Читать книгу Heilung – Initiation ins Göttliche - Peter Maier - Страница 9
(3) Unkonventionelle Heilungswege
ОглавлениеAura-Reading bei einer amerikanischen Geistheilerin
Daher ist es nahe liegend, dass ich im August 1999 bei einer mir vom „Schamanenarzt“ empfohlenen amerikanischen Geistheilerin auftauche, die „Aura-Reading“ anbietet. Ich bin neugierig geworden. Was macht diese Frau, was könnte es mir denn bringen? Seltsamerweise wohnt sie genau in meiner Stadt. So ein „Zufall“. Ich musste aufgrund der großen Nachfrage bei ihr über sechs Monate lang auf diesen Termin warten. Mit etwas Bammel trete ich bei ihr ein. Sie lebt alleine, nur zwei Katzen nehmen regelmäßig an ihren Behandlungen teil, wie sie mir gleich zu Beginn erklärt. Wie sie selbst sagt, sind sie ihre „Helfer“. Der Gegensatz zu den zupackenden Orthopäden könnte nicht größer sein. „Aura-Reading“? Tut dies vielleicht weh? Werde ich dabei psychisch verändert? Oder ist alles nur Scharlatanerie, mit der jemand mit mir gutes Geld verdient? Solche Gedanken gehen mir gerade durch den Kopf.
Die Heilerin hat sich auf mein Kommen vorbereitet und liest von einem Blatt ihre Erkenntnisse ab, die sie über mich bereits am Tag zuvor „gesehen“ hat. Vor dem Hintergrund meiner bayerisch-katholischen Erziehung ist dies alles Humbug und Zauberei. Wie kann es so etwas geben? Wie kann jemand in meine Seele schauen, der mich noch nie gesehen, sondern nur ein halbes Jahr zuvor bei der Terminvereinbarung einmal kurz meine Stimme gehört hat? Vor dem Hintergrund meines bisherigen Glaubens konnte das nur Jesus. Werde ich jetzt vollkommen hinters Licht geführt? Geht es womöglich nur um Geldschneiderei? Die Dame verlangt 100 Mark in der Stunde, lässt ein Tonband mitlaufen.
Eine Stunde lang erzählt sie mir, was meine wahren Probleme seien, was eben meine Aura, das heißt mein Energiefeld, ihr „sage“. Vor allem auf zwei frühere Inkarnationen, also auf Existenzen in früheren Leben, weist sie mich hin. Dort seien schlimme Traumata geschehen. Darum versucht sie anschließend, diese Traumata durch ein sehr eigenartiges Summen-Ritual für mich aufzulösen. Denn in den beiden früheren Inkarnationen seien böse Dinge passiert, die auch mit dem jeweiligen Tod nicht beendet werden konnten, in meiner Seele festgehalten wurden und die daher bis in dieses jetzige Leben hereinwirken, die Körperprobleme und vor allem die chronischen Schmerzen verursachen, sowie eine Heilung verhindern würden. Die Mitteilung ihrer Erkenntnisse und das Heilungsritual dauern etwa eine Stunde lang.
In der folgenden Stunde stelle ich dann Fragen an die Heilerin, die durch ihre Diagnose aufgeworfen wurden und die sie mir zu beantworten versucht. Nach zwei Stunden und um 200 Mark leichter verlasse ich die Frau wieder, eine Tonkassette in der Hand, auf der das ganze Gespräch aufgezeichnet worden ist. Es dauert über sechs Wochen, bis ich auf siebzig (!) großen Seiten die ganze „Session“ von der Kassette heruntergeschrieben habe. Denn ich spüre instinktiv, dass die Heilerin keine Spinnerin ist, sondern dass ihre Erkenntnisse über mich und meine Seele durchaus Sinn machen könnten. Außerdem möchte ich durch das Aufschreiben noch mehr Bewusstsein über diese neuen, von der Heilerin ganz selbstverständlich geäußerten Vorstellungen bekommen – etwa über frühere Inkarnationen, also Vorleben. Schließlich möchte ich vor mir selbst rechtfertigen, warum ich so viel Geld ausgegeben habe. Denn ich kann die Rechnung für diese „Session“, die die Themen „Geistheilung – Aura-Reading – Heilung von Traumata aus früheren Inkarnationen“ zum Inhalt hatte, sicher bei keiner Krankenkasse einreichen.
