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SCHLAFWAGEN 302 – ABTEIL 13 THALWIL–ZIEGELBRÜCKE
Оглавление«Die Fahrkarten, mein Pass, sein Impfausweis, die Zolldeklaration und …», sie zwinkerte dem Schlafwagenschaffner zu und strich eine ihrer roten Haarsträhnen aus dem Gesicht. «Frühstück wie immer. Lassen Sie mich ein bisschen länger schlafen.»
«Sie mögen unseren Kaffee nicht.»
Sie hielt mit einer Hand ihr rotes Haar zusammen, drehte es geschickt um den ausgestreckten Zeigefinger und zog es durch ein Gummiband, dann schüttelte sie ihren Pferdeschwanz und strahlte den Mann an.
«So stimmt das nicht. Aber in St.Pölten geweckt werden, um mit einem Kaffee durch den Morgen zu schaukeln, ist mir ein Graus. Da sind mir eine halbe Stunde Schlaf und ein Wiener Kaffeehaus lieber.»
«Das kann ich verstehen. – Was ist mit dem Hund?»
«Hören Sie bloß auf. Ein Theater …»
«Ich meine, wenn er raus muss. Soll ich ihn abholen und … Einmal um den Block?»
«Vielen Dank, ich hoffe nicht, dass das nötig wird. Aber sollte er unruhig werden, werde ich mich bei Ihnen melden.»
«Jederzeit. Lieber einmal zu früh als zu spät», grinste der Schaffner und verbeugte sich. «Eine gute Fahrt wünsche ich und viel Spaß.»
Sie nickte, und der Schlafwagenschaffner, ein immer gut gelaunter Österreicher, drückte die Türe zu. Sie mochte den Mann. Auf jeden Fall lieber als den Schweizer, mit dem er sich abwechselte und der nicht einmal ihre Sendung kannte.
Der Zug passierte den Bahnhof von Thalwil. Anzeigetafeln, Masten, ein Warteraum. Eine einsame Straße im Licht der Laternen, dunkle Häuserblocks, dazwischen sah sie kurz die schwarz glänzende Fläche des Sees. Sie schaute kaum hin, sie kannte die Kulisse.
Sie saß auf dem Bett, ihr Hund hockte vor ihr und wedelte mit dem Schwanz.
«Was ist denn jetzt schon wieder?»
Wie eine alte Jungfer, dachte sie, spricht mit ihrem Hund. Single und einsam. – Man hatte ihr gesagt, ein Labrador habe Charakter. Die Rasse würde nicht umsonst als Polizei- oder Blindenhund eingesetzt. Von wegen. Oder ihr Busoni war die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Ein aus der Art schlagender, überzüchteter Tölpel. Vielleicht war es auch ein Fehler, dass sie sich für einen jungen Hund entschieden hatte. Aber der Kleine war so süß und knuddelig, dass sie nicht widerstehen konnte. Was hätte sie denn machen sollen? Einen Hund aus dem Tierheim holen? Ein Tier, das schon verdorben war?
Sie riss eine Tüte mit Hundefutter auf, Huhn mit Gemüse, und drückte die glitschigen Brocken in den Fressnapf. Ein penetrant süßlicher Duft verbreitete sich, und sie hielt sich die Nase zu. Das Zeug stank ja wie ein Babyfurz.
Wenigstens fraß der Hund alles leer und leckte den Napf sauber. Danach scharrte er auf dem Teppichboden, drehte sich mehrmals im Kreis und ließ sich nieder.
Wie meistens nutzte sie die anderthalb Stunden vor Mitternacht, um ihre Fanpost zu erledigen. Sie hatte ihren Laptop und die Briefe dabei, und einen Papierkorb gab es auch.
Während das Gerät hochfuhr, begann sie ihre Post zu öffnen. Gratulationen, Musikwünsche, eine Empfehlung: «Weiter so!» Die meisten Briefe waren von Frauen.
«Liebe Frau Wolf, ich heiße Sandra Ackermann und bin ein Fan Ihrer Sendung. Ich schaue immer, aber mein Freund Ralf leider nicht. Dabei könnten wir so viel lernen, weil wir so viele Probleme haben. Gut finde ich auch, dass sie zwischen den Leuten Musik machen. Die Auswahl der Leute finde ich manchmal nicht so gut, weil sie so viel dazwischenreden, aber sonst finde ich alles gut, und ich wäre glücklich, wenn Sie mich auch einmal einladen würden. Ich grüße Sie sehr freundlich, Ihre Sandra Ackermann.»
Sie lud den Musterbrief und setzte Namen und Adresse ein.
