Читать книгу Wiener Walzer - Peter Höner - Страница 5
PROLOG
ОглавлениеMettler drehte den Verschluss auf und kippte den Cognac auf den Rest Whisky.
Nacht für Nacht stand er am Fenster seines Hotelzimmers und trank. Bier, Wein, Sekt, dann die Schnäpse, die gesamte Minibar. Frierend starrte er auf die fensterlose Fassade des Nachbarhauses und drängte seine Beine gegen den Heizkörper. Aber immer war die Heizung schon ausgegangen, und wenn er das Ventil aufdrehte, so kullerten nur ein paar Luftblasen in den Rohren, wärmer wurde es nie.
Er war viel zu leicht angezogen. Doch kurz vor Frühlingsbeginn hatte er keine Lust, sich eine Wintergarderobe anzuschaffen, er war froh, dass seine gesamte Habe in einem Koffer Platz hatte. Ein halbes Dutzend Hemden, zwei Sommerhosen, Wäsche. Eine Mappe mit Dokumenten und ein Karton voller Fotos. Das war alles, was er aus Afrika nach Hause brachte.
Nach Hause? War er vielleicht hier daheim? Hier, wo ihm alles fremd geworden war, er niemanden mehr kannte, niemand auf ihn wartete?
Er hatte Alice versprochen, zu Ali zu fahren. Zu zweit sei alles leichter, und er werde sehen, wie bald er in sein früheres Leben zurückfinde. Sie sei seine afrikanische Episode, und er müsse sie vergessen. Er wehrte sich und fluchte, während sie zerfiel und von Anfall zu Anfall schwächer wurde. Jahrelang hatten sie diese Pillen geschluckt, aber ausgerechnet sie musste von einer Mücke gestochen werden, deren Malariaerreger gegen sämtliche Mittel resistent war.
Er reiste mit der Urne nach Lamu, um sie im Hof ihres Hauses beizusetzen. Das war vor sieben Monaten. Er hatte seine Projektleiterstelle gekündigt und den Hausstand aufgelöst. Er vegetierte dahin, begann zu trinken. Warum er sich schließlich aufraffte und nach Zürich flog, wusste er auch nicht mehr.
Bis vor kurzem hatte Ali in Zürich gelebt und in einer Bar gearbeitet. In der Stadt fand er nur noch Alis geschiedene Frau Christina. Er sei nach Wien gezogen, eine neue Stelle. Eine neue Freundin. Immerhin wusste sie seine Adresse. Pension «Alsergrund».
Nun musste er, wenn er sein Versprechen einlösen wollte, auch noch nach Wien. Um Vater und Sohn zu spielen. Als ob Ali ihn je als Vater akzeptiert hätte. Über Jahre wussten sie nichts voneinander, und als sie sich schließlich kennen lernten, war der Junge längst erwachsen. Um doch noch so etwas wie Verantwortung zu übernehmen, hatte er Ali eine Ausbildung finanziert. Alice und er schickten ihren Sohn an die Hotelfachschule in Luzern, hofften, dass er später einmal ihr Hotel in Lamu übernehmen würde, doch Ali hatte andere Pläne, und von seinem Vater ließ er sich schon gar nichts sagen.
Der Heizkörper war ja kälter als seine Beine, und der Schnaps taugte auch nichts. Er zog die Vorhänge zu und schaltete den Fernseher ein. In der Minibar waren noch ein Wodka und zwei Underberg, er schüttete alles zusammen und setzte sich aufs Bett, dann langte er nach einem Stapel Fotos, die auf dem Nachttisch lagen.
Alice und Ali vor dem «Rafiki Beach Hotel».
Ali mit Sombrero: der Eisverkäufer.
Alice auf der Terrasse ihres Hotels.
Die beiden vor seiner Piper Cup.
Die Hoteldirektorin. – Da waren sie schon verheiratet.
Alice und er vor dem Rundhaus ihrer Baumschule in Tansania.
