Читать книгу Der 7. Himmel hat ein Loch - Peter Rogenzon - Страница 6
Die Ohnmacht
ОглавлениеSie war ein intelligentes Biest. Das ist eigentlich alles, was man von ihr wissen muss, um die folgende Geschichte zu verstehen.
Ihr Vater war ein höherer Beamter und hatte nebenbei noch einen wichtigen Posten in seinem Corps, dem er seit seiner Studentenzeit angehörte. Er erzog seine Tochter Petra zur Achtung der Ehrbegriffe, die er selbst von seinen Vorfahren übernommen hatte. Dazu gehörte auch eine doppelbödige Moral, nämlich die These, dass junge Männer sich erst einmal so richtig „die Hörner abstoßen“ müssen, bevor sie „im Hafen der Ehe landen“, während anständige junge Mädchen auf ihren künftigen Mann zu warten haben, um es einmal so auszudrücken. Selbstverständlich führte der Vater seine Tochter in seine Studentenverbindung ein, denn sie sollte dort ja einen brauchbaren jungen Mann finden oder besser gesagt „eine gute Partie machen“. Auf diese Weise wurde Petra, die sich kurz Pet (d.h. Liebling) nannte, eine Corpsdame. Ihre Freundinnen, die mit solchen Bräuchen nichts am Hut hatten, neckten sie mit der Anrede „Zorpsfrau“ und bemitleideten sie zutiefst, wenn sie mit irgendeinem ihr zugeteilten Studenten auf einen Ball gehen musste. Pet mochte keinen einzigen von ihnen, doch nahm sie weiterhin — wenn auch gelangweilt — am Corpsleben teil, zum einen, weil sie sonst Streit mit ihrem Vater gehabt hätte, zum anderen, weil sie insgeheim hoffte, dass sich eines Tages die Tür öffnen und der Mann ihrer Träume im Ballsaal erscheinen würde. Doch daraus wurde nichts.
Pet studierte nach ihrem Abitur Medizin. Plötzlich passierte das, worauf sie in ihrem Dasein als Corpsdame vergeblich gewartet hatte: Sie verliebte sich in einen Kommilitonen. Und wie es so geht in der Liebe: eines Tages kam der junge Mann mit einem Ansinnen, das sie schelmisch lächelnd mit den Worten beantwortete:
„Rainer, Rainer, was hast du für unreine Gedanken!“
Sie sagte dem jungen Mann, dass an diesem Abend leider aus einer Liebesnacht nichts werden könnte aus Gründen, „na du weißt schon, warum“; aber am Sonntag wollten sie die Liebe in vollen Zügen genießen.
Diese Frist brauchte Pet, um sich das notwendige Wissen über Frauenleiden anzueignen und einen Gynäkologen aufzusuchen. Sie schilderte ihm — frei erfunden — scheußliche Beschwerden, die eine eingehende Untersuchung notwendig machten. Pet verlangte und bekam von dem Frauenarzt ein Attest, in dem ihr bescheinigt wurde, dass sie bis zur Untersuchung „Virgo intacta“ (Jungfrau) war.
Jetzt konnte sie sich beruhigt der Liebesnacht mit Rainer widmen. Mehr wurde nicht aus dieser Beziehung, denn Pet war intelligent und zielstrebig — auch im Studium, während ihr Rainer genau entgegengesetzt veranlagt war: ein Bohemien, für den das Studentenleben — wie er zu sagen pflegte — die schönste Sache der Welt war. Damit hatte er sicherlich nicht ganz unrecht, wenn man wie er von seinem Vater jeden Monat einen üppigen Wechsel bekam, für den er nichts zu tun brauchte. Pet aber konnte einfach nicht mit einem Mann beisammen bleiben, der sich mangels Ehrgeizes in ihren Augen schon auf der Verliererstraße befand. Als er dann, wie voraus zu sehen war, bei den ersten kleinen Zwischenprüfungen, die Pet locker absolvierte, Probleme hatte, kühlte sich das einstmals heiße Liebesverhältnis der beiden rapide ab. Pet zog es vor, im Folgesemester in einer anderen Stadt zu studieren.
