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GLEIS 12 ZÜRICH HB

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Vor der Tür des doppelstöckigen Schlafwagens stauten sich die Reisenden. Eine hagere Schaffnerin blätterte in Listen, verglich ihre Eintragungen mit den Reservationen der Passagiere und dirigierte sie von einem Wagen zum andern. Irgendwo in der langen Kette vom Bahnschalter bis zur Abfahrt des Zuges war es zu einer Panne gekommen, die Buchungen stimmten nicht mehr mit den Reservationen überein. Die Frau kritzelte neue Nummern auf die Fahrscheine und lächelte, blieb freundlich, obwohl in den Stimmen der Reisenden immer gehässigere Töne mitschwangen.

«Schwendimann. Zwei Erwachsene, ein Kind. Wir haben eine Reservation für ein Viererabteil», drängte ein junger Vater einen Sikh und dessen Frau beiseite, die, vielleicht ein bisschen umständlich, ihre Gepäckstücke in den Schlafwagen schafften.

«Wir haben Anspruch auf ein großes Abteil», sagte er streitsüchtig, und seine abstehenden Ohren glühten. Vielleicht auch nur deshalb, weil das Kleinkind, das in einem rucksackartigen Tragegestell auf seinem Rücken auf und ab hopste, daran herumgezerrt hatte, bis sie ihm wie zwei rote Bügel aus dem Haar stachen. Die Mutter, eine Frau mit eigenartig wirren Haaren (Zipfel standen wie Federbüsche vom Kopf ab und einzelne Strähnen fielen aus dem nachlässig gewundenen Haarkranz), stand daneben und vertrat sich die Beine.

«Wir haben ein Recht darauf, verstehen Sie. Ich habe mir das noch gestern bestätigen lassen. Reserviert haben wir schon vor einem Monat.»

«Das haben wir auch», mischte sich ein kantiger Mann mit einem fleckigen Gesicht ein und versuchte, der Schaffnerin über die Schultern zu schauen. Er hatte eine Frau im Arm, umklammerte ihre Taille und zog und schob sie mit sich herum, als hätte er Angst, sie könnte ihm davonlaufen.

«Bitte, meine Herrschaften, bitte. Ich tue, was ich kann», wehrte sich die Schaffnerin. «Ich kann Ihnen versichern: Es sind genügend Plätze da. Aber ich habe hier nur Ihre neuen Platznummern, für weitere Fragen wenden Sie sich bitte an den Schlafwagenschaffner. Ich habe schließlich auch noch den Liegewagen.»

«Wir wollen eines der Viererabteile. Diese Oberstock- und Unterstockkabinen, glauben Sie vielleicht, wir wüssten nicht, wie eng die sind.»

«Familie Schwendimann? Nun lassen Sie mich doch erst einmal nachschauen! – Na bitte, hier! Sie sind in einem Vierer.»

«Wenn man sich nicht wehrt», sagte der Mann und drehte sich triumphierend nach seiner Frau um.

Mettler stand in der Traube der Reisenden, seinen Koffer zwischen die Beine geklemmt, und wartete, bis die Leute vor ihm abgefertigt wurden. Er fuhr nach Wien. Mit dem Nachtzug.

Seine letzten Stunden in Zürich hatte er damit verbracht, durch die Stadt zu schlendern wie ein Tourist.

Der See war so blau, und die Berge so nah; er schaute allen Frauen nach und freute sich, wie sie durch die Straßen flanierten, als ob sie nichts anderes zu tun hätten, als zu beweisen, wie gut sie die kalten Monate überstanden hatten. Später ließ er sich von einer Schuhverkäuferin viel zu elegante Schuhe aufschwatzen, italienische Slipper, die ihn nun zwickten und drückten.

Mit der Dunkelheit schlich die Kälte in die Stadt zurück, und weil er in seinem Sommerjackett (obwohl er es mit einem dunkelgrünen Wollschal ausstopfte), zu frieren begann, brach er – viel zu früh – zum Bahnhof auf.

Die Halle war renoviert worden. Man hatte das hässliche Kino herausgerissen und stattdessen einen vollbusigen Engel unter die Decke gehängt. Der Industriedom war zwar immer noch düster, aber großzügig, ein Hauch von Großstadt, der ihm gefiel, und er wunderte sich, warum er den Bahnhof nicht schon früher entdeckt hatte. Wahrscheinlich weil er einer Szene nachhing, die ihren Charme längst verloren hatte. Oder hatte ihm seine Trauer den Blick vernebelt und seine Neugier erstickt?

Auf einer mächtigen Leinwand lief eine Frau mit wippenden Brüsten hinter einem Ball her. Ein Mann stoppte das Leder, das Zifferblatt einer Uhr wurde eingeblendet, die Frau strahlte, die beiden umarmten sich, dann lief sie wieder.

Werbung. Aber wofür? Er starrte fasziniert auf die Leinwand, bewunderte die Brillanz der Aufnahmen und verstand doch nichts.

Leicht verwirrt steuerte er die Zeile der Bahnhofsbazare an. Reiseproviant brauchte er keinen, schon gar keinen Alkohol, aber vielleicht war es ja von Vorteil, wenn er sich für die lange Nacht im Zug mit Lesestoff versorgte. Er stöberte im Taschenbuchständer nach einem Krimi. «Mord im Orient­express». Er kannte den Roman. Und den Film. Aber fuhr er nicht in den Orient? War das nicht die ideale Lektüre, um alte Berufswünsche zu beleben? Oder ein für alle Male und endgültig zu begraben?

Neben den Büchern lag die Masse der Blätter und Zeitschriften; Autorevuen und Computermagazine, glanzlackierte Busen, Prominente auf ihren Yachten, Rosenzüchter, Pferdehalter, Fußballer, Weintrinker und mittendrin: der Kopf der Roten.

«Dorin Wolf, die Moderatorin von ‹Blick ins Herz›». Das Titelblatt der «Privat».

«Kann ich Ihre Billette sehen?», erkundigte sich die Schaffnerin, wahrscheinlich um der japanischen Reisegruppe zu entgehen, die sich erwartungsvoll um sie versammelte. Er reichte ihr seine Fahrkarten, sie warf einen kurzen Blick darauf und hakte ihn in ihrer Liste ab. Sie nickte ihm zu, wünschte eine gute Reise, um dann die Japaner zum Eingang des Liegewagens zu lotsen. Bestimmt ein gutes Dutzend fast identischer Rollköfferchen holperten hinter ihr her den Zug entlang.

Vor der Türe drehte sich Mettler noch einmal um und schaute in den Bahnhof. Der Bahnsteig hatte sich mittlerweile geleert. Einzig ein dürrer Riese pendelte vor dem Schlafwagen hin und her. Er telefonierte, hatte dieses Ding am Ohr, das hier alle zu besitzen schienen, und brüllte auf dem Bahnsteig herum.

«Bist g’scheit? Passt scho, wenn’s eh nix wird. Bitte danke. Naa servus. I di aa.»

Aus der Halle bog eine Gruppe lärmender Männer, die wie ein Mückenschwarm um eine stattliche und gut gelaunte Frau tanzten. Die Männer hatten weder Koffer noch Taschen bei sich, nur die Frau schob einen Gepäckwagen vor sich her. Sie schien auf eine weite Reise zu gehen, zumindest ließ dies das Ungetüm ihres Koffers vermuten. Die Männer scharwenzelten um sie herum und überboten sich mit flotten Sprüchen.

Schauspieler, diagnostizierte er. Schauspieler, die eine Kollegin zum Bahnhof bringen, den Stargast aus Wien. Er griff nach seinem Koffer und stieg ein.

Wiener Walzer

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