Zum ersten Mal werde ich mit der Thematik der „Reinkarnation“ konfrontiert. Der Glaube an die Seelenwanderung ist ein Kernstück der großen östlichen Religionen, vor allem des Hinduismus. Auch bei vielen indigenen Völkern gibt es eine Vorstellung von Wiedergeburt der Seelen Verstorbener in die Stammesgesellschaft hinein. Diese Lehren sind mir zumindest prinzipiell und ganz grob vertraut, haben aber nichts mit den gängigen christlichen Vorstellungen gemein, in denen ich sozialisiert wurde. Nein, mit Wiedergeburtsgedanken hatte ich bisher nichts zu tun.
Das Christentum konzentriert sich ausschließlich auf dieses jetzige Leben und geht nur von einer einzigen, nämlich der aktuellen, Inkarnation unserer als unsterblich angenommenen Seele aus. Diese – so die offizielle Lehre – wandere nach dem Tod direkt ins Paradies und zu einer personalen Begegnung mit Gott; oder in das „Fegfeuer“ oder in die Hölle, wie es etwa eine traditionelle, mittelalterlich geprägte katholische Auffassung noch immer vermitteln will.
Da ich auf einer schon fast verzweifelten Suche nach Abhilfe für die Knieschmerzen und mittlerweile auch für die Schmerzen im Rücken bin, lasse ich den Wiedergeburtsgedanken für mich zu, wehre mich geistig nicht mehr dagegen. Wenn zwei große und uralte Religionen wie Hinduismus und Buddhismus ihre ganze Lehre darauf aufbauen, kann so etwas zumindest nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Und es wäre nach meinem Empfinden eine westliche Arroganz zu behaupten, es könne so etwas wie eine Wiedergeburt gar nicht geben.
Dabei hat mich bisher eine solche östliche Lehre im Grunde überhaupt nicht interessiert. In meiner Herkunftsfamilie, die sehr traditionell christlich geprägt ist, hatten Vorstellungen von einer Wiedergeburt absolut keinen Platz. Anscheinend passt auch unsere westliche Schulmedizin genau zu der christlichen Vorstellung von einem einzigen Leben, nämlich dem jetzigen. Wenn man nur ein Leben hat, muss es möglichst schnell eine Lösung geben, falls man krank ist. Diese Lösung ist ausschließlich körperorientiert und soll durch Medikamente und durch Operationen herbeigeführt werden, weil solche Maßnahmen oft einen schnelleren sichtbaren Effekt erzielen können als etwa alternative, sanfte Methoden. Dafür ist keine Zeit, besonders dann nicht, wenn es eben nur dieses eine jetzige Leben gibt.
In meinem Kopf fängt es jedenfalls an zu arbeiten. Das Christentum geht ja – wie die meisten anderen Weltreligionen auch – davon aus, dass wir eine unsterbliche Seele haben. Warum sollte es für diese nur eine einzige Inkarnation geben – dieses jetzige Leben? Und was passiert mit kleinen Babys, die gleich nach der Geburt wieder sterben, bevor sie auch nur einen Tag gelebt haben? Was ist mit Frühgeburten, die gar nicht ins Leben kommen konnten? Fragen über Fragen. Rein rational und im Religionenvergleich sollte die Wiedergeburtslehre, die etwa der Hinduismus propagiert, zumindest eine gleichwertig logische Berechtigung wie die christliche Auffassung haben. Ich sehe dies alles eher pragmatisch: Wenn mir die Geistheilerin in der Sitzung mit ihren Vorstellungen von Reinkarnation helfen konnte, dann soll es mir recht sein, unabhängig davon, was ich selbst wirklich glaube.
