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3. KapitelWorin Nina etwas Beunruhigendes tut

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Um drei Uhr kam ein Anruf. Die Gräfin war am Apparat. Nina sei aus der Schule zurück. Sie mache sich nur frisch; ob sie dann zu mir kommen dürfe, den heutigen Lehrstoff durchgehen. Ich schlug vor, sie drüben abzuholen.

Im Gegensatz zu ihrem Mann war Charlotte Fuchshaym ausgesucht höflich. Wir plauderten eine Weile im Salon, wobei ich erfuhr, dass sie oft unterwegs war – Tagungsbesuche, Symposien, politische Veranstaltungen. Es schien sich um Menschenrechte zu handeln. Sie war erst vor einigen Tagen aus Frankreich von einem zweiwöchigen Aufenthalt zurückgekommen.

Ich ging also den Stoff mit Nina durch, hatte Schlimmeres erwartet, machte auf pragmatisch – Formel, Zahlen einsetzen, fertig. Nach eineinhalb Stunden hatten wir es geschafft. Loben, zu Fragen ermuntern. Auch wenn mich das nervte.

„Gut gemacht. Wenn’s dir zu schnell geht, sag es ruhig. Wir haben Zeit.“

„Nö, passt schon, danke“, verabschiedete sie sich und stakste davon. Die großen Füße schlurften am Parkett.

Wir einigten uns auf eine Zeitspanne von vier bis sechs. So hatte sie nach der Schule Zeit abzuschalten, mit ihren Puppen zu spielen oder was sie so machte, wenn sie eilig in ihrem Zimmer verschwand. Und es gab mir Gelegenheit, mit dem Chauffeur zu plaudern.

Er hieß Jerome, war seit einem Jahr bei den Fuchshayms, beschrieb das gräfliche Paar als freundlich und korrekt. Die Gräfin hatte ihn auf Empfehlung einer Bekannten aus Deutschland angeworben. Der Graf, wie seine Frau oft auf Geschäftsreisen, war unduldsam und behandelte das Personal von oben herab. Seinen Jeep Cherokee fuhr er oft selbst; Jeromes Hauptaufgabe war es, Nina täglich zur Schule und zurück zu fahren. Manchmal hatte die Gräfin Bedarf – meist zum Shopping nach Graz –, und wenn er nichts anderes zu tun hatte, kümmerte er sich um den Wagenpark. Ein großer Tesla zur Repräsentation, wenn es zu Empfängen oder Events ging, der Mercedes für die täglichen Schulfahrten, der Jeep Cherokee, den Jerome offenbar heiß liebte – geländegängig bis zu unglaublichen Steigungen, unverwüstlich, umschaltbar von manuell auf autonom, was man diesem Urgestein nicht ansah –, und ein roter Porsche 911 Carrera, Baujahr 1989, den der Graf einmal im Jahr spazieren führte. Jerome benutzte ihn, wenn Fuchshaym länger nicht da war, wie er mir nach einigen Tagen anvertraute, als wir bei einem Bier abends zusammensaßen.

Jerome war stattlich und muskulös. Ein kantiges Gesicht, glattrasiert. Er trug Uniform, ganz nostalgisch. An der linken Brust der grauen Uniformjacke fiel mir ein kaum wahrnehmbarer dunklerer runder Fleck auf. Das war die Stelle, an welcher sonst der gelbe Halbmond der Bekennenden angebracht war.

„War da mal ein Abzeichen?“ fragte ich ihn eines Tages, als wir im Hof die Frühlingssonne bei zwei Dosen Bier genossen. Das war ihm unangenehm. Er strich mit der Hand darüber, als ob der Fleck dadurch unsichtbar würde.

„Ein Abzeichen, ganz recht“, bestätigte er. „Ich dachte, man sieht’s nicht. Muss mir ein neues Jackett zulegen“, und nahm einen langen Schluck Bier.

Ich wartete. Jetzt musste eigentlich eine Erklärung kommen. Aber er sagte nichts.

„Du bist kein Moslem“, stellte ich fest und deutete auf sein halbleeres Bierglas. „Da war kein Halbmond.“

Er schüttelte den Kopf, danach folgte Schweigen.

