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SCHLAFWAGEN 302 ZÜRICH HB

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Der Hund war ja ein Angsthase. Dorin Wolf musste ihn auf den Arm nehmen und in den Schlafwagen stemmen.

«So! Nun aber, lauf!»

Das dumme Vieh sprang an ihr hoch und machte ihr den Mantel dreckig, sie schubste ihn beiseite und spähte in den Korridor.

Wie meistens war der Wagen gut belegt. Die Reisenden standen im Flur vor den Abteilen und warteten auf die Anweisungen des Schaffners. Irgendetwas Auffälliges, gar Ungewöhnliches konnte sie nicht entdecken. Trotzdem zögerte sie.

Sie wurde bedroht. Seit Wochen erhielt sie anonyme Briefe. Sie war in Gefahr. Ein perverser Blödmann bastelte mit ausgeschnittenen Worten und Buchstaben einen holprigen Text, klebte Schweinereien auf Papier und drohte, sie umzubringen.

Sie hatte die Briefe der Polizei gezeigt. Man erkundigte sich, ob sie einen Verdacht habe. Ob sie glaube, als Moderatorin angegriffen zu werden? Ob sie sich beobachtet, gar verfolgt fühle? Lauter Unsinn. Sie wollte ja nur wissen, wer ihr solche Briefe schrieb. Irgendetwas unternommen hatte die Polizei nie, und ihre Kollegen … Mein Gott. Die lachten sich schief und brannten darauf, die hässlichen Anzüglichkeiten hinter ihrem Rücken durchzuhecheln.

Vor ein paar Tagen hatte sie ein Paket mit einem Klappmesser bekommen. «Alles hat zwei Seiten, das Messer eine Schwester». Ein Blödsinn, auf den sie sich keinen Reim machen konnte. Die Schwester des Messers ist die Gabel, der Bruder der Löffel. Und die zwei Seiten? Aber wenn der Satz einen Code enthielt, den sie nicht knacken konnte, wenn es an ihrer eigenen Fantasielosigkeit lag, dass sie nicht verstand, was da auf den Zettel geklebt war? Oder war es das Messer, das ihr Angst machte? Ein scharf geschliffenes Klappmesser, mit dem sich leicht jemand erdolchen ließ.

Sie drückte die Schwingtüre zum Korridor auf, blieb erneut einen Augenblick unter der Türe stehen und musterte die Reisenden ein zweites Mal. Eine vertraute Runde: Geschäftsleute, Kulturtouristen (Oper, Burgtheater, Stephansdom) und ein paar Ausländer, die sich nicht so leicht einer bestimmten Kategorie zuteilen ließen. Nichts, was ihr Miss­trauen rechtfertigte. Schon drehten sich die ersten Köpfe nach ihr um, und sie erntete die immer leicht überraschten Blicke, die ihr verrieten, dass man sie erkannte.

Ihr Abteil befand sich in der Mitte des Wagens im Oberstock und war das einzige, welches einen eigenen Aufgang besaß. Es war immer das selbe. Ein Entgegenkommen der Bahn, die so die Treue einer guten Kundin belohnte. Immerhin benutzte sie den Zug jede Woche, immer in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, einmal von Zürich nach Wien, die Woche darauf von Wien nach Zürich. Seit bald zwei Jahren. Der kleine Raum war längst zu einer Art dritten Heimat geworden. Auf jeden Fall kannte sie ihn so gut, dass sie auf Grund der kleinen Beschädigungen (einem blinden Fleck im Spiegel, einem Kratzer im Waschbecken) jeweils wusste, in welchem Waggon der beiden Zugkompositionen, die zwischen Zürich und Wien verkehrten, sie gerade zu Gast war.

Die Blicke der Leute taten ihr gut. Ihr Publikum begleitete sie, und die spürbare Bewunderung tilgte die scheußliche Mischung aus Angst und Wut, die sie seit Wochen verfolgte. Zumindest für den Moment.

Vor drei Tagen hatte sie sich einen Hund gekauft. Als Hilfe hatte er sich bis jetzt freilich nicht erwiesen. Im Moment stürmte er durch den Wagen und begrüßte ihre Fans. Wie ein ungezogenes Kind.

Sie kramte in ihrer Tasche, rief seinen Namen und warf ein Hundebiskuit nach ihm. Leider ohne Erfolg. Immerhin hoben seine Kapriolen die Stimmung, und eine Frau flüsterte ihr zu, wieso denn der süße Hund nicht in «Blick ins Herz» auftrete.

«Mein Mann und ich, wissen Sie, wir schauen jede Ihrer Sendungen. Obwohl. Sie sind für ein jüngeres Publikum, ich weiß, wir gehören ja nun zu den Alten. Den jungen Alten.» Sie lachte. «Dafür haben wir Zeit.» Und etwas verlegen fügte sie hinzu: «Sie sehen immer so, so dynamisch aus.»

Die Moderatorin lächelte und bedankte sich, und die Frau drehte sich nach ihrem Mann im Abteil um.

«Dorin Wolf ist im Zug, du weißt schon, die Moderatorin von ‹Blick ins Herz›», flüsterte sie, immerhin so laut, dass sie gut zu hören war. «Unser Stargast, und wir sind dabei.»