Mehr passiert im Herbst 1999 nicht mehr. Eine fühlbare Heilung von Knie und Rücken geschieht nicht. Aber neue geistige Wege haben sich für mich aufgetan. Dies ist notwendig, damit ich offen für die Begegnungen bin, die sich bald darauf ereignen. Denn die Heilerin, die mittlerweile aus meinem Ort weggezogen ist, hat mich noch auf zwei Dinge hingewiesen, die ich in nächster Zukunft tun solle, oder die angeblich passieren würden:
Ich solle mir ein bestimmtes „Aura-Soma-Produkt“ besorgen.
Es würden heilende Menschen auf mich zukommen.
Tatsächlich werden beide Aspekte auf einmal erfüllt: Auf der Suche nach der Aura-Soma-Farbflasche, die mir die Geistheilerin empfohlen hat, gerate ich nach einigen Nachfragen in Apotheken an eine damals etwa 40-jährige Heilpraktikerin. Sie bietet neben einer Aura-Soma-Beratung auch Familienaufstellungen an.
Eine unglaubliche Knieheilung beginnt
Dezember 1999. Weihnachtsbazar in der Pfarrei meines Ortes. Beim Kaffeetrinken komme ich mit einer Frau unerwartet in ein sehr tiefschürfendes Gespräch. Sie erzählt mir, dass sie von dem Todesmarsch von KZ-Häftlingen aus dem KZ Dachau in den letzten Kriegstagen durch ihre Ortschaft geträumt habe. Von der Gemeindeverwaltung ihres Ortes wisse sie bereits, dass dabei 49 Häftlinge während des Durchmarschierens von SS-Leuten brutal erschossen worden seien, weil sie entweder körperlich zu sehr erschöpft waren und auf der Straße zusammenbrachen oder mit letzter Kraft fliehen wollten. Im Traum habe sie diese Menschen schon mehrfach „gesehen“, darum habe sie vor, für die Seelen dieser armen und bestialisch Ermordeten nun ganz alleine ein heilendes und würdigendes Gedenkritual abzuhalten. Sie wisse, dass sie selbst sonst keine innere Ruhe mehr finden würde. Es scheint ihr so, als ob die Seelen dieser Verstorbenen förmlich um solch ein Würdigungsritual schreien würden, um endlich Ruhe finden und in die geistige Welt der Toten hinübergehen zu können.
Dieses Gespräch beschäftigt mich sehr. Denn ich habe seit Monaten den Eindruck, als würden ebenfalls Tote, Verstorbene, vielleicht irgendwelche ungewürdigten Ahnen, aus meinem linken Knie um Hilfe schreien. Ich habe aber keine Ahnung, wer diese sein könnten. Von meiner verstorbenen Großmutter väterlicherseits ist mir die auf dem Land weit verbreitete Vorstellung vertraut, dass Tote „umgehen“ können; dass also die etwas gruseligen oder sogar makaberen Geschichten vom „Gespenst im Schloss Canterville“ durchaus eine reale Grundlage im katholischen Volksglauben haben. Schon als Kinder hatte uns diese Großmutter daher strengstens verboten, abends nach dem sogenannten Gebetläuten bei Einbruch der Dunkelheit noch auf einen Friedhof zu gehen.
Die Begegnung mit der Frau auf dem Bazar ist anscheinend kein Zufall gewesen. Denn für den nächsten Tag habe ich mich schon vor Wochen zu einer sogenannten „Familienaufstellung“ angemeldet, die die oben erwähnte Heilpraktikerin in regelmäßigen Abständen für ihre Klienten anbietet. Hierbei handelt es sich um eine spezielle Methode aus der Familientherapie. Ein Teilnehmer stellt zunächst sein Problem oder Thema, das ihn beschäftigt, im Kreis der anderen Teilnehmer und der Leiterin vor. Dann sucht er sich unter den anderen Teilnehmern sogenannte Stellvertreter für die Mitglieder seiner Familie aus, die er aufstellen möchte. Auf Anraten der Leiterin bittet er anschließend die gewählten Personen, sich im Raum so hinzustellen, wie er seine Familienverhältnisse und die Beziehungen seiner Verwandten untereinander und zu sich selbst empfindet. Dabei werden auch bereits verstorbene Familienmitglieder mit berücksichtigt. Zum Schluss wird auch der „Fallgeber“ selbst durch einen anderen Teilnehmer ersetzt, so dass der Protagonist aufmerksam von außen zuschauen kann. Meist kann man schon als Laie erkennen, wenn etwas nicht stimmt, etwa wenn die Stellvertreter für Vater und Mutter in entgegengesetzte Richtungen blicken oder sehr nahe Familienmitglieder recht weit voneinander entfernt stehen.