„G für Gefährder?“, vermutete ich provozierend.

Er nickte unmerklich. „Wenn der BND der Meinung ist, dass du die Staatssicherheit gefährdest, kriegst du ein Schreiben. Dann musste den G-Sticker anbringen.“

„Und wenn du’s nicht tust?“

„Kannste im Knast landen“, lachte er.

Ich insistierte nicht. Stattdessen erzählte ich ihm, wie es in Österreich nach dem verheerenden Terroranschlag in Wien zum Bekenner-Sticker gekommen war. Ein mit Sprengstoff vollgeladener Fiaker war am Stephansplatz explodiert. Es gab über zweihundert Tote und noch mehr Verletzte. Das war drei Monate vor der Wahl gewesen, mit Bedacht vom neuen IS gewählt, und folgerichtig hatten die Ultrarechten über 70 Prozent der Stimmen erhalten und eine Alleinregierung gebildet. Schließung der Grenzen, Schießbefehl bei versuchtem Eintritt ins Staatsgebiet (wie mich das an das andere Deutschland erinnerte, von dem meine Großeltern erzählt hatten) und schließlich eine von den Rechtsextremen gepushte Verordnung, die alle Moslems zum Tragen des gelben Halbmondes verpflichtete. Es gab Demonstrationen und bürgerkriegsähnliche Zustände in Wien, Graz und Klagenfurt. Die Regierung beschwichtigte, es sei lediglich eine Vorsichtsmaßnahme, um die Bevölkerung vor potentiellen Attentätern zu schützen – als ob ein Abzeichen Attentäter kenntlich machte. So ging es Monate, bis der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft seine Schäfchen dazu aufrief, der Verordnung zu folgen. Es sei ein Zeichen der Bekennenden zum Lob Allahs.

Der Schuss war nach hinten losgegangen. Statt Warnung vor Terroristen war der Halbmond ein Zeichen der Identität geworden. Man hatte die Verordnung bald zurückgenommen, aber es half nichts – die Bekennenden trugen den Halbmond nun mit Stolz. Paradoxerweise war dadurch das Gesprächsklima mit Moslems besser geworden. Sie traten nun öffentlich gegen Terroranschläge auf, und manche Politiker aus dem moderat-rechten Lager waren verstört, Demonstrationen von vielen Tausenden Halbmondträgern gegen Amokfahrten und Drohnenabstürze in Fußgängerzonen und Einkaufszentren kommentieren zu müssen. Der Halbmond am Revers gab der großen Mehrheit der Moderaten eine Identität. Sie waren als Islam West im Parlament vertreten. Damals hatte ich einen Hoffnungsschimmer am Horizont der zerfallenden Gesellschaft gesehen, die Vernunft schien sich wieder aus den Tiefen der Verblendung zu erheben.

Seit den letzten Nationalratswahlen regierte in Österreich ein Zweckbündnis aus Grünen, Linken und Islam West gegen die Rechtsextremen. Wir hatten einen grünen Kanzler und einen praktizierenden Moslem als Vizekanzler. Das, was Michel Houellebecq vor langer Zeit im Plauderton für Frankreich prophezeit hatte, war nun in Österreich Realität. Ob die großzügigen Dotationen aus den Golfstaaten für die Universitäten, die im Gegenzug Moslems auf Lehrstühle setzten, die Forschung förderten oder ein moralisches Problem waren, darüber stritten nicht nur Experten.

Beim zweiten Bier wurde Jerome gesprächiger. Er hatte in den heydays of terrorism auf Websites des frühen IS gesurft, um sich ein Bild zu machen. Der BND hatte seine Internet-Aktivitäten verfolgt und ihn als Gefährder eingestuft. Man versicherte ihm, dass die Kennzeichnung als Gefährder keine rechtlichen Konsequenzen habe. Sie sei schlicht eine Triggerwarnung.

