Читать книгу Der 7. Himmel hat ein Loch - Peter Rogenzon - Страница 9
Navigare nesesse est (Seefahrt tut not)
ОглавлениеDie ersten Worte im Stammbuch der Familie Rebenberg lauteten: „Ein rotes ‚Hüadei‘...“ Wie wohl jeder Leser unschwer erkennen kann, ist der Text von einem Bayern verfasst. Gleichsam als Knalleffekt thront ein roter Hut am Anfang der Familiengeschichte. Was dort weiter in der Rubrik „Wie wir uns kennen lernten“ eingetragen wurde, ist im Stammbuch aus Platzgründen etwas kurz geraten und liest sich außerdem auch etwas nüchtern, denn es wurde von einem Juristen verfasst. Es ist also kein geeigneter Lesestoff, in dem das ganze Drama einer Liebesgeschichte, die keine war, zum Ausdruck käme.
Beginnen wir also noch einmal ganz von vorne: Evelyn Hansen war 24 Jahre alt und noch ledig. Der Leser vermutet richtig, dass er einen Problemfall vor sich hat. Sie war in Panik, weil ihre beste Freundin gerade geheiratet hatte. Die Freundin hatte eine Seereise unternommen und sich dabei einen Millionär geangelt; sie berichtete begeistert von diesem Urlaub, auf dem sie x Gelegenheiten zum Heiraten gehabt hätte, lauter gute Partien.
„Seefahrt tut not“, sagte sie scherzhaft.
Dieser Satz fraß sich in Evelyns Hirn fest. Sie überschlug im Kopf ihre gesamten Ersparnisse: Gut, dass sie schon angefangen hatte, eine kleine Rücklage für die Aussteuer zu bilden. Aber was nützt eine solche Rücklage, wenn man keinen Mann zum Heiraten hat? Ja, sie hatte noch nicht einmal einen Freund gehabt. So entschloss sie sich, die Ersparnisse zu verwenden, um die gleiche Kreuzfahrt zu unternehmen wie ihre Freundin.
Im entgegengesetzten Teil Deutschlands lebte ein junger Mann, der, wie Sie als aufmerksamer Leser natürlich schon wissen, Rebenberg hieß. Er hatte gerade seine sichere Anstellung als Beamter im höheren Staatsdienst erreicht. Kein Wunder, dass er nun nach den hinter ihm liegenden Strapazen der Ausbildung und des Examens einen schönen Urlaub plante. Da bot es sich an, dem Tipp eines Freundes zu folgen. Dieser hatte nämlich gerade auch auf einer Kreuzfahrt die Frau fürs Leben gefunden und schwärmte von seinen tollen Urlaubserlebnissen:
„Weißt du, bisher habe ich mich immer gefragt, wo sie sind: die tollen Weiber. Da findest du sie haufenweise: reich und schön. Wer arm geboren wird, kann nichts dafür, aber wer arm heiratet, ist selber schuld. Ich kann dir nur einen Rat geben: ‚Navigare necesse est‘, wie schon die alten Römer sagten.“
Warum eigentlich nicht, sagte sich unser junger Mann, und so war er schon einen Monat später im Hamburger Hafen, um sich auf demselben Schiff wie Evelyn „einzuchecken“, wie man heute zu sagen pflegt. Als er unten vom Schalter aus das riesige Kreuzfahrtschiff bestaunte, das ihm wie eine schwimmende Stadt vorkam, stach ihm auf dem obersten Deck ein roter Hut ins Auge, der von zarter Hand auf einem strohblonden Haarschopf gehalten wurde, damit er nicht im Seewind davonflog. Er sah von dieser Frau nur den Kopf, und den auch nur von hinten, denn der Rest des Körpers war von der mit Stoff bespannten Reling verdeckt. Trotzdem faszinierte ihn dieses Bild und er „notierte“ in seinen Gedanken schon einmal diese Frau als eine der Kandidatinnen, die er näher ins Auge fassen wollte.
Nachdem Hermann Rebenberg das Schiff einer eingehenden Inspektion unterzogen hatte, kamen die Frauen an die Reihe: Beim abendlichen Tanz, bei welchem die Damen ihre Vorzüge bestens zur Geltung brachten, war er geradezu überwältigt von dem „Angebot“. So war die Frau mit dem roten Hut schnell wieder vergessen. Gegen Mitternacht hatte Rebenberg bereits eine grobe Vorauswahl getroffen, und schließlich gegen zwei Uhr nachts blieben zwei junge Damen übrig, die er am nächsten Tag näher ins Auge fassen wollte. Die beiden waren so verschieden wie Grace Kelly und Jane Mansfield. Obwohl die beiden Damen diesen Schauspielerinnen überhaupt nicht ähnlich sahen, fühlte sich unser junger Mann doch irgendwie an diese großen Stars erinnert, denn die eine war auch eine sehr schlanke, kühle Blondine, während die andere — eine dunkle Brünette — durch ihre wohlgeformten Rundungen die Blicke auf sich lenkte. Unser junger Mann war fasziniert und glaubte, eine einmalige Chance vor sich zu haben: Eine der beiden musste er unbedingt heiraten, nur welche? Wie es das Unglück wollte, hatte er bei beiden gute Chancen, so dass er nicht das Schicksal darüber entscheiden lassen konnte, mit welcher dieser Frauen er einmal das Leben teilen würde. Also verhielt er sich in der folgenden Zeit beiden Damen gegenüber freundlich-aufgeschlossen und wahrte durch eifriges Besuchen der Tanzveranstaltungen seine Chancen bei ihnen, denn er achtete genau darauf, dass er keine bevorzugte. Konkurrenten hatte er jedenfalls nach seiner Einschätzung nicht. Nacht für Nacht wälzte er sich in seinem einsamen Bett, um in Ruhe überlegen: Die Brünette war temperamentvoll und lustig. Sie stammte wie er aus Bayern und so fühlte er sich bei ihr auch hier auf hoher See ein bisschen wie zu Hause, denn sie sprachen dieselbe Sprache, und sie konnten über dasselbe lachen und zwar ausgiebig. Irgendwie machte sie auch den Eindruck, als ob sie sinnlichen Freuden gegenüber aufgeschlossen war und es insofern nur des kleinsten Anstoßes bedurft hätte. Das waren die Pluspunkte von Dorothea, so hieß die junge Dame. Sollte er es als Zeichen des Schicksals betrachten, dass er Hermann hieß? Ihm fiel das klassische Schauspiel „Hermann und Dorothea“ ein, doch hatte er keine Ahnung von der Handlung des Stücks: Es konnte sich vielleicht ja um eine Tragödie handeln, die sich zwischen den Titelfiguren abgespielt hatte, so ähnlich wie „Romeo und Julia“.
Also wandte er sich in Gedanken wieder der anderen zu: Evelyn war eine kühle Blondine aus dem äußersten Norden des Landes. Ihre Reize waren von ganz anderer Art: Ihre zierliche Figur weckte in ihm seinen männlichen Beschützerinstinkt; ihre etwas scheue Wesensart beschäftigte sein Gehirn mit der Frage, wie sie wohl zu erobern sei.
So wälzte er sich unruhig fast jede Nacht in seinem Bett hin und her und dachte über die schwere Entscheidung nach, die er vor Beendigung der Reise treffen wollte. Er gewöhnte sich an, an Dorothea zu denken, wenn er auf der linken Seite lag, und Evelyn widmete er die andere Seite. Er versuchte die Stunden der verschiedenen Lagen zu zählen, um daraus vielleicht einen Schluss zu ziehen, welcher Frau er mehr Gedanken zu wandte: leider vergeblich. Schließlich betete er als guter Katholik:
„Lieber Gott, schick mir ein Zeichen!“
Aber es schien fast so, als ob Gott mit solchen Angelegenheiten nichts zu tun haben wollte.
Als nun der letzte Tag der Kreuzfahrt anbrach, wusste Hermann immer noch nicht mehr als: heut’ oder nie! Er stand schon früh auf, um zum letzten Mal die frische Seeluft zu genießen: Da sah er Dorothea, die sich alle Mühe gab, sinnlich verlockend auszusehen, denn auch sie spürte, dass nun eine Entscheidung bevorstand: Würde man sich wiedersehen? Hermann dachte im ersten Moment: Das ist der Wink, auf den ich gewartet habe: wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Er ging auf Dorothea zu, um sie zu begrüßen. Da fiel ihm auf, dass sie auf ihrem Rock einen Fleck hatte. Als Dorothea merkte, wohin er schaute, bemerkte sie leichthin:
„Es wird Zeit, dass die Reise zu Ende geht, denn mein ganzes Zeug wird langsam dreckig!“
„Bei mir sieht es genauso aus“, antwortete Hermann und richtete seinen Blick auf eine gertenschlanke Frau in einem schneeweißen Kleid, das in der Sonne glänzte. Obwohl sie einen großen roten Hut trug und weit entfernt stand, wusste er: Das war Evelyn — und als wenn ihm Schuppen von den Augen fielen — wusste er endlich, was, oder besser gesagt: wen er wollte. Offensichtlich hatte seine kürzlich erfolgte „Verbeamtung“ schon ein wenig seine Seele verändert und ihn zum angehenden Pedanten werden lassen: Als Frau zum Heiraten erschien ihm eine Frau mit einem Fleck im Kleid nicht geeignet. Wie, so fragte er sich, wird es später einmal in ihrem Haushalt aussehen? Und auch die Sinnlichkeit, die Dorothea auszustrahlen versuchte, war in seinen Augen doch eher eine etwas zweifelhafte Voraussetzung für eine Ehe, in der man ja lebenslange Treue erwartet. Wie anders stand Evelyn da im weißen Kleid und blonden Haar: die personifizierte Frische und Sauberkeit. Und irgendwie hatte er das Gefühl, Evelyn sei so zart und zerbrechlich, dass sie einen Beschützer brauche. Er konnte es ihr einfach nicht antun, sich für Dorothea zu entscheiden. Er glaubte, die empfindsame Evelyn käme über eine solche Enttäuschung nie hinweg, und so waren die Würfel gefallen. Nach ein paar belanglosen Worten, die er mit Dorothea wechselte, ging er zu Evelyn. Die beiden sprachen über die Traumreise, die nun zu Ende ging und den Alltag, der wieder vor ihnen lag; und beim Stichwort „Alltag“ überraschte er sie mit der Frage, ob sie ihn nicht gemeinsam bewältigen wollten. Verwirrt fragte sie, wie sie das verstehen dürfe.