Schon am Morgen dieses Familienaufstellungs-Tages bin ich mit meinem Fall an der Reihe. Ich möchte nur zwei Personen hinstellen lassen – meine Mutter und mich selbst. Ohne lange zu überlegen, suche ich zwei Vertreter aus den anwesenden Teilnehmern aus und stelle sie im Raum auf. Nicht nur ich, sondern auch die übrigen Teilnehmer können jetzt sofort erkennen: Die Mutter steht mir sehr nahe – vielleicht sogar zu nahe –, schräg auf meiner linken Seite, keine 20 Zentimeter von mir entfernt. Je nach Blickwinkel könnte man sagen: Sie steht mir oder ich stehe ihr im Weg. Sie blickt in die Ferne, hat anscheinend gar nicht so viel mit mir zu tun. Zu welchen Personen blickt sie denn dann? Die Leiterin gibt den Impuls, dass es sich dabei um bereits verstorbene nahe Verwandte handeln könnte.
Der Mann, der mich vertritt, sagt plötzlich, dass ihm gegenüber drei Tote seien, dass er diese sehr gut spüren könne. Nun wird es ziemlich gruselig für mich. Wer sollten denn diese drei Toten sein? Die Leiterin frägt, ob die Mutter womöglich verstorbene Geschwister hatte. Gibt es vielleicht noch unbekannte Geschwister meiner Mutter, deren Schicksal im Laufe der Zeit in meiner Herkunftsfamilie verdrängt wurde? So verrückt es für mich klingen mag: Kann es sein, dass es vergessene Tote gibt, die aus meinem linken Knie schreien, dass somit sie die eigentliche Ursache für den Dauerschmerz sein könnten? Solche Gedanken beschäftigen mich schon während der Aufstellung, mehr aber noch in den Tagen danach. Sie lassen mir keine Ruhe mehr.
Bereits am Abend des gleichen Tages rufe ich bei meiner Mutter an. Von ihrem 1972 früh verstorbenen Bruder weiß ich noch. Da gibt meine Mutter zu, dass es tatsächlich noch drei weitere Brüder lange vor ihrer Zeit gegeben habe, die schon bald nach der Geburt wieder gestorben seien – so um die Zeit des ersten Weltkriegs herum und kurz danach. Ich schreibe meiner Tante, der viel älteren Schwester meiner Mutter, einen langen Brief und bitte sie, mir so genau wie möglich Auskunft über das Schicksal dieser Brüder zu geben.
Schon nach einigen Tagen erhalte ich einen ausführlichen Antwortbrief von ihr – gestochen geschrieben, exakt recherchiert. Dies erstaunt mich, schließlich ist meine Tante schon 86 Jahre alt. Als Erstgeborene in ihrer Familie kann sie mir sehr genaue Auskünfte über ihre jüngeren Brüder geben. Sie weiß Geburts- und Todesjahre, sowie die Umstände ihres Todes. Dies ist sehr aufschlussreich für mich. Tatsächlich sind zwei ihrer Brüder, die nach ihr noch während des ersten Weltkriegs geboren wurden, schon einige Wochen oder Monate nach ihrer Geburt an damals typischen Kinderkrankheiten wieder gestorben. Für meine Oma, die zu dieser Zeit allein in Nürnberg lebte, war dies jedes Mal ein großer Schock. Der dritte Bruder sei dann bei einem tragischen Unfall – einem Feuer – bald nach Ende des Krieges in dem Dorf ums Leben gekommen, in das meine Großmutter zusammen mit meinem Großvater gleich nach Kriegsende gezogen war.