„Das war aber lange vor der Besetzung durch die Alliierten.“

„Klar, Was haben wir uns gefreut, als der Bürgerkrieg beendet war. Na gut, jetzt gibt es ein neues besetztes Irak-Syrien, aber immerhin ist es dort ruhig. Ich bin damals auf die Straße gegangen, um das zu feiern, aber das hat die Idioten nicht interessiert.“

„Dein Vollkoffer von Minister hat das intelligenter gemacht als unsere Regierung“, fand ich. „Ein Trigger, von der Religion getrennt, damit sind Aufrufe religiöser Führer unwirksam.“

„Eure Idee war schon besser als unsere. Was soll denn das – Menschen nach ihrem Surfprofil zu beurteilen. Das läuft doch nicht wie bei den Pädophilen. Ich bin doch kein Terrorist, wenn ich mich für die Ursachen von Terrorismus interessiere! Triggerwarnung – ha!“

Er knallte das Bierglas auf den Tisch.

„Mal langsam, Jerome. Das passiert seit einer Ewigkeit. Wenn Google weiß, wo du surfst, wissen es auch die Geheimdienste dieser Welt.“

Er starrte in sein Glas.

„Wenn du nicht willst, dass andere erfahren, was du tust, dann gibt’s nur eine Lösung“, legte ich nach.

„Nämlich?“

„Tu es nicht.“

Von Nina konnte er nicht viel berichten. Sie war pflichtbewusst und bescheiden, hing wie alle in dem Alter dauernd am Handy, meistens telefonierte sie mit ihrer besten Freundin Hayley. Im ersten Schuljahr war sie mittelmäßig unterwegs gewesen. Die schulischen Probleme hatten um die Jahreswende begonnen. Bis dahin habe sie ihn bei der Heimfahrt immer mit echten oder vermeintlichen Skandälchen an der Schule zugelabert, aber nach den Weihnachtsferien, als sie mit der Gräfin aus Davos zurückgekommen war, sei sie plötzlich verschlossen gewesen, hatte nur noch wenig erzählt.

Ein Zeichen der Reife, behauptete ich beiläufig, während ich dachte: Hat sie wenig erzählt, oder erzählst du mir nicht alles?

Es verging eine Woche, und ich merkte, dass Nina Vertrauen zu mir fasste. Erstaunlicherweise hatte sie keine gräflichen Allüren, keine herrschaftlichen Ansprüche oder Umgangsformen. Ich hatte befürchtet, dass sie mich als Lakaien behandeln würde, aber das war nicht der Fall, sie war bescheiden. Auf die Frage, was sie in ihrer Freizeit mache, musste sie nachdenken. Klavierspielen und reiten.

Es kam heraus, dass beides eine Idee der Eltern war, eigentlich des Vaters, und sie lieber Musik hören würde, aber nicht die blöde klassische vom Klavier, und lieber mit ihren Freundinnen rumhing. Aber das war selten möglich wegen der Entfernungen. Und vermutlich wegen der Standesunterschiede. Die beste Freundin Hayley ging in die Sechste – eine Leitfigur.

Die Schularbeit auf drei war ein Erfolg. Das Mädchen war gut drauf, quirliger als sonst, und ich merkte, dass ich nicht mehr der Pauker war, sondern eine – Instanz. Instanz mit gemischter Gefühlsbindung, interessiert-misstrauisch, vorsichtig-abwartend, das sah ich an der Art, wie sie mich heimlich musterte, wenn sie dachte, ich sähe es nicht. Ich machte normal weiter, vielleicht hätte ich sie mehr loben müssen, um die Waage der Justitia noch mehr zu meinen Gunsten zu beeinflussen, aber das war nicht meine Art. Prompt kam einige Tage danach ein regelrechter Absturz. Nina war unkonzentriert, ich merkte, dass sie an etwas anderes dachte, vielleicht schmollte sie, weil sie meinte, ich ignorierte sie, obwohl ich das gar nicht tat. Ich sprach sie auf ihre Zerstreutheit an. Ja, sie träume schlecht, erklärte sie. So hatte ich es nicht gemeint.

Nach drei aufeinanderfolgenden ähnlichen Tagen machte ich einen schriftlichen Test. Von zehn Beispielen waren acht falsch, obwohl wir das alles durchgekaut hatten. Während sie in ihren Sachen kramte, schaute ich die Ergebnisse an meinem Schreibtisch durch. Eine Katastrophe.

