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SCHLAFWAGEN 302 ZÜRICH–THALWIL

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Schade, Mettler hätte gern ein paar Worte mehr mit der attraktiven Moderatorin gewechselt, als Hundekenner ein paar gute Ratschläge gewusst, stattdessen hatte er sich mit einem dummen Witz blamiert.

Sie war kleiner, als er sie sich vorgestellt hatte. Das ­Gesicht war nicht ganz so makellos wie auf dem Bildschirm. Pausbacken, die nicht zu einer «femme fatale» passten, und ihr Umgang mit dem Hund, ihr Abgang waren alles ­andere als souverän. Sie roch gut. Nach Frühling und Limonen.

Die Abfahrt des Zuges nahm niemand wahr. Vor den Treppen in die beiden Stockwerke bildeten die Leute kleine Gruppen, und Mettler war wohl nicht der Einzige, der darauf wartete, dass die Rote sich noch einmal melden würde. Doch sie ließ sich Zeit.

Ein Glatzkopf mit Schnauz, der schon vorher von Abteil zu Abteil marschiert war, als wollte er sich einprägen, wer sich wo einquartierte, stellte sich vor den Aufgang zu ihrem Abteil, und zwei Frauen, eine ältere und eine jüngere, beide klein und breit, die zusammen reisten und immer etwas zu tuscheln hatten – Mettler hielt sie für Mutter und Tochter – sagten fast gleichzeitig und wie einstudiert:

«So schafft man sich Freunde.»

Jemand klatschte, die beiden kicherten wie Teenager, und der junge Mann mit dem Kind (dieser Schwendimann) dozierte wichtig:

«Hunde sollte man verbieten. Aufdringliche Hauptdarsteller, die zur Plage werden. Ganz abgesehen davon, dass einer oder eine, die einen Hund hat, eine zutiefst verunsicherte Person ist. – Aber ein Hund ersetzt keine Analyse. Im Gegenteil. Hunde sind der Grund für jede dritte Ehescheidung. Für sinkende Geburtenraten …»

«Einverstanden, aber ob Frau Wolf einen Hund hat oder nicht, kann uns doch egal sein», unterbrach der Glatzkopf seine Behauptungen.

«Genau. Ein Hund soll uns ablenken und weiter nichts», sagte die rosige Ringerin. «So ein Tier ist doch unschuldig.»

«Ach ja? Da fragen sie mal den jungen Mann, was er dazu sagt. – Ein Hund ist nicht berechenbar, nie, und darum ist ein Hund ohne Maulkorb ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit», schwadronierte Schwendimann unbeirrt weiter und verlangte: «Wer einen Hund halten will, soll beweisen, dass er dazu auch in der Lage ist.»

Und seine Frau, die ihm das Kind aus dem Arm nahm, fügte hinzu:

«Stefan ist noch so klein, da kann ihm jeder Hund gefährlich werden.»

«Aber doch nicht ein junger Labrador», sagte der Blinde, der sich von seinem Schreck erholt hatte. «Nur keine Panik, ich bin okay.» Er tastete nach seinem Rucksack und sagte zum Schaffner: «Ich möchte, dass Sie mich jetzt in mein Abteil bringen.»

«So große Hunde sollten in einem Schlafwagen verboten sein. Tier bleibt Tier», versteifte sich Schwendimann. Der kleine Stefan fing an zu weinen, und die Mutter sagte empört:

«Ein Hund gehört in den Gepäckwagen und nicht hierher.»

«Bitte, meine Damen und Herren, bitte», versuchte der Schaffner das aufgebrachte Ehepaar zu beruhigen. «Ein etwas übermütiger Hund darf doch wohl mit Ihrer Toleranz rechnen.»

«So ist es. Wann er da Kommissar Rex wäre, tät man ihn eh lieb haben», mischte sich der Riese mit dem Handy ein. «Weil der tut ganz allanig di Verbrecher jagn …»

«Etwas mehr Anstand dürfte man aber schon erwarten», sagte die Tochter, die mit ihrer Mutter reiste, und die Blasse, die mit dem grobschlächtigen Mann unterwegs war, zischte spitz:

«Dass sich Frau Wolf einen Hund hält, kann ich verstehen. Immer unter Hyänen.»

Mettler schaute über die Geleise auf die Leuchtreklamen, die den Schienenstrang säumten. Alt vertraute Werbezeichen glitten vorbei, Logos, die er schon immer mit Zürich verband. Kam er an, erlösten sie ihn von seinem Heimweh, fuhr er weg, jubelte sein Fernweh.

Sie überholten einen gut besetzten Regionalzug, der so nah neben ihrem herfuhr, dass er die Menschen hinter den Fenstern sah. Dann bogen die Züge auseinander, der Regionalzug legte sich in eine Kurve, die Fenster kippten weg, kurz darauf nahm ihm ein Bahndamm die Sicht. Dass die Rote noch einmal auftauchte, hoffte er wohl vergeblich.

Der Schaffner schickte die Passagiere in ihre Abteile und bat sie, ihre Papiere bereitzuhalten. Auch Mettler ging in seine Kabine, doch dort begriff er den Schließmechanismus der Türe nicht, nicht auf Anhieb, und als er schließlich kapiert hatte, wie die in zwei Flügel aufgeteilte Türe zugeschoben werden musste, ließ er sie offen stehen, bis der Schaffner die Papiere holen würde.

Im Abteil unter ihm richtete sich das ungleiche Paar ein. «Claudia lass!», «Claudia pass auf», «Claudia nicht!» Doch den Mechanismus der Türe verstand auch der Fleckige nicht. Er holte den Schaffner, damit er ihnen erkläre, wie die Türe sich schließen, verriegeln und sichern lasse, und es brauchte mehr als nur ein paar Worte, bis er zufrieden war.

«Aber für das Türschloss haben Sie einen Schlüssel?

«Ja, die Drehverriegelung können wir entsichern. Im Notfall. Aber wenn die Schließstange vorgelegt wurde, können auch wir nicht mehr ins Abteil.»

«Wie das? Hörst du zu, Claudia?»

«Die Schließstange wird in das auf der Tür befestigte Gegenstück gedrückt, bis sie einschnappt. Zum Freigeben der Stange kann das Gegenstück zur Seite gedrückt werden. Sehen Sie, so! Aber das geht nur von innen. Von außen lässt sich die Tür nur gerade einen Spaltbreit öffnen. Danach ist Schluss.»

«Sie meinen, danach lässt sich die Tür nur noch mit Gewalt aufbrechen?»

«So ist es.»

«Und die Stange lässt sich nicht aushebeln? Zum Beispiel mit einem Messer?»

«Laszlo! Du tust ja gerade, als ob du einen Einbruch planen würdest.»

Der Schaffner lachte und verabschiedete sich.

Mettler hockte auf der Bettkante und legte die Papiere bereit. Ausweis, Fahrkarten, Zolldeklaration und die Frühstückswünsche.

Zu deklarieren hatte er nichts, ein Werbeblatt der Bahn (ein Bild des Orientexpress, dem eine Fotografie des Doppelstockschlafwagens unterlegt war) steckte er in den Abfallbehälter, und so großzügig, dass er sich lange damit aufzuhalten brauchte, war das Frühstücksangebot nicht. Vier Teile aus einer marginalen Auswahl. Ein bisschen ratlos markierte er Kaffee, Brot, Butter und Schinken. Vielleicht wäre Käse besser gewesen, aber nun waren die Kreuze schon gemacht.

Er schaute durch die verschmutzten Fenster, glaubte die Gebäude der «Roten Fabrik» zu erkennen, ein Backsteinbau, der im orangen Flutlicht der Straßenbeleuchtung aufglühte. Es war Jahre her, dass er dort die Konzerte einer damals als alternativ berühmten Kulturszene besucht hatte. Generationen. Nicht nur, dass er sich nicht mehr auskannte, er gehörte auch nicht mehr dazu. Das hatte man ihm in den vergangenen Tagen freundlich, aber deutlich zu verstehen gegeben. Selbst ehemalige Freunde wussten mit ihm nichts mehr anzufangen.

Die Rote ließ ihm keine Ruhe. Er legte seine Papiere auf den Waschtisch und ging noch einmal in den Flur hinunter.

Der Korridor war mittlerweile menschenleer. Offensichtlich hockten alle in ihren Zellen und füllten ihre Zettel aus. Die besten vier aus zwanzig, das war eine ernst zu nehmende Herausforderung.

Ohne etwas sehen zu können, schaute er aus dem Fenster. Entweder waren sie in einem Tunnel oder die Bahnböschung war so hoch, dass sie einer dunklen Wand gleichkam. Manchmal glaubte er, dass die Lichter hinter den Wagenfens­tern einzelne Büsche, einen Zaun oder ein Wiesenbord beleuchteten, aber sicher war er sich nicht.

Dann hörte er Schritte. Jemand kam auf ihn zu. Eine Frau. Er schloss die Augen und drehte sich um.

Es war die Schauspielerin.

Ohne den Kreis ihrer Verehrer wirkte sie ein wenig verloren. Oder lag es an der trüben Beleuchtung. Er glaubte sich zu erinnern, sie sei auf dem Bahnsteig fröhlicher gewesen, als sie jetzt auf ihn zukam. Ihre Blicke kreuzten sich. Er nickte freundlich, sie lächelte und sagte mit einer überraschend tiefen Stimme:

«Sie hätten nicht Lust, mich in den Speisewagen zu begleiten?»

Wiener Walzer

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