In den Tagen nach der Familienaufstellung habe ich mehrere Träume von diesen Brüdern meiner Mutter, von denen ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Noch bevor ich die genaueren Informationen von meiner Tante erhalte, träume ich davon, dass zwei dieser Kinder in Nürnberg beerdigt wurden und dass mein Leben blockiert bleibe, wenn ich nicht etwas zu ihrer Würdigung unternähme. Zudem habe ich einen weiteren Traum, der den Feuerunfall des dritten Jungen symbolisiert. Diese Träume nehme ich ernst. Ich erinnere mich an das Gespräch mit der Frau auf dem Weihnachtsbazar am Tag vor der Familienaufstellung. Instinktiv weiß ich jetzt sofort, was ich als Nächstes zu tun habe.
Ich kaufe große weiße Kerzen, sowie rote Wachsplatten und versehe die Kerzen mit den Namen und dem Todesjahr dieser Ahnen, die ja alle Onkel von mir waren, also durchaus nähere Verwandte. Indem ich die Buchstaben aus den Wachsplatten schneide und auf die Kerzen drückte, sowie jeweils ein großes rotes Wachskreuz auf die Kerzen forme – eine fast meditative Beschäftigung –, bekomme ich auch einen ersten inneren Kontakt zu diesen Verstorbenen, deren Schicksal mich immer mehr anrührt. Sie durften nicht leben, sie starben bereits innerhalb ihres ersten Lebensjahres.
Ich suche nach den Pfarrämtern, in deren Sprengel die Friedhöfe liegen, wo die Kinder damals beerdigt wurden. In den dazugehörigen Kirchen bestelle ich jeweils eine katholische Gedenkmesse und bitte die Pfarrer – natürlich gegen eine Spende –, die Verstorbenen, sowie mich als Auftraggeber, in diesen Gottesdiensten ausdrücklich namentlich zu erwähnen. Zudem werden diese Gedenkmessen rechtzeitig in den wöchentlichen Pfarrbriefen dieser Gemeinden schriftlich angekündigt. Bei diesen Gottesdiensten bin ich auch selbst anwesend. Als die Namen der Toten dann tatsächlich genannt werden, kommen mir die Tränen – Tränen der Anteilnahme am tragischen Schicksal dieser Ahnen. Obwohl ich die drei Onkel selbst nie kennengelernt habe, ja obwohl ich von ihrer Existenz erst einige Wochen zuvor zum ersten Mal erfahren habe, muss ich jetzt tief berührt weinen, als ich ihre Namen höre. Ich trauere ernsthaft um sie.
6. Januar 2000, Dreikönigstag. Nach der Gedenkmesse in der benachbarten Pfarrei fahre ich zum Nürnberger Südfriedhof. Laut Auskunft meiner Tante wurden dort in den Jahren 1917 und 1918 zwei ihrer Brüder beerdigt, während ihr Vater, also mein Großvater mütterlicherseits, noch in den Schützengräben von Verdun lag und versuchte, den Krieg zu überleben. Meine Großmutter hauste damals in einer Mietskaserne in Nürnberg. Ich gehe auf den Friedhof und frage Besucher nach Kindergräbern. Ich habe noch keine Ahnung, wo ich die beiden Kerzen hinstellen könnte. Dann aber geht alles sehr schnell.
Eine Frau zeigt mir die Richtung zu einem alten Friedhofsbereich mit aufgelassenen Kindergräbern.