„Das war schwach. Das wird Konsequenzen in der Schule haben“, murmelte ich eher für mich. Ich hörte, dass sie hinter mir vom Stuhl aufstand. Sesselrücken, Klappern. Ich schrieb das Ergebnis auf den Test, eine Vier minus, und das war väterlich-wohlwollend beurteilt, dann drehte ich mich um.

Sie hockte mit gegrätschten Beinen auf dem Sessel, die Oberschenkel links und rechts auf den Armlehnen. Sie stützte sich hinten ab, sodass ihr Oberkörper in Schräglage und das Becken nach vorn gedrückt war. Ihr Rock war über den Schritt hochgerutscht.

„Was – was machst du denn?“ fragte ich völlig entgeistert.

„Weil Sie’s gesagt haben.“

„Was? Was habe ich gesagt?“

„Wenn man nicht lernt, gibt’s Konsequenzen. Wie beim Pater Pius.“

„Was um Gottes willen meinst du. Wer ist Pater Pius?“

„In der Schule. Er prüft uns manchmal. Und der sagt das.“

Das war ganz und gar unmöglich. Um mich zu vergewissern, ob ich richtig gehört hatte, fragte ich noch einmal „Was sagt der Pater also?“

Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Ist es zu schlimm?“

Kopfnicken.

„Also, jetzt komm da runter“, sagte ich barsch. Sie zog den Kopf ein, und ihr Oberkörper begann zu zucken.

Ich war mit zwei Schritten bei ihr, griff ihr unter die Achseln und hob sie herunter. Als sie so verloren dastand, den Blick zur Seite gerichtet, nahm ich ihre Hände, kalte dünne Hände.

„Alles gut. Bei mir gibt’s keine Strafen“, versuchte ich meine Grobheit zu lindern. Sie reagierte nicht.

„Du bist hier in Sicherheit.“ Ich berührte ihre Wange mit dem Handrücken, suchte ihren Blick.

„Du bist meine beste Schülerin.“

„Ja, Sie sind so freundlich“, schniefte sie und wischte sich die Augen.

„So, jetzt vergessen wir das ganz schnell. Aber ich würde schon gern wissen, was der Pater sagt.“

Sie druckste herum, dann meinte sie leise „Ich kann’s ja aufschreiben.“

Wir setzten uns, ich schob ihr ein leeres Blatt hin. Sie rückte ihre Brille zurecht, nahm mit spitzen Fingern einen Bleistift, kaute darauf herum, nachdenkend, sehr ernst. Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Brauen. Nun legte sie den Kopf schief und schrieb mit leicht geöffnetem Mund, langsam und sorgfältig, den Bogen mit der Hand verdeckend. Dann faltete sie ihn, lehnte sich zurück, rückte wieder ihre Brille zurecht und starrte finster auf den vor ihr liegenden Bleistift. Ich entfaltete den Bogen. Da stand

Lernst du nicht mit gutem Mut Giebt es Hiebe auf die Fut

Ich musste mich zusammennehmen, um nicht loszuprusten. Deutsch: Nichtgenügend. Aber an Sexualkunde interessiert, denn das letzte Wort hatte sie mit starkem Druck hingeschrieben.

„Was, und dann schlägt er dich auf deine – deine Scham?“

Sie senkte den Kopf.

„Das darf er nicht! Das müssen wir anzeigen.“

„Es tut nicht weh, er macht das nur symbolisch.“

„Mit der Hand?“

Wieder angedeutetes Nicken.

„Es ist katholisch. Man muß Buße tun, wenn man faul ist.“

Herr im Himmel. Ich beschloss, die Stunde abzubrechen. Klappte Maul und Mappe zu und verabschiedete sie, als wäre nichts. Den ganzen Abend grübelte ich über diese bizarre Geschichte. Das musste doch schon jemandem aufgefallen sein. Warum wusste Jerome nichts davon? Hatte sie es nur mir gesagt, weil da Vertrauen war?