«Liebe Sandra! Herzlichen Dank für Ihren Brief. Es freut mich, dass Sie zur ständig wachsenden Schar meiner Zuschauer gehören. Bald einmal sind es jeden Freitag mehrere Millionen, die ‹Blick ins Herz› verfolgen. Doch nicht die hohe Zahl der Zuschauer ist mir wichtig, sondern die wachsende Zustimmung derjenigen, die wie Sie, liebe Sandra Ackermann, unsere Arbeit schätzen. Wir sind überzeugt, dass die Möglichkeit, offen über Partnerschaft und Beziehung zu sprechen und ohne Tabus auch heikle Themen anzugehen, für uns alle immer wichtiger wird. Dies und die Qualität von ‹Blick ins Herz› wird immer Ziel meiner Sendung sein. Mit herzlichen Grüssen, Ihre Dorin Wolf.»
Auf Sandra folgten eine Erika Lehmann, wahrscheinlich eine Schülerin, eine Agnes, eine Frau Fröhlich, die Schwestern Gina und Julia, noch einmal eine Sandra, dann, in einem dunkelroten Umschlag, der Liebesbrief eines bodygestählten Mike Meierhofer. – Das Foto des ölglänzenden Schwarzenegger-Verschnitts in einem leicht verrutschten Tangaslip wurde gleich mitgeliefert. – Er versprach, sie für immer auf Händen zu tragen. Die Kraft dafür schien er ja zu haben. Mit krakeligen Buchstaben versicherte er, dass sie die Frau seiner Träume sei, und verlangte, dass sie ihn anrief, um ein Date auszuhandeln. Sie zerriss Bild und Brief und warf sie in den Abfallbehälter. Schade um das schöne Foto, aber derart eindeutige Angebote beantwortete sie nicht.
In Interviews wurde sie immer wieder gefragt, warum sie nicht in einer festen Beziehung lebe. Meistens ging sie gar nicht darauf ein oder versuchte, einen Witz zu machen. Obwohl ihre Sendung von verwandelten Prinzen lebe, habe sich ihr noch kein Froschkönig empfohlen oder sonst ein Blödsinn, den niemand verstand und der sich nicht verwerten ließ.
Leute wie ihre Eltern, ihr Redakteur warfen ihr deswegen Hochmut vor. Sie werde einmal wirklich einsam und allein sein und einem der Verschmähten nachtrauern. Sorgen hatten die Leute.
Das hieß ja nicht, dass sie kein Sexualleben hatte und ihre Nächte als prüde Jungfer verbrachte. Ihre «one night stands» fanden nicht selten hier im Zug statt. Irgendwo zwischen Innsbruck und St.Pölten. Alleinreisende Männer gab es genug. Die Spielregeln mussten klar sein, und spätestens in St.Pölten hatten ihre Besucher wieder zu verschwinden. Nach dem Akt wurde es in dem schmalen Bett sowieso ungemütlich. Meistens gingen sie nachher noch einmal in den Speisewagen, wo sie sich bei einem Glas Wein voneinander verabschiedeten. Dem Schafwagenschaffner spendierte sie ein Trinkgeld. Manchmal. Um sicher zu sein, dass er den Mund hielt. Aber eigentlich war das ihre Sache. Es ging niemanden etwas an, mit wem sie ihr Abteil teilte, und zur Regel wurde es nicht. Im Gegenteil. Es mussten zu viele Dinge stimmen, und gerade reich gesät waren die Typen nicht, die für sie in Frage kamen.
Mit Busoni im Abteil dürfte sich die Zahl möglicher Kandidaten erneut verringern. Da mochte sich einer noch so gut mit Hunden auskennen, aber die Vorstellung, dass der Hund ihnen zuschauen könnte, fand sie obszön.
Der Zug verlangsamte seine Geschwindigkeit. Er schlich die Lichter einer Baustelle entlang, Männer in gelben Helmen glitten vorbei, ein grell gestreiftes Absperrband wellte auf und nieder, sie hörte das Dröhnen eines Kompressors. Sie befanden sich mittlerweile am oberen Ende des Sees. Die orange beleuchtete Schlossanlage von Rapperswil spiegelte sich im glatten Wasser. Ein vertrautes und schönes Bild, und für den Bruchteil eines Augenblicks flog ihr durch den Kopf, dass sie gern hier lebte.
Busoni japste, zog die Lefzen hoch, die ganze Schnauze zitterte, dann ein kurzes Blinzeln, er schluckte seinen Speichel und schlief weiter.
Sie riss einen weiteren Umschlag auf und zog den Brief heraus, ein billiges Papier, «der Umwelt zuliebe» grau und sperrig.
«Klemmfutz! Willkommen zur letzten Fahrt.»