Sofort spüre ich, dass meine Onkel vor über 80 Jahren dort beerdigt worden sein könnten. Ich finde ein noch intaktes Kindergrab mit zwei kleinen Büschen auf beiden Seiten und einem einfachen Holzkreuz in der Mitte. Der Name ist nicht mehr zu entziffern. Zu beiden Büschen am Grabende stelle ich je eine der Kerzen hin - windgeschützt in mitgebrachten hohen Gläsern. Die Namen aus rotem Wachs sind gut lesbar. Es wird wohl etwa drei volle Tage und Nächte dauern, bis die Kerzen vollständig niedergebrannt sein werden. Denn ganz innen weiß ich, dass genau dies notwendig ist. Wer wird „meine“ Kerzen und damit symbolisch meine Ahnen hüten? Ich wohne ja 180 Kilometer entfernt. Ein freundliches Ehepaar in der Nähe, die auch ein Kind verloren haben, bieten sich spontan an, die „Kerzenwache“ zu halten. Instinktiv haben sie mein Anliegen und meine Situation erfasst: Nämlich dass ich von weit herkomme und nur heute auf Besuch da sein kann, jedoch ein wichtiges Anliegen habe.
In diesem Moment überkommt es mich heftig und ich muss an dem von mir neu definierten Kindergrab hemmungslos weinen – im Beisein dieses mir völlig unbekannten Ehepaars. Es ist eine sehr berührende Situation, ein magischer Augenblick, in dem die Zeit stehen zu bleiben scheint. In meinem Familiensystem kann jetzt durch mich gerade etwas ins Fließen kommen und geheilt werden, was über 80 Jahre lang blockiert war. Ich habe aber gar nicht das Gefühl, dass ich dabei der aktiv Handelnde bin. Vielmehr geschieht etwas durch mich, das mir in diesem Augenblick völlig logisch, längst überfällig und konsequent erscheint, das ich weder verhindern, noch beeinflussen, noch beschleunigen kann, selbst wenn ich es wollte. Es geschieht völlig von alleine, alles scheint eine eigene innere Logik zu haben.
Ich komme mir wie ein Werkzeug des Universums vor, das nun gerade gebraucht wird, damit etwas längst Überfälliges, Notwendiges, Tiefes und Heilendes endlich stattfinden kann: eine echte, ehrliche Trauer um zwei kleine Kinder, um zwei meiner Onkel. Und um eine nachträgliche würdevollere Bestattung. Mein Herz ist sperrangelweit offen wie selten zuvor und ich schließe diese Ahnen tief in mein Herz. Ab jetzt gehören sie für immer zu mir. Dies spüre ich in dieser Situation sehr tief und plötzlich weiß ich, dass ich selbst der am meisten Beschenkte dieses ganzen äußerst berührenden Geschehens bin. Ich empfinde es als große Gnade und als Ehre, diese „Trauerarbeit“ machen zu dürfen. Und ich fühle mich dabei geführt von höheren Kräften...
Von meiner Tante habe ich kurz vorher erfahren, dass meine Großmutter durch den Tod gleich zweier ihrer Söhne während des Krieges so geschockt war und so krank wurde, dass sie damals überhaupt nicht trauern konnte. Sie konnte nicht einmal an der Beerdigung teilnehmen. Als mein Großvater 1918 aus dem Krieg heim kam, zog er bald darauf mit meiner Großmutter weg aufs Land. Die beiden Kindergräber gerieten dann schnell in Vergessenheit. Nun aber, am Fest der Heiligen Drei Könige 2000, scheint es mir so, als ob gerade in diesem Augenblick etwas zum Abschluss und zur Ruhe kommen könne; und als ob sich in mir, in meinem linken Knie, eine Blockade lösen würde.
Das freundliche Ehepaar, das in gebührendem Abstand gewartet hat, kommt jetzt auf mich zu und beide versichern mir, dass sie die Kerzen so lange wieder anzünden und hüten würden, bis sie völlig heruntergebrannt seien. Voll Dankbarkeit überreiche ich ihnen eine mitgebrachte Flasche Wein und verabschiede mich danach von ihnen und von dem Grab meiner Onkel. Noch einmal verneige ich mich tief ergriffen und zugleich voll Dankbarkeit vor dem Grab mit den beiden großen Kerzen, die jetzt – an einem grauen Wintertag – in tiefem Frieden vor sich hinbrennen. Ich habe selten eine solch berührende und magische Situation erlebt, die mir so unter die Haut ging. Und ich weiß, dass heute etwas Grundsätzliches in meinem Familiensystem geheilt worden ist.