Aus Wien kündigte eine rothaarige Moderatorin ihre Show an. Groß, schlank und mit langen Haaren entsprach sie wohl dem üblichen Schönheitsideal. Ihre Munterkeit freilich passte schlecht zur nachtschlafenden Stunde. Sie kam eine Treppe herunter, schwebte in Wolken, vervielfachte sich und warf ihren Gästen oder den Zuschauern daheim – bald in ein Lumpenkostüm gewickelt, dann wieder in einem roten Minirock – Kaskaden von Kusshänden zu. Schließlich landete sie in einem rosafarbenen Ledersessel und fing mit der eigentlichen Sendung an. Sie begrüßte eine weiß gepuderte Dame mit strohblonden Haaren, die sie als die älteste Wahrsagerin der Schweiz vorstellte.
Warum die Frau in einem weißen Spitzenkleid auftrat, als sei sie eine Braut, konnte er sich allerdings nicht erklären. Doch daran, dass er nicht verstand, was er sah, hatte er sich in den vergangenen Tagen längst gewöhnt. Jeder Werbespot war eine Denksportaufgabe, und vor den meisten kapitulierte er.
Das Publikum klatschte und johlte, und die Moderatorin, die in ihrem Plastikrock neben dem Tüll, den Rüschen und Bändern wie nackt dastand, lächelte so milde und andächtig, als habe sie dem Wiener Studiopublikum gerade eine neue Mutter Theresa vorgestellt.
In welchem Mief war er denn da gelandet? Er legte die Fotos zurück auf den Nachttisch und ging ins Bad.
Er war wieder da, von wo er geflohen war, er war wieder in der Schweiz, doch die Vorstellung, er könnte seine alte Arbeit wieder aufnehmen, war schlicht undenkbar.
«Büro Lux, Beobachtungen und Ermittlungen aller Art. Wir liefern die Fakten, die Ihnen fehlen. Diskret, modern, Tag und Nacht.»
Woher hatte er nur diesen blödsinnigen Sprüche? «Diskret, modern, Tag und Nacht.» Was hieß denn das? Was hatte das mit seiner Arbeit zu tun?
Eifersüchtige Ehepartner wollten Beweise für Seitensprünge, missgünstige Angehörige glaubten sich von einer lustigen Witwe um ihr Erbe betrogen, und ängstliche Eltern vermuteten, ihre Kinder würden Drogen nehmen. Er stellte Ladendiebe, versteckte sich mit einem Fotoapparat in staubigen Büschen, fuhr in einem alten BMW hinter dem Ford Fiesta einer Hausfrau her und ärgerte sich über alle, die ihn kaufen konnten. Tag und Nacht.
Doch womit sollte er seinen Unterhalt verdienen, wovon sollte er leben, wenn seine Ersparnisse einmal aufgebraucht sein würden? In Afrika war es leicht, seinen Beruf als Hobby zu betreiben. Zusammen mit seinem Freund, Kommissar Tetu.
Leicht? – Tetu saß immer noch im Gefängnis, und er hatte sein Hotel verloren, in dem sein ganzes Geld gesteckt hatte. Nein, leicht war das nie, und hier schon gar nicht. Wenn er denn als Detektiv überhaupt noch zu gebrauchen war.
Wütend drehte er den Heißwasserhahn ab und stand unter der Brause, bis er es nicht mehr aushielt. Nüchtern wurde er nicht.
Polizeiarbeit, das war ein Fluch. Sie verfolgte ihn, wohin er sich auch flüchtete, irgendwann holte sie ihn immer ein. Dabei wusste er nicht einmal, ob er ein so guter Detektiv war, wie Alice geglaubt hatte, dass er einer gewesen sei.
Im Fernsehen hatte die Moderatorin mittlerweile sieben Paare um ihren Sessel versammelt. Sie sprachen über das verflixte siebte Jahr. Zwei Frauen, deren Gesichter immer wieder den ganzen Bildschirm füllten, rannen bereits schwarze Schlieren ihrer Schminke über die Wangen.
Mettler setzte sich auf die Bettkante und zappte durch die Programme. Obwohl es morgens um drei war, fand er an die zwanzig verschiedene Sender, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Nachrichten aus Arizona, Sport, ein alter Streifen mit Gary Grant, Telenovelas, Musikclips, Softpornos und weitere Talkshows und Quizsendungen, schließlich landete er wieder bei der Roten in Wien.