Während ich mich im Bett herumwälzte, erinnerte ich mich an eine Szene aus der Kindheit: Es war im Sommer auf dem Land, oft spielte ich mit den Nachbarkindern. Wir waren um die sechs, sieben Jahre alt, da gab es ein Mädchen und einen Jungen, der schon recht entwickelt war und ständig Doktor spielen wollte. Dem Mädchen war das lästig, es verweigerte stets, aber eines Tages gab es nach. Ich war der Assistenzarzt, soll heißen, ich passte auf, ob jemand an der Gynäkologie, also einem Gebüsch etwa 100 Meter von den Häusern, vorbeikam. Ich beobachtete die Untersuchung aus den Augenwinkeln, mehr peinlich berührt als neugierig. Die Kleine beobachtete interessiert, was der Herr Doktor da machte. Nach ein paar Minuten war die Sache vorbei, sie zog sich an und Dr. Franzi verließ uns fröhlich hüpfend. Sie zog ein angeekeltes Gesicht und erklärte mir, dass sie das nur gemacht habe, damit er endlich ginge und wir allein spielen konnten, er habe es versprochen.

So ganz hatte ich ihr das „nur gemacht“ nicht abgenommen.

Ich hatte vor, Ninas Eltern auf die Sache anzusprechen, aber am nächsten Morgen unterließ ich es. Es war nicht richtig. Ein Vertrauensbruch. Stattdessen sollte ich mir Pater Pius vornehmen.

Ich wartete also nach dem Frühstück, bis Jerome von der Schulfahrt zurück war, und fuhr dann nach Raggau. Die Fahrt verlief kilometerlang durch Fichtenwälder (alles Fuchshaym‘scher Besitz), anfangs war die Straße gut, dann ging es rechts ab über endlose Serpentinen, offiziell zweispurig, aber in den Haarnadelkurven wurde es eng. Die Frostschäden waren nur notdürftig ausgebessert, es holperte. Ein Wunder, dass der Kleinen nicht übel wurde bei dieser täglichen Ochsentour. Ich sah kaum einen Hof, nur Wiesen und Wald. Nach ungezählten Kurven neigte sich die Straße freundlicherweise ins Tal und das Kloster kam in Sicht. Ich blieb an einer übersichtlichen Stelle stehen, um den Blick zu genießen. Ein imposanter Gebäudekomplex saß da im Talgrund, die Fassade ungewöhnlich lang, ein dezentes Gelb, wie es hier oft für Schlösser und Kirchen verwendet wurde. Die Kirche hatte einen barocken Zwiebelturm, und auf einer Anhöhe hinter dem Kloster lugte ein romanischer Turm aus dichtem Wald hervor wie ein Wächter für die Ewigkeit. Es war ganz erstaunlich, dieser Eindruck der Stabilität, als könne nichts auf der Welt ihn erschüttern. Er hatte unendlich viel Zeit, er wartete auf das Jüngste Gericht.

So wie Pater Pius.

Ich genoss die Landschaft, bis ich sicher sein konnte, nicht zufällig in der Pause auf Nina zu treffen, dann parkte ich vor der Klostermauer. Die Pförtnerloge war unbesetzt, also betrat ich den Hof. Gut gepflegte Rabatten, uralte Eichen, die im Sommer wohl Frieden und Schatten spendeten. Niemand war zu sehen. Ich fand ohne Schwierigkeiten die Verwaltung, erklärte der Dame vom Empfang, dass ich auf der Durchreise von Liezen nach Graz sei und die Gelegenheit nützen wolle, um dem Pater Pius schöne Grüße von einem Jugendfreund zu übermitteln. Da ich nicht wusste, wie alt der Mädchenschänder war, musste ich das so vage formulieren.

Wen wollen Sie grüßen?“

„Pater Pius.“

„Sind Sie sicher?“

„So wurde es mir aufgetragen“

„Aber wir haben hier keinen Pater Pius.“

„Sind Sie sicher?“

„Aber ja, ich kenne alle Patres hier.“

„Wie viele gibt es denn?“

„Wir haben elf Patres. Da hätten wir“ – sie zählte an den Fingern mit – „Pater Anselm, Othmar, Gregor, Sixtus, Sigmund, Urban, Clemens, Martin, Felix, Benedikt … einer fehlt mir … ah ja, Pater Eugen, unser Bibliothekar. Den sehe ich selten.“ Sie lächelte entschuldigend.