Zwei Wochen später habe ich für den dritten Onkel, der ebenfalls bald nach seiner Geburt 1921 durch den bereits erwähnten tragischen Feuerunfall ums Leben kam, eine weitere Messe in einer kleinen dörflichen Filialkirche bestellt, wo meine Großeltern nach ihrem Wegzug aus Nürnberg gewohnt hatten. Da nur etwa zwanzig Personen anwesend sind, kann ich am Ende des Gottesdienstes das Wort ergreifen und kurz über das Schicksal dieses Verwandten und auch der beiden Nürnberger Kinder berichten. Einige alte Kirchenbesucher können sich noch persönlich an meine Großeltern erinnern. Hier stelle ich eine entsprechend vorbereitete Kerze in der Kirche auf und lege eine kurze würdigende Fallbeschreibung aller drei Toten dazu. Die Mesnerin erzählt mir eine Woche später, dass mehr als zwanzig Leute bei ihr um eine Kopie dieses Zettels gebeten hätten und dass sie bereits viele Gespräche mit Kirchenbesuchern über das Schicksal meiner Verwandten geführt habe. Auch dieser Gottesdienst hat mich wieder sehr ergriffen.
Etwa eine Woche nach dieser zweiten Gedenkmesse geschieht etwas Seltsames, ja etwas Unglaubliches: Ich vergesse irgendwann, Quark zu kaufen und ihn auf mein schmerzendes linkes Knie zu legen. Es hat – zunächst eher unmerklich – aufgehört zu rumoren. Der Druck aus dem Knie ist weg. Ich kann auch ohne Quark wieder einschlafen. Zunächst fällt mir dies gar nicht auf. Nach etwa drei Wochen kann ich feststellen, ja ich muss es mir eingestehen, dass ich keine Knieschmerzen mehr habe. Unglaublich! Ich will dies zunächst gar nicht wahrhaben, zu sehr bin ich an den Dauerschmerz gewöhnt gewesen. Natürlich fühle ich mich im linken Knie noch immer sehr unsicher, eine leichte Verkanntung, ein falscher Tritt, ein kleines Stolpern und schon tut das Knie wieder weh. Aber der Schmerz geht auch in diesen Fällen nach etwa ein oder zwei Tagen jedes Mal wieder weg. Anscheinend muss ich erst einmal die Schmerzvorstellung aus meinen Gedanken, aus meinem Kopf, herausbekommen, der so an den Schmerz gewöhnt war, dass er sich ein Leben ohne Schmerzen gar nicht mehr vorstellen konnte. Fast vier Jahre Dauerschmerz, Tag und Nacht!
Deutung der Knieschmerzen – Rückblick
An dieser Stelle möchte ich festhalten und bekennen: Die Ahnenarbeit war in meinem Fall die Lösung der heftigen und aussichtslosen Knieprobleme. Was die besten Orthopäden, Sportmediziner und Operateure Münchens nicht vermochten, wurde danach auf den Friedhöfen und in den Kirchen Nürnbergs und in einem ostbayerischen Dorf gelöst. Im Nachhinein gesehen, erschien es mir genau so: Die ungelösten Familienangelegenheiten meines Herkunftssystems, die unbetrauerten toten Brüder meiner Mutter und die furchtbaren Umstände, unter denen sie damals gestorben und beerdigt worden waren, hatten mich jahrelang aus meinem linken Knie angeschrien.
Nun begann ich auch, die Philosophie von Luise Hay bezüglich des Schmerzes besser zu verstehen: Chronische Schmerzen stellen eine Energieblockade dar und sind oftmals Ausdruck einer Schuld, die deshalb nach Strafe verlangt. Die Schmerzen sind die Strafe. Dabei ist es unwichtig, auf welcher Ebene die Schuld vorliegt. In meinem Fall handelte es sich nicht um eine verdrängte persönliche Schuld, sondern um eine familiensystemische Schuld, die sich dann in mir als einem nachfolgenden Familienmitglied stellvertretend niedergeschlagen hatte. Die Schuld bestand darin, dass Verstorbene nicht genügend gewürdigt, ihr Schicksal verdrängt und die Personen vergessen worden waren.