Dort besann sie sich nun wieder auf ihre „Jagdgründe“ im Corps. Nachdem sie mit der Leidenschaft Schiffbruch erlitten hatte, setzte sie nun auf ihre Vernunft. Sie fand einen jungen Mann, in den sie sich zwar nicht gerade bis über beiden Ohren verliebte, aber dem sie doch zugetan war. Ihr Vater redete ihr zu, diesen Mann zu heiraten, weil er Charakter besitze und ein gutes Examen abgelegt habe, welches glänzende Berufsaussichten verspreche. Nach ihrem 25. Geburtstag spürte Pet auf einmal das Ticken ihrer biologischen Uhr, d. h.: sie fühlte sich reif für die Ehe. Mit anderen Worten: sie hatte Angst, keine bessere Heiratsgelegenheit zu finden. Dass die Leidenschaft in dieser Beziehung nicht so war wie früher, schrieb sie der Tatsache zu, dass die Liebe ja nun nichts Neues mehr für sie war.
Vor der Hochzeit flüsterte sie ihrem Bräutigam ins Ohr, dass sie noch nie etwas mit einem Mann gehabt habe. Sie erwähnte auch das Attest und zeigte es ihrem Bräutigam. Der aber warf es, ohne es zu lesen, mit einer theatralischen Geste in den Ofen und sagte:
„Ach Herzi, ich glaube dir doch auch so!“
Eigentlich hatte sie sich immer gegen den scheußlichen Kosenamen „Herzi“ gewehrt, aber in diesem Zusammenhang hörte er sich gar nicht mehr so übel an.
Und noch etwas ereignete sich vor der Trauung: Pet traf zufällig bei einem Stadtbummel ihren früheren Geliebten wieder und erzählte ihm von der bevorstehenden Hochzeit.
„Oh, da müssen wir aber deinen Junggesellinnenabschied feiern“, schlug Rainer vor, und ehe sich Pet versah, saß sie bei Rainer in dessen Studentenbude bei einer Tasse Kaffee. Die beiden plauderten über ihre Fortschritte, die sie im Studium gemacht hatten. Als Rainer einmal Kaffee nach schenkte, saß er plötzlich neben Pet und bat um einen kleinen Abschiedskuss. Pet gestattete es mit den Worten:
„...aber nur einen kleinen!“
Es wurde dann doch mehr daraus, denn Pet war ein Typ, der schlecht „nein“ sagen konnte — sie litt, wie Emanzen von heute zu sagen pflegen, an einem „Nettigkeitssyndrom“:
„Warum nicht?“ fragte sie sich. „Schließlich haben wir es ja schon oft genug getan.“ Und so taten sie es — und zwar mit der derselben Leidenschaft wie früher.
Pet beruhigte sich danach innerlich damit, dass sie ja schließlich noch nicht verheiratet sei.
Nicht lange nach der Hochzeit war Pet schwanger und spazierte mit ihrem Mann durch den Stadtpark. Völlig unerwartet sah sie ihren früheren Liebhaber entgegen kommen. Diese Begegnung traf Pet wie ein Donnerschlag: Sie fiel in Ohnmacht, was wohl in erster Linie auf ihren durch die Schwangerschaft beeinträchtigten Kreislauf zurückzuführen war. Ihr Mann bemühte sich rührend um sie und auch ihr früherer Liebhaber unterstützte ihn dabei, bis sie die Augen aufschlug und „Ach, Rainer!“ seufzte. Als sie sich ein bisschen erholt hatte, entfernte sich ihr einstiger Freund wieder, und sie ging mit ihrem Ehemann weiter. Er stützte und umsorgte sie rührend und bestand darauf, dass sie einen Arzt aufsuchte, obwohl sie meinte, es sei gar nicht so schlimm gewesen; sie bräuchte nur zu Hause etwas Ruhe.
