. – Wir im Theater spielen freilich auch damit, dass unsere Geschichte auf einer Bühne spielt, also ebenfalls nur Fiktion ist.»

Sie lehnte sich zurück, schwieg und lächelte. Er verstand überhaupt nichts mehr. Was sie ihm erzählt hatte, hielt er für eine Komödie, welche die engagierte Einleitung kaum erklärte. Überdies schien ihm der Schluss zu fehlen.

«Und?», fragte er vorsichtig.

«Und? – Und nichts. Fertig!» Sie lachte, musterte ihn amüsiert und sagte: «Ich glaube, da bin ich eben durchgefallen.»

Er schüttelte den Kopf und war doch froh, dass eine Stimme hinter ihm fragte:

«Ist der Platz noch frei?»

Wiener Walzer

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