„Als Antrag!“ antwortete er.
„Dann sind wir also jetzt verlobt?“ fragte sie unsicher.
„Wenn das ‚ja‘ heißt, schon“, sagte er. Und so gaben sie sich einen ersten zarten Kuss als Zeichen ihres Bundes.
Nun hat ein weiser Mann einmal gesagt:
„Im Film und Roman haben zwei Menschen Probleme, bis sie sich kriegen; im wirklichen Leben gehen dann aber erst die Probleme an, wenn im Kino der Vorhang fällt.“
So erging es auch Hermann. Er hatte nicht gemerkt, dass Evelyn ihn eigentlich gar nicht wirklich liebte, sondern ihn als einzige Chance betrachtete, der Einsamkeit und ihrem tristen Dasein als Verkäufern zu entfliehen. Sie hatte sich gedacht, sie würde sich schon irgendwie an ihn gewöhnen, aber das Gegenteil war der Fall. Das zeigte sich schon in der Hochzeitsnacht, nach welcher das junge Paar fand, man sollte sie schnell vergessen. Er las ihr aus einem Buch vor, wo zu lesen war, dass so etwas vorkommen könne und was man dagegen zu tun habe. Schon beim Vorlesen und später bei der praktischen Anwendung dieser Ratschläge spürte Evelyn einen Widerwillen gegen alles Sexuelle oder richtete sich dieses Gefühl nur gegen Hermann? Sie wusste es nicht.
Hermann war wie alle Männer ein Romantiker. Er glaubte, er müsse seine Evelyn durch Verwöhnen, teuerste Geschenke und ständige Liebesschwüre soweit bringen, dass die Ehe wirklich funktionierte. So kam diese Frau völlig unverdient zu Genüssen, die anderen normalen Ehefrauen nicht zuteil werden.
Wahrscheinlich war sie überhaupt frigid oder jedenfalls ihrem Mann gegenüber. Dieser aber glaubte als Bayer, dass norddeutsche Frauen eben so kühl sind und ständig umworben werden müssen. Schließlich, nach reichlichem Alkoholgenus kam es dann doch irgendwann einmal zu einer linkischen Vereinigung der beiden.
Sie hielten es ein Leben lang miteinander aus und dachten, die Ehe sei nun einmal so. Als er pensioniert wurde, fand sie, dass sie auch ihren Ruhestand verdient habe; deshalb sagte sie zu ihrem Mann:
„Jetzt hast du jahrelang an mir herum gemacht, und nun sind wir dafür zu alt für solche Unanständigkeiten.“
Er fand dies normal, weil er gelesen hatte, dass das sexuelle Verlangen der Frauen im Alter zum Erliegen komme. Nun sahen die beiden ihren Lebenszweck darin, die Weisheit ihrer Erfahrung an die junge Generation weiter zu geben: Er zitierte den heiligen Paulus dem Sinne nach mit den Worten: Heiraten ist gut, nicht heiraten ist besser.
Und manchmal erzählte er eine Geschichte aus seiner Jugend: Als kleiner Junge habe er vermeintlich Gold gefunden und habe so viel eingesammelt, wie er tragen konnte; als er dann viel zu spät nach Hause gekommen sei, habe seine Mutter ihn verprügelt und gesagt:
„Das ist ja nur Katzengold.“
So sei nun einmal das Leben: Immer wenn man glaube, man habe Gold gefunden, merke man später einmal, dass es nur Katzengold sei und manchmal bekomme man dann auch noch Prügel dafür. Sein Lieblingsspruch war:
„Im Leben läuft jeder seinen eigenen Ohrfeigen nach.“
Evelyn zog aus ihrer Lebensgeschichte andere Konsequenzen: Sie schwärmte von der modernen Zeit, die soviel besser sei wie die frühere, weil Frauen nicht mehr heiraten müssten.
Leider ist es heutzutage nicht mehr üblich, dass ein Autor seiner Geschichte eine Moral anfügt. Das ist eigentlich schade. Darum sei Ihnen diese weise Lehre mit auf Ihren weiteren Lebensweg gegeben: Man sollte es nicht glauben, welche Folgen kleine Belanglosigkeiten wie ein Fleck im Kleid haben können.
Wenn Ihnen diese Weisheit zu wenig Tiefsinn enthalten sollte, sei auch noch dieses Fazit aus der Geschichte gezogen:
Wohl wenig Fehler straft der Liebe Gott so wie die Wahl der falschen Ehefrau. (Falls Frauen meinen sollten, es müsse statt „Ehefrau“: „Ehepartner“ heißen, sollten sie doch mal darüber nachdenken, mit wie viel Geld vielen ihrer Geschlechtsgenossinnen die Scheidung versüßt worden ist.)