„Nein!“ widersprach er: „Es ist auch mein Kind, das du erwartest. Da mache ich mir schon große Sorgen, wenn du ohnmächtig wirst und mich plötzlich gar nicht mehr kennst, sondern mit ‚Rainer‘ ansprichst.“
So kam Pet in ihren jungen Jahren schon zu einem zweiten völlig überflüssigen Arztbesuch, aber dabei wird es wohl nicht bleiben, denn schließlich ist sie ja eine Frau.
Pet brachte einen gesunden Knaben zur Welt. Ihr Mann kam ans Wochenbett mit einer — wie er fand — tollen Idee:
„Wir nennen unseren Sohn Rainer, weil ich nach deiner Ohnmacht damals dachte, du hättest vielleicht unbewusst unser Ungeborenes angesprochen.“
Pet protestierte zwar und meinte, sie wolle an das damalige Vorkommnis nicht erinnert werden, doch ihr Mann setzte sich durch, denn Pet konnte — wie gesagt — schlecht „nein“ sagen.
Als Pets Schwiegermutter das Kind erstmals sah, meinte sie wenig taktvoll, wie Schwiegermütter nun einmal sein können:
„Das lass ich mir nicht nehmen: Euren Rainer haben sie in der Klinik verwechselt. Der hat überhaupt keine Familienähnlichkeit!“
Pet beruhigte sie mit der Feststellung, sie habe das Kind bei der Geburt gesehen und erkenne es zweifelsfrei wieder. Aber die Schwiegermutter war damit nicht zufrieden, sondern erwiderte:
„Ich weiß nicht recht, ob du damals deine Sinne ganz beisammen hattest!“
Der Schwiegervater fand den Auftritt seiner Frau etwas peinlich und beruhigte die Lage, indem er über Beobachtungen sprach, die er schon des öfteren gemacht habe:
„Manchmal überspringt die Ähnlichkeit eine Generation und ein Kind sieht mehr den Großeltern oder einer Tante ähnlich. Denk an Kathrin, die doch heruntergerissen ihrer Patentante gleicht.“
Als das Kind älter wurde, schaute Pet es immer wieder forschend an: Sah es nun ihrem Mann oder Rainer ähnlich? Sie wollte es nicht wissen.
Etliche Jahre später gab es noch einmal eine kritische Situation für Pet: Der kleine Rainer war mit dem Fahrrad verunglückt und kam ins Krankenhaus. Dabei wurde seine Blutgruppe festgestellt. Rainer, der sich in diesem Alter für alles interessierte, hatte gerade in der Schule etwas über das Blut gelernt und wollte sein Wissen gleich anwenden. Als er wieder zu Hause war, fragte er seine Eltern, ob sie Gesundheitspässe hätten, in denen die Blutgruppe enthalten sei.
„Ja“, sagte Pet, „wir haben noch von früher her Blutspendeausweise. Wart', ich hole sie.“
Pet kam mit leeren Händen zurück und verkündete künstlich enttäuscht: „Also, ich kann die Ausweise nicht finden.“
Ihr Mann meinte:
Herzi, du hast deine Brille nicht dabei gehabt. Ich schaue selbst noch einmal nach.“
„Da kannst du lange schauen!“ dachte Pet bei sich, denn sie hatte die Ausweise in der Toilette hinunter gespült.
So blieb die Abstammung Rainers ungeklärt und Pet war damit zufrieden, übrigens auch mit ihrer Ehe, die sie nun als glückliche Fügung des Schicksals empfand, was sie daraus folgerte, dass sie immer seltener an ihren „Verflossenen“ dachte. Und wenn ihr Mann sie mit „Herzi“ anredete, war sie jetzt stolz auf diesen Kosenamen, denn sie meinte, dass alle Leute dieses Wort als öffentliches Liebesgeständnis ihres Mannes verstehen würden.