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SCHLAFWAGEN 302 – ABTEIL 17 FELDKIRCH–LANGEN AM ARLBERG

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Mettler stand unter der Türe zu seinem Abteil und lauschte auf die Geräusche im Flur. Dorin Wolf wurde immer noch von ihrem Hund begrüßt. Ein stürmischer Mix aus Kläffen und Gewinsel.

Er hatte die Moderatorin bis zu ihrem Abteil begleitet. Schon im Speisewagen war ihm ihre Nervosität aufgefallen. Vor allem nach dem Streit mit der Dramatikerin. Eine Unruhe, die sich auf dem Weg durch die Waggons noch verstärkte. Sie ging so dicht hinter ihm, dass er ihren Atem spürte, und wenn er zwischen den Wagen kurz hintereinander gleich mehrere Türen öffnen musste, lief sie auf ihn auf, als befürchte sie, die automatisch schließenden Türen könnten sie trennen. Im Ruhewagen, wo sie über Gepäckstücke und Beine steigen mussten, griff sie nach seiner Hand und gemeinsam balancierten sie durch eine Herde Schlafender, deren Ausdünstungen an ein überfülltes Massenlager erinnerten. Wenn ihnen jemand begegnete, drückte sie sich an ihn, und vor jedem Durchgang drehte sie sich um, als ob sie sich vergewissern wollte, dass ihnen niemand folgte.

Sie erreichten den Schlafwagen, und sie wurde etwas ruhiger. Aber als ihnen hinter der Schwingtüre zum Flur zwei Männer entgegenkamen, erschrak sie so sehr, dass er das Stocken ihres Atems hörte. Es waren der junge Schwendimann, der mit einem Paket (wahrscheinlich schmutzigen Pampers) zum Waschraum wollte, und ein tatsächlich etwas merkwürdiger Bursche mit einem knallroten Haarschopf, so schrill, dass die Haare der Moderatorin schon fast natürlich wirkten. Ein Typ, von dem er instinktiv dachte, dass er im Schlafwagen nichts zu suchen habe, und den er hier auch noch nicht gesehen hatte.

Sie riss ihn zurück und klammerte sich an ihn, bis die beiden Männer vorbei waren, dann zog sie ihn hinter sich her zum Aufgang in ihr Abteil. Dort musste sie wohl selbst das Gefühl bekommen haben, dass ihr Benehmen ihn befremden könnte. Sie ließ ihn los, hüpfte die Treppe hoch und drückte die Türe auf – der Hund erkannte sie und begann sein Begrüßungsgejaule – worauf sie noch einmal zu ihm zurückkam, ihn umarmte und flüsterte:

«Denken Sie nicht zu schlecht von mir.»

Der Hund beruhigte sich, und er schob die Türe zu. Endlich kam er dazu, seine Schuhe auszuziehen. Zur Blase an den Fersen war in den letzten Stunden ein immer stärker werdender Druck auf den gesamten Fuß gekommen, ein stechender Schmerz. Seine Socken waren blutig und hinterließen auf dem Teppichboden mehrere Abdrücke mit einem feinen, dunklen Rand.

Es war nicht das erste Mal, dass er ein Abteil in einem Schlafwagen gebucht hatte, aber noch nie in einem Komfortwagen eines City Liners. Außer Fenster, Spiegel und Bettlaken war alles aus einem harten, widerstandsfähigen und gut zu reinigenden Kunststoff. Es roch nach nichts, es klapperte nichts, und alles wirkte geradezu klinisch sauber. Sogar der Apfel, der zum Begrüßungsset gehörte, sah nach Plastik aus.

Die Fahrgeräusche des Zuges waren so gering, dass er sich fragte, ob der Zug überhaupt fahre. Er spähte durchs Fenster in die Nacht hinaus und sah nichts, aber ein paar Minuten später, als der Zug hielt, bemerkte er es erst, als der Wagen schon eine ganze Weile in einem hell erleuchteten Bahnhof stand.

Er kramte seinen Waschbeutel aus dem Koffer, legte sein Buch und die Zeitschrift aufs Bett und zog sich aus. Nachdem er die Zähne geputzt, ins Lavabo gepinkelt und zumindest den Versuch unternommen hatte, sich zu waschen, kroch er ins Bett.

Unter dem Kasten des zweiten zusammengeklappten Betts war es so eng, dass er nicht mehr lesen konnte. Er rutschte hervor, riss das Bett auseinander und platzierte das Kissen beim Fenster. Aber über dem Fenster gab es keine Leselampe, und aus dem Schlitz der Ventilation blies kalte Luft. Entnervt knautschte er die Decke zusammen und schob sie sich in den Rücken.

Das Titelfoto der «Privat» hatte wenig zu tun mit der Person, die er zwischen Walenstadt und Feldkirch kennen gelernt hatte. Nichts mit dem beleidigten Gezänk, mit dem sie über das Theaterstück von Melitta Strauß hergefallen war, und nichts mit der kindlichen Anhänglichkeit, mit der sie ihm durch die Waggons gefolgt war. Er suchte nach einem Grund, weshalb er dieser Frau ungefragt seine Geschichte preisgegeben hatte, während er der Dramatikerin ausgewichen war.

Auch dem Titelfoto hätte er sein Leben erzählt. Den Augen, die einen so erwartungsvoll anschauten, dem leicht erstaunten Lächeln, das einem jede Beichte entlockte.

«Eine Madonna», murmelte er und strich mit der Hand die Seite glatt.

Die Wolf in der Maske einer Heiligen. Das tief verwurzelte Bild eines Traums. Für die Moderatorin einer Sendung wie «Blick ins Herz» eine ideale Rolle.

Eine Madonna mit rot gefärbten Haaren? War er vielleicht dabei, sich in die Rote zu verlieben, oder hatten ihn Alkohol und Lebensüberdruss der letzten Monate zum sentimentalen Trottel gemacht? Ein Jammerlappen, der vor dem Hotelfernseher in Tränen ausbrach, oder sein Herz ausschüttete, sobald er einer attraktiven Frau begegnete?

Der Artikel war die Fortsetzung des Titelfotos in Küche, Bad und Bett.

«Wir wissen, wenn wir klingeln und unser TV-Schätzchen die Tür zu ihrem Heim aufmacht …» Ein paar Zeilen später «huschte das TV-Schätzchen» «elfenhaft» in die Küche und kam mit Kaffee und Gebäck zurück, was dem Schreiber und dem Fotografen in «weichen Pludersesseln» ein «himmlisches Vergnügen» bereitete.

Die Fragen, welche der Reporter stellte, waren so saudumm, dass die Antworten nicht gescheit sein konnten, doch dann ließ sich Dorin Wolf, von den vielen Komplimenten geblendet, dazu verführen, ihre Wünsche für die Zukunft preiszugeben.

«… natürlich kann ich die Sendung ‹Blick ins Herz› nicht mein ganzes Leben lang machen. … viel lieber möchte ich mit einem Kamerateam unterwegs sein und wirklich gute Reportagen über wirklich wichtige Leute machen. Über fremde Länder, oder über Tiere, über Städte und Strände …»

Eine Seite weiter hinten lag die Wolf in einer durchsichtigen Bluse, einem verrutschten Minirock und Stiefeln auf der Decke ihres Doppelbetts. Halb aufgestützt, die Knie leicht angewinkelt schaute sie verängstigt oder verführerisch und tat, als ob sie jeden, der ihr zu nahe kommt, in den Bauch treten wolle.

Plötzlich schämte er sich für seine Geschwätzigkeit im Speisewagen. Er warf das Heft unters Waschbecken, wo er einen Papierkorb vermutete, als es an seine Türe klopfte. Er setzte sich auf und lauschte, glaubte, sich getäuscht zu haben, als es ein zweites Mal klopfte. Lauter als zuvor. Er rutschte vom Bett, wickelte sich die Decke um den Bauch und öffnete die Tür.

Auf der Treppe, den Hund an der Leine, stand Dorin Wolf.

«Darf ich Sie bitten, zu mir in mein Abteil zu kommen. Ich muss Ihnen etwas zeigen. Es ist dringend.»

Wiener Walzer

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