„Hm, vielleicht ist Pater Pius nicht mehr da.“

„Ich bin seit zehn Jahren hier, und da hat sich nichts verändert. Naja, bis auf – unser lieber hochwürdigster Prior Hippolyt hat vor einem Jahr sein Amt übergeben, er war schwer krank. Und Pater Bernhard ist vor vier Jahren verstorben. Wissen Sie, die Patres, die einmal hier sind, bleiben, bis Gott sie ruft.“

Eine Verlegenheitspause entstand.

„Das ist ein altes Kloster. Anfangs war das eine Abtei. Das Tympanon stammt aus dem dreizehnten Jahrhundert.“

„Sie müssen viele Besucher haben.“

„Aber nein, die Patres hier wollen das nicht. Sie schätzen die Ruhe.“

„Hm, der Schulunterricht genügt ihnen wohl.“

Sie lachte silberhell. „Aber nein, die Schule wird von weltlichen Damen und Herren geführt. Das sind ganz normale Gymnasiallehrer, die meisten kommen aus Graz.“

„Und die Patres haben nichts mit der Schule zu tun? Auch keinen Religionsunterricht?“

„Das würde den Ordensregeln widersprechen. Sie halten nur die heilige Messe. Religionsunterricht gibt Frau Professor Pasternak, sie hat einen Master in Religionswissenschaften.“ Die Empfangsdame nickte mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Das ist ja wirklich – fortschrittlich.“

Was hatte Nina da fantasiert?

Ich schüttelte verlegen den Kopf. „Das ist mir jetzt peinlich. Vielleicht hab’ ich das am Telefon falsch verstanden. Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine dumme Frage. Entschuldigen Sie die Störung.“ Ich wandte mich zum Gehen, und Mrs. AberNein entließ mich mit freundlichem Lächeln.

Am Heimweg blieb ich noch einmal auf der Anhöhe stehen, von der man den Talgrund mit dem Sakralbau so schön überblickte. Es war so friedlich und harmonisch, als habe es seit Anbeginn der Zeit hier eine Zuflucht vor der Welt geboten. Ich wollte etwas damit assoziieren, ein flüchtiger Gedanke, aber er war gleich wieder weg, bevor ich ihn fassen konnte, wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt.

Was Nina betraf: War Pater Pius die erotische Fantasie einer Frühreifen? Die Erzählung mit dem Kinderreim erschien dermaßen infantil, das konnte keine realistische Basis haben. Ich hätte es mir gleich denken können, hatte ich doch einen ähnlichen Fall schon erlebt. Vorsicht war geboten. Zu viel Lob, zu wenig Lob, Blicke, Gesten, ja sogar ein harmloses Lächeln konnte auf dumme Ideen bringen. Zum Glück war mein Interesse an Schulmädchen rein pädagogisch. Ich mochte Kinder, ich konnte gut mit ihnen umgehen, vielleicht weil ich keine hatte. Keine wollte. Keine Verpflichtung, keine Bindung. Vielleicht war das dunkle Verlangen, das mich manchmal bedrohte, an meiner Bindungsunfähigkeit schuld. Wer kannte schon die Mechanismen der eigenen Seele? Möge Gott mich vor mir selbst beschützen, sagt Montaigne.

Während der Nachhilfe tat ich weiterhin so, als wäre nichts gewesen, blieb freundlich-distanziert, aber wachsam; denn wenn sich mein Schützling von mir zurückgesetzt fühlte, war bei dieser Fantasie einiges zu befürchten. Erfreulicherweise schnitt sie das Thema nicht mehr an, und wir kehrten zur Tagesordnung zurück.

Wegen meiner großzügig strukturierten Freizeit auf Gut Fuchshaym konnte ich mit Nachforschungen beginnen. Ich rief, wie beim Begräbnis versprochen, Walters Freundin an. Wir trafen uns am Wochenende in einem Café, sie erzählte mir, dass Walter sehr verschlossen gewesen wäre und sie sich nur ein- oder zweimal pro Woche gesehen hätten. Sie wusste eigentlich weniger von ihm als ich. In den letzten Monaten sei er aufbrausend gewesen, sogar aggressiv, was gewisse sehr persönliche Dinge betraf.

„Ich habe mich über seine spontanen Ausbrüche geärgert und es ihn spüren lassen. Ich hätte das nicht tun sollen.“

Sie hatte ihren Espresso nicht angerührt, starrte in die Tasse, in der sich die marmorierte Crema langsam auflöste. Aber hier war keine Absolution zu erhoffen.

„Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Das hat nichts mit seinem Tod zu tun.“

„Nein, das nicht. Aber – ich weiß ja nicht, die Obduktion“, sagte sie nachdenklich und rührte in ihrem inzwischen kalten Espresso.

„Was ist damit?“

„Ich habe das Ergebnis vor einer Woche erfahren. Sie wollten mir nichts sagen, wir waren ja nicht verheiratet. Und Familie hatte er keine.“

„Und?“

„Ich hab’ einen guten Kontakt zur Gerichtsmedizin. -– Walter hatte einen Hirntumor. Sie sagen, das kann die Persönlichkeit verändern.“

Ich schüttelte entsetzt den Kopf. Viel gab es nicht zu sagen. Ich bestätigte, dass ich diese Veränderung auch bemerkt hatte, und wir hingen unseren tristen Gedanken nach. Ich erfuhr noch, dass er sich manchmal mit einem Kollegen von der Uni in Graz getroffen hatte, um etwas Berufliches zu besprechen, sie schienen am gleichen Projekt gearbeitet zu haben. Pascal Strasser. Ich hatte den Namen schon gehört, vermutlich von Walter selbst, dem aber keine Bedeutung beigemessen. Und jetzt bekam seine Kalendereintragung Sinn. Das P! stand für Pascal. Ich beschloss, dort weiterzusuchen, möglicherweise war das ja jemand, der mehr über das Spieleprojekt und die Hintergründe wusste.

Ich googelte also Pascal Strasser. Ein Festkörperphysiker, nach Doktorat summa cum laude an der TU Wien Postdoktorale an der ETH Zürich, am MIT, Georgia Tech, danach Ruf an die TU Graz. Eine brillante Karriere. Arbeitsgebiet 3D-Sensortechnik mit Lasern, Mikrowellen und Röntgenstrahlen.

Auf der Homepage der Uni Graz war sein Name merkwürdigerweise nicht zu finden. Ich verlangte in der Vermittlung nach ihm und wurde ins Sekretariat des Instituts verbunden. Leider – sie könne mich nicht verbinden. Er sei verstorben. Kürzlich, ein Autounfall. Sehr traurig, ein vielversprechender Wissenschaftler, ein großer Verlust für die Uni und überhaupt. Sie könne mir auch keine Privatadresse der Hinterbliebenen mitteilen. Datenschutz.

Zwei Kollegen, die vermutlich am gleichen Projekt gearbeitet hatten, sterben fast zur gleichen Zeit. Kein Zufall. Da war jemand interessiert an den Ergebnissen des „Projektes“, was auch immer sich dahinter verbarg. So interessiert, dass er mordete. Dann war ich der nächste. Wer auch immer dahintersteckte, er hatte sicher schon bei mir eingebrochen auf der Suche nach dem Koffer, alles durchwühlt. Ich schob den Kontrollbesuch in meiner Wohnung aus Angst immer wieder hinaus. Sollte ich der Mordkommission alles beichten? Mir wäre leichter, aber Polizeischutz würde ich sicher nicht bekommen auf ein paar vage Befürchtungen ohne Beweise einer Gefährdung. Ich erinnerte mich gut an die Geschichte der Frau, die der Polizei den Hinweis auf die Bataclan-Attentäter in Paris gegeben hatte und dann keine neue Identität bekommen hatte, weil der code Napoleon so etwas nicht vorsah.

Kurz nach dem Treffen rief mich der Kommissar an. Ich war auf alles gefasst, weil ich befürchtete, sie hätten mich wegen der verschwundenen Festplatte im Visier, aber es handelte sich um eine Nachricht, die sie in Walters Unterlagen gefunden hatten. Es sei ein rätselhafter Text. Er wollte wissen, ob ich ihnen da weiterhelfen könne.

Ich sagte für den kommenden Montag zu. Eine gute Gelegenheit zu einem Besuch in meiner Wohnung. Also fuhr ich am Samstag nach Wien, parkte das Auto zwei Straßen entfernt und schlich mich ins Haus. Das Schloss an der Wohnungstür war intakt, es schien auch nichts manipuliert worden zu sein, soweit ich das feststellen konnte. Drinnen alles so, wie ich es verlassen hatte. Die fünfhundert Œ, die ich als Bargeldreserve mit Klebeband an der Unterseite der Schreibtischlade angeklebt hatte, waren auch noch da.

War ich paranoid? War alles Einbildung, der Mord an Walter vielleicht ein Eifersuchtsdrama, das überhaupt nicht mit dem „Projekt“ in Verbindung stand? Er war ja kein Kostverächter. Und seine aufbrausende, aggressive Art in den letzten Monaten hatte nichts mit dem Tumor zu tun, sondern rührte vom emotionalem Stress in einer Dreier- oder sonstigen Affäre her. Das könnte passen. Sex und Mord sind die intensivsten Formen zwischenmenschlicher Beziehungen.

Jedenfalls war ich erleichtert, dass niemand nach mir suchte. Damit war die Option, dem Kommissar zu beichten, endgültig vom Tisch. Es würde nichts bringen, mich selbst verdächtig machen. Es war zu spät. Dort, wo ich jetzt Unterschlupf gefunden hatte, in der tiefsten Steiermark, ohne eine Adresse hinterlassen zu haben, mit ausgeschaltetem Handy und VPN, würde mich niemand finden.

Aber irgendetwas war an der Sache merkwürdig. Irgendetwas, das ich in Walters Büro gesehen hatte – zu flüchtig, um bewusst zu werden –, machte mich unruhig. Ich dachte die ganze Fahrt darüber nach, ließ alles zum x-ten Mal Revue passieren, einschließlich des toten Walter auf dem vermeintlich roten Teppich; ich dachte, ich hätte das verarbeitet, aber es berührte mich wieder, wie er da lag mit ruhigem, abgeklärtem Gesicht, das Feuermal wie eine Verletzung und die schreckliche Wunde am Hals.

Montag früh zur Polizei. Der Kommissar bot mir Platz an und kam gleich zur Sache.

„Wir haben das hier gefunden“, sagte er und schob mir ein Blatt Papier hin. Darauf stand:

Platons Schatten an die Wand geschlagen, Angst und Scham gesät. Statt Wahrheit bleiben ew‘ge Zweifel und die Fragen: Warum Schmerz? Dunkles Geheimnis, starr und unaussprechbar, ehe nicht das Böse ausgemerzt. Rastlos wandere im Zwischenreich, du Ausgeburt der Hölle. Spät gerächt, sei dein Schicksal Warnung: Todesangst begleite deine Freunde.

Der Kommissar beobachtete mich abwartend.

„Das ist ein Drohbrief“, sagte ich überflüssigerweise. „Wo haben Sie den gefunden?“

„Auf seinem Schreibtisch zwischen Rechnungen und Reklame. Fällt Ihnen dazu etwas ein?“

Ich las den rätselhaften Text mehrmals, verneinte mehrmals.

„Hatte Wunderer mit Philosophie zu tun?“, fragte er direkt.

„Nicht dass ich wüsste. Das Höhlengleichnis scheint mir eher eine allgemeine Anspielung auf die Schwierigkeit zu sein, die Wahrheit zu erkennen.“

„Aha“, nickte er. „In Philosophie habe ich nie aufgepasst. Das war mir zu kompliziert. Unser Prof hat das so formuliert: Die ganze Philosophie dreht sich um die Frage, