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Kapitel 2: Das Medizinrad der Heilung (1) Das Medizinrad in traditionellen Kulturen

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Kennengelernt habe ich das Medizinrad bei meinen drei eigenen Visionssuchen als ein sehr nützliches Werkzeug, um die verschiedenen Lebensphasen und die Lebensübergänge dazwischen besser verstehen und einordnen zu können. Das Medizinrad hat aber noch viel mehr zu bieten. Für viele traditionelle Stammesgesellschaften ist es eine Art von geistig-seelischer Ur-Medizin, weil damit das ganze Leben, die Stammeswelt und der Bezug zu den Geistern, Ahnen und Gottheiten dargestellt, ausgedrückt und erklärt werden kann. Das Wissen, das im Medizinrad steckt, konnte den Menschen in Stammeskulturen Sicherheit und Geborgenheit schenken. Insofern ist der Begriff „Medizin“ sehr angebracht. Verbreitet war es zum Beispiel bei den Kelten, bei afrikanischen Gesellschaften und bei vielen Indianerstämmen Nordamerikas. Meine Kenntnisse über das Medizinrad habe ich aus drei Quellen erworben:

 Von dem afrikanischen Lehrer, Schamanen und Männer-Initiator Malidoma Patrice Somé. Bei einem Männerworkshop in Österreich wurden alle 60 Männer in einen der Elementen-Clans eingeteilt, die je einer Himmelsrichtung im afrikanischen Medizinrad Malidomas zugeordnet sind.

 Von Lehrern, die in der amerikanischen Tradition der School of Lost Borders des Ehepaars Steven Foster und Meredith Little ausgebildet waren.11

 Von Herrn Martin Berghammer aus dem Landkreis Dachau, der bei seinen schamanischen Workshops mit dem keltischen Medizinrad arbeitet.12

Während meiner Ausbildung zum Initiations-Mentor wurde mir plötzlich klar, dass das Medizinrad auch ins Christentum Eingang gefunden hat. Unser Adventskranz mit seinen vier Kerzen symbolisierte ursprünglich ein Medizinrad mit den vier Himmelsrichtungen. Beim Medizinrad drücken die vier Richtungen vier Aspekte der Ganzheit und das Allumfassende des menschlichen Lebens aus. Beim Adventskranz sollen die vier Kerzen auf das kosmische Ereignis der Geburt Christi hinweisen, dem alljährlich an Weihnachten gedacht wird.

Zudem entstand der katholische Jahresfestkreis auf der Grundlage eines Medizinrads. Um die christliche Heilsbotschaft jedes Jahr neu ins Gedächtnis der Gläubigen zu rufen und das ganze Jahr damit zu gestalten, wurden die wichtigsten historischen Heilsereignisse um die Person Jesu und um die Mutter Maria auf ein rundes System projiziert. Dafür eignete sich natürlich das zyklische Medizinrad hervorragend, das sich an je vier besonderen Sonnen- und Mondständen orientiert. So wird zum Beispiel der jedes Jahr erheblich variierende Termin für den Ostersonntag, das wichtigste christlichste Fest, nach einer „heidnischen“, vorchristlichen Methode berechnet:

 Man nimmt zunächst die Tag- und Nachtgleiche, meist am 21. März, dem Frühlingsanfang. An diesem Tag fand bei den Kelten das Ostara-Frühlingsfest statt.

 Als nächstes sucht man den ersten Vollmond nach dem Frühlingsbeginn.

 Ostern wird dann am Sonntag nach diesem Mond gefeiert. Manchmal fällt Ostern sehr nahe mit dem ursprünglichen Ostara-Fest zusammen. Nicht zufällig wollte man die Auferstehung Christi mit dem Frühlingsfest an der Tag- und Nachtgleiche vieler schamanischer Kulturen in Verbindung bringen. Denn in beiden Fällen geht es um Auferstehung, um neues Leben und um einen Neubeginn.

Jahreszeiten und Lebensphasen

Doch zurück zum Medizinrad selbst. Wie ist es entstanden und warum lebten viele traditionelle Völker nach solchen Lebensrädern? Dazu meint der österreichische Visionssuche- und Ritualleiter Franz Redl: „Medizinräder der ganzen Welt sind innere und äußere Landkarten des Lebens und des Menschen. Diese Landkarten sind Orientierungen in Bezug auf die äußere Welt, die Natur, aber auch auf die innere Entwicklung, die Individuation des Menschen.“13 Ein Medizinrad dient also einer vielfältigen Grundorientierung. Diese zeigt sich auch in einem Kinderreim, der jedoch nur auf der nördlichen Halbkugel Sinn ergibt:

„Im Osten geht die Sonne auf,

im Süden steigt sie hoch hinauf.

Im Westen wird sie untergehen,

im Norden ist sie nie zu sehen.“

Damit kann man mit dem Medizinrad, das auf einem „Weltbild des Augenscheins“ beruht, einen Tagesablauf abbilden. Der Mond wird dabei im Norden angesetzt. Kinder erleben noch heute die Welt in diesem Sinne.

Man kann aber auch ein ganzes Jahr mit dem Medizinrad erfassen. In diesem Fall wird der Frühling im Osten, der Sommer im Süden, der Herbst im Westen und der Winter im Norden angesetzt. Wie oben bereits erwähnt, wurde der christliche Jahreskreis in ein bereits vorhandenes Medizinrad gelegt und die darin enthaltenen großen Jahresfeste, die sich an besonderen Sonnen- und Mondständen orientierten, wurden als christliche Feste neu gedeutet und uminterpretiert.


Schließlich lässt sich mit dem Medizinrad ein ganzes Menschenleben darstellen. Da viele traditionelle Kulturen davon überzeugt waren, dass eine Seele nach dem Tod in eine Art Geisterwelt eingeht, um nach einer bestimmten Zeit wieder in den Stamm hineingeboren zu werden, wurde dies natürlich im Medizinrad berücksichtigt. Demnach kann man die Geburt eines Kindes im Südosten ansetzen und die Kindheit in den Süden, die Jugendzeit in den Westen, die lange Phase des Erwachsenseins in den Norden und das (hohe) Alter in den Osten legen. Der Tod selbst findet dann im Medizinrad etwas südlich von der Ostmarkierung Platz. So, wie ein neuer Tag im Sinne des Medizinrads immer wieder im Osten beginnt, weil die Sonne im Osten oder Südosten aufgeht, so nimmt auch eine Seele nach dem körperlichen Tod eines Menschen einen Neuanfang in einer weiteren Inkarnation. Die Geburt wird deshalb im Südosten des Medizinrads angesiedelt. Zwischen dem Tod und einer Neugeburt befindet sich eine Leerphase, die man auch als „die dunkle Nacht der Seele“ bezeichnen könnte.

In der nachfolgenden Skizze sind neben den vier Haupt-Lebensphasen des Menschen auch die vier Übergänge „Geburt“, (Beginn der) „Pubertät“, „Erwachsenwerden“ und „Älterwerden“ eingezeichnet. Für viele Menschen fällt dieser letzte Übergang etwa mit der Pensionierung zusammen.


Uraltes psychologisches Modell zur Lebensdeutung

Nun könnte man einwenden, dass ein Weltbild des Augenscheins vor dem Hintergrund unseres heutigen naturwissenschaftlich-technischen Weltbildes vollkommen überholt ist. Wir wissen ja, dass unsere Erde ein kleiner Planet im Sonnensystem, die Sonne nur ein winziger Stern in unserer Galaxie „Milchstraße“ und diese wiederum nur eine von Milliarden von anderen Galaxien in unserem Kosmos ist, der sich zudem immer weiter ausdehnt. Was kann uns dann ein so altes Modell wie das Medizinrad noch nützen?

Sehr viel, meine ich. Denn gerade in unserer modernen Technologie-, Kommunikations- und Mediengesellschaft ist das so bedeutende alte Wissen um Initiation, um Lebensphasen und um die notwendigen Übergänge dazwischen, das im Medizinrad überzeugend abgebildet ist, weitgehend in Vergessenheit geraten. In meinem ersten Band „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“ habe ich ausführlich dargelegt, welch fatale Folgen eintreten können, wenn keine Initiation unserer Jugendlichen stattfindet.14

Wegen fehlender Initiatonsrituale versuchen gerade Jungen bisweilen mit sehr gefährlichen Mutproben wie verrückten Autofahrten, mit S-Bahn-Surfen, mit dem berüchtigten Komasaufen oder mit Schlägereien, die in der Pubertät neu entdeckte Kraft auszudrücken und zu beweisen. Andere verharren jahrelang in einem Zwischenzustand zwischen Jugend und Erwachsensein, selbst wenn sie schon über dreißig Jahre alt sind, hängen in Depressionen und Orientierungslosigkeit und finden einfach nicht den Dreh zu einem eigenständigen und kraftvollen Leben. Hier kann das Medizinrad sehr zur Lebensdeutung beitragen und die Notwendigkeit rechtzeitig durchgeführter und für unsere heutige Gesellschaft passender Übergangsrituale aufzeigen.

Richtig interessant und aktuell aber ist das Medizinrad aus psychologischer Sicht.15 Denn es kann vier elementare Ebenen im Menschen aufzeigen und jeder der vier Richtungen bestimmte menschliche (Wesens)Eigenschaften und einen Archetyp zuordnen, wie in den folgenden beiden Skizzen zu sehen ist. Dabei sind unter Archetypen grundsätzliche und typische Seelenprägungen oder Seelenfiguren im Menschen zu verstehen:

 Im Süden ist der Körper und die körperlich-emotionale Ebene im Menschen anzusetzen. Dazu gehören unsere Triebe und spontanen Gefühle, unsere Sexualität, die kindliche Freude und Unbekümmertheit, die vitale Lebenskraft und die emotionale Fülle. Es geht um Selbstliebe, um Unschuld und Vertrauen. Als archetypische Figur gehören das „innere Kind“ und der „Liebhaber“ mit seiner ungestümen Liebeskraft in uns in den Süden.

 Der Westen steht für die oft sehr widersprüchlichen, meist unbewussten Seelenkräfte und damit für die psychische Ebene im Menschen. Gerade Jugendliche erleben ihre Pubertät häufig als Achterbahnfahrt zwischen gefühlsmäßigen Extremen. Sie müssen nicht selten heftige innere Kämpfe zwischen ihren Licht- und vor allem Schattenseiten ausstehen, die sie erst in den Auseinandersetzungen mit sich selbst besser kennenlernen können. Im Westen geht es um Innenschau und Reflexion, um tieferes Bewusstsein, um Träume und Symbole, um Liebe zum Du. Als Archetyp taucht im Westen der „Krieger“ auf, der für uns die inneren und manchmal auch äußeren Kämpfe ausficht, mit Dämonen, Zauberern und bösen Drachen kämpft und schließlich den Schatz oder den Gral findet oder eine Prinzessin befreit. Viele Märchen und Mythen handeln genau davon. Der Krieger ist die psychische Kraft, die unsere innere Heldenreise durchsteht und uns schließlich ins Erwachsensein führen kann.

 Der Norden enthält Klarheit, Struktur und Übersicht in unserem Denken und Bewusstsein. Hier geht es um unseren Geist (englisch „mind“), um den Verstand, um die Ratio, um Intention und um das Planen. Dazu gehören die Fähigkeit und Bereitschaft, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen, sowie um das Eingebundensein in Familie, Sippe und Volk. Der Norden steht für die lange Phase des Erwachsenseins im Menschen, für seine Schaffenskraft, für seinen Beruf. Es geht um Ausdauer und Nachhaltigkeit, um ein Wir-Gefühl, um Liebe zur Gemeinschaft, um Kommunikation. Der Archetyp des „Königs“ in uns, der zu dieser Phase gehört, handelt mit Umsicht und Würde. Es geht also um die mentale und systemische Ebene.

 Der Osten schließlich steht für die Weisheit und Gelassenheit des Alters. Hier ist die Spiritualität, die Offenheit für das Göttliche, die Verbindung zum „All-Eins“ und zum Welt-Geist (englisch „spirit“) anzusetzen. Es geht um Begeisterung, Intuition und Kreativität und um die Begegnung mit dem Göttlichen, um die Bereitschaft für das Unerwartete, um Liebe zum Größeren, um Gipfelerfahrungen. Für den Menschen offenbart sich jetzt, welchen Sinn sein bisheriges Leben hatte. Im Osten ist die Essenz des Lebens, die reife (Herzens-)Liebe zu allem und zu allen zu finden. Als Archetyp steht der „Magier“ für diese Lebensphase des „hohen“ Alters. Darum kann man dem Osten die spirituelle Ebene zuordnen.



Diese vier Ebenen, sowie die vier Archetypen stecken in jedem Menschen. Sie wollen vier elementare Seiten des menschlichen Wesens bewusst machen und zum Ausdruck bringen. Wir alle tragen von Geburt an diese Ebenen als seelisches Potential in uns. Es handelt sich um vier wesentliche Aspekte des menschlichen Seins. In jeder der vier Grund-Lebensphasen soll eine Seelenfigur ans Licht gebracht und mit all ihren Qualitäten entfaltet werden. Menschliche Entwicklung bedeutet demnach, die vier Seelenseiten zu (er)leben und nacheinander Liebhaber, Krieger, König und Magier zu sein. Andererseits sind alle vier Seelenaspekte natürlich auch immer gleichzeitig und nebeneinander in jeder Lebensphase vorhanden.

Bei diesen eher knappen Bemerkungen zum Medizinrad möchte ich es belassen. Lieber Leser, wenn Sie aber mehr dazu erfahren wollen, lesen Sie bitte Band II von „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“.16 Darin ist dem Medizinrad ein ausführliches Kapitel gewidmet. In dem vorliegenden Buch jedoch soll nun der Fokus auf Heilung und auf das Heilwerden gerichtet werden. Diese Bedeutung klingt ja auch schon in dem Begriff „Medizin“-Rad an.

Heilung – Initiation ins Göttliche

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