Eine Welle tiefster Befriedigung durchrieselte sie. Dafür arbeitete sie, das waren die kleinen Höhepunkte, die sie glücklich machten. «Dorin Wolf is here.»

Der Hund tapste eine der kurzen Treppen hoch und verschwand, um gleich darauf mit einem Schuh im Maul wieder aufzutauchen.

«Busoni!», schrie sie entsetzt. Dieser Mistkerl.

Schon kam die Besitzerin des Schuhs die Treppe herunter. Eine füllige Dame mittleren Alters, rosig und schwitzend, die Bluse war ihr aus dem Rock gerutscht. Der Hund tollte zum anderen Ende des Wagens, warf den Schuh in die Luft und knurrte, als müsste er seiner Beute den Garaus machen.

«Busoni! Willst du wohl hierher kommen. – Gib sofort den Schuh zurück.» Ein Albtraum, der Hund verpatzte ihren Auftritt.

Die Rosige näherte sich dem Hund, ließ sich wie ein Ringer in die Hocke fallen und streckte dem Hund die Hand entgegen.

«Komm, du kleiner Frechdachs, und gib den Schuh zurück.»

Der Hund zögerte, dann schlug er ein paar übermütige Haken und blieb stehen. Mitten im Flur. Dorin Wolf hoffte, ihn beim Halsband zu erwischen, doch er durchschaute sie und preschte durch die Strümpfe der Ringerin.

Irgendein Idiot klatschte und rief die Punkte aus.

«Eins zu null für den Hund.»

Sie wäre am liebsten an die Decke gesprungen. Zwi­schenrufe, das war so ziemlich das Letzte, was sie ertrug. Endlich kam ihr einer der Zuschauer zu Hilfe. Er griff nach dem Hund und bekam immerhin den Schuh zu fassen. Er tippte dem Tier auf die Schnauze, fasste ihm ins Maul und wand den Schuh heraus. Dann streichelte er den Dieb, der mit hängender Zunge vor ihm hockte.

«Sie kennen sich ja mit Hunden aus», sagte sie erleichtert und drängte mit der Hundeleine in der Hand zu ihrem Retter.

Der Hundekenner dürfte um die vierzig sein, sportlich, braun gebrannt, ein selbstbewusster Naturbursche, der ihr ungeniert in die Augen schaute. Ein Tennisass oder ein Skilehrer, auf jeden Fall jemand, der gewohnt war, in der Öffentlichkeit zu stehen. Einer aus dem Jet-Set, und sie kannte ihn nicht.

Sie nahm den Hund an die Leine. Der Mann wischte den Schuh an seiner Hose ab und untersuchte ihn.

«Alles in Ordnung. Ein paar Abdrücke seiner Milchzähne. Durchgebissen ist er nicht, und das Leder wächst noch einmal nach.»

War das eine Anspielung? Sollte es ein Witz sein? Was grinste er so blöd?

«Ich werde Ihnen die Schuhe selbstverständlich ersetzen. Hier, meine Karte», wandte sie sich an die mollige Ringerin. «Du bist aber auch ein böser Hund», und sie hatte große Lust, dem ungezogenen Vieh die Leine um die Ohren zu schlagen.

Zum Glück kam der Schlafwagenschaffner und die Sensationslust der Leute fand ein neues Ziel. Er führte einen jungen Mann durch den Korridor, einen Blinden, der trotz seiner Begleitung einen Blindenstab benutzte. Er tastete sich den Wänden entlang, ortete die Auf- und Abgänge zu den Abteilen und klapperte geschickt um einzelne Gepäckstücke.

Der Schaffner und der Blinde kamen direkt auf sie zu. Der Hund hatte sich niedergelassen, den Kopf zwischen den Vorderpfoten, und versperrte den beiden den Weg. Sie zerrte das Tier vom Boden hoch und drängte es in eine Treppennische. Der Hund bockte, zappelte und wand sich, sie versetzte ihm einen Klaps, und er schoss aus seinem Hinterhalt. Er sah den Stock und schnappte danach, dann griff er den Mann an.

Der Blinde schlug um sich, der Schaffner streckte dem Angreifer das Gepäckstück des Blinden entgegen (einen funkelnagelneuen, ledernen Stadtrucksack), sie zerrte und riss den Hund zurück, und der Köter, in der Leine hängend und auf den Hinterbeinen stehend, kläffte und knurrte, bis ihm der Geifer aus dem Maul flog. Die Katastrophe war perfekt.

«Ich hab ihn erst ein paar Tage», stammelte sie unglücklich. «So etwas hat er noch nie gemacht.»

Gebückt und den Hund am Halsband hinter sich herzerrend eilte sie zu ihrem Abteil. Sie wusste wohl, dass alle auf eine Entschuldigung warteten. Auf eine ihrer flotten Bemerkungen, mit denen sie in ihrer Sendung jede Peinlichkeit zu überbrücken vermochte. Aber ihr fiel nichts ein. Kein Kalauer und absolut gar nichts.

Sie schob den Hund die Treppe hoch und schaute, dass sie in ihrem Abteil verschwand.

Wiener Walzer

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