Die Münchner Ärzte konnten mir deshalb mit ihrem rein schulmedizinischen Wissen nicht helfen, weil eine nur körperliche Ebene die falsche „Plattform“ für eine Heilung war. Die Ursachen lagen in meinem Herkunfts-Familiensystem, nicht im Knie selbst. Mein Knie war jedoch die ganze Zeit ein Indikator, ein Wegweiser dafür, auf einer ganz anderen Ebene als der rein körperlichen nach den wahren Ursachen zu suchen. Jetzt konnte ich es so deuten: Das ungelöste Ahnen-Familien-Problem hatte sich auf der Körperebene eines ihrer Nachfahren niedergeschlagen. Es hatte also die ganze Zeit eine Symptomverschiebung von familiensystemischen Problemen auf die Körperebene eines Familienmitglieds, genauer gesagt auf einen meiner Körperteile, gegeben. So habe ich es zumindest erlebt, so war es für mich.
Zudem bekam ich eine andere Vorstellung vom Schmerz. Ich deutete ihn im Nachhinein als Energieblockade. Und die ungewürdigten und vergessenen Toten in meiner Herkunftsfamilie stellten die Blockade dar. Als diese Ursache durch die heilenden Rituale beseitigt war, konnte der Druck und damit der Schmerz aus den Knien weichen.
Aber damit diese Lösung überhaupt möglich wurde, musste erst ich selbst meine innere Einstellung, ja mein ganzes bis dahin existierendes Weltbild, ändern. Dies war ein Jahre dauernder Prozess. Die Schmerzen zwangen mich dazu, woanders hinzuschauen und meine mechanistische, rein auf das Körperliche bezogene Weltanschauung zu verändern. Ich war eben über 40 Jahre lang ein „Kind“ unserer naturwissenschaftlich und rein technisch ausgerichteten westlichen Denkweise und Lebenseinstellung gewesen. Damit teilte ich die Weltsicht der großen Mehrheit unserer Gesellschaft.
Im Nachhinein gesehen und aufgrund der oben beschriebenen Erfahrungen und Erlebnisse erschien mir jetzt diese gängige, noch immer weit verbreitete Weltanschauung und Lebenseinstellung als sehr einseitig, ignorant und irgendwie sogar als arrogant. Ich selbst hatte über lange Zeit alle alternativen Heilungsmethoden gegenüber der Schulmedizin pauschal als Humbug, als Irreführung, als Geldschneiderei abgetan. Nur durch den langjährigen Schmerz wurde ich weich gekocht und demütiger und unmerklich immer mehr auf eine andere Schiene gesetzt. Schon lange ging es mir nicht mehr darum, wieder so sportlich zu werden, wie vor der ersten Knieoperation. Ich fand es jetzt vielmehr als äußerst befreiend, nachdem mich die Orthopäden in München bereits aufgegeben hatten, dass die Knieschmerzen endlich wieder nachließen und schließlich komplett verschwanden.
Der Druck in den Knien war nun weg, weil der Druck in meinem Ahnensystem weggegangen war. Meine Tränen auf dem Nürnberger Südfriedhof für meine verstorbenen Ahnen hatten viel von diesem Druck weggenommen und etwas Grundsätzliches in meinem Familiensystem geheilt. Dadurch wurde ich geheilt, denn erst dadurch konnten dann die Knie „nachziehen“, die offensichtlich nur Indikatoren für etwas ganz Anderes waren. Sie wurden Anfang Februar 2000 schmerzfrei. Dafür bin ich zutiefst dankbar. An sportliche Aktivitäten konnte ich jedoch nicht einmal denken, dies wäre ohne Schmerzauslösung noch immer unmöglich gewesen. So gesehen blieben meine Knie weiter blockiert. Eine andere Blockade aber hatte sich ein für alle mal gelöst: ich war offener für mein Familiensystem geworden, ja ich konnte nun meine letztlich egozentrische, nur auf Sport bezogene Lebensweise immer mehr verlassen.