Ein fetter Jüngling mit wirrem Haar und Pickeln im Gesicht bat eine Petra um Verzeihung. Er stotterte und heulte, bis die Rote von Petra wissen wollte, ob sie sich auf Grund der so sichtbaren Reue vorstellen könnte, ihre Beziehung wieder aufzunehmen. Die Kamera schwenkte auf eine versteinerte Frau mit blassblauen Backen, die sich in eisiges Schweigen hüllte, um gleich darauf wieder den Mann ins Bild zu holen, der von seinem Stuhl rutschte und sich nun heulend vor Petra auf dem Boden wand.
Die Rote sagte leise, fast flüsternd und doch mit einem Timbre, das wohl ihre eigene Bewegung verraten sollte: «Siehst du das, Petra? Siehst du das. Das tut er für dich.» Worauf die Blassblaue erst zu flüchten versuchte und dann zusammenbrach. Sie schluchzte, der Dicke warf sich in ihren Schoss, das Publikum klatschte, und die Rote lächelte.
Mettler kippte den den ganzen Wodka-Underberg und sank ins Bett. Sein Kopf knallte gegen die Bettkonsole, Sterne kreisten. Alice und Ali, Zürich, Wien und hinter dem Fernseher grinste der Belgier Poirot, der jeden Fall klärte, Tag und Nacht und mit geschlossenen Augen.
Ein grimmiger Bursche, der seine Arme über der Brust verschränkte und trotzig zu Boden starrte, wurde nun von der Moderatorin gefragt, ob er selber sagen wolle, warum er hier sei. Der Mann nickte unbestimmt, und die Rote erzählte.
«Vor sieben Jahren waren Sie für mehrere Wochen in Afrika. Sie haben sich verliebt. In eine junge Afrikanerin.»
«Nicht vor sieben, vor dreißig Jahren!», protestierte Mettler und stieß die Faust gegen den Fernseher. «Ich war in Afrika.»
«Sie waren ganz schön heiß», sagte die Rote und lächelte gefährlich. «Sie liebten sich am Strand, auf Dachzinnen, im Hotel; aber dann, eines schönen Tages, sind Sie abgehauen. Einfach so, ohne sich zu verabschieden. – Was ums Himmels willen haben Sie sich denn dabei gedacht?»
Mettler biss die Zähne aufeinander. Er kannte den Feigling. Schiss hatte er, weil er werden wollte wie Poirot. Ein verdammter Schnüffler. «Polizeischule, Büro Lux!», schrie er, «In einem alten BMW hinter Frauen her.»
«Sie glauben mir nicht», sagte die Rote sanft. «Und es ist auch ein kleines Wunder, dass es uns gelungen ist, Eliza und den kleinen Ibrahim zu finden und zu uns, hierher ins Studio zu bringen.»
Mettler presste die Fäuste in die Augen. Aus schwarzroten Nebeln tauchten Alice und Ibrahim auf. Das «Rafiki Beach Hotel». – Eliza? Er kannte keine Eliza.
Im Fernseher starrte der Mann die Moderatorin an, als habe er eine Wahnsinnige vor sich. «Sollen wir sie bitten hereinzukommen?», schnurrte die Rote und schwang einen Arm über ihren Kopf, warf die Hand in die Luft und schnippte mit dem Finger. – Musik brauste auf, in der Tiefe des Studios wurde eine Türe geöffnet, Schwaden von Trockeneis dampften. Eine Assistentin führte eine junge Frau und einen kleinen Jungen herein, und das Publikum tobte. Die Rote ging den beiden entgegen, umarmte die Frau und führte sie in die Mitte der Bühne.
«Eliza und Ibrahim.»
Mettler schoss hoch und starrte auf das Paar. Alice und Ali. Was quatschte die Rote da? Das waren Alice und Ali. Sie waren hier, sie waren in Wien, und er war besoffen. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
Später, nachdem jemand mehrmals an seine Türe geklopft hatte, ging es ihm schon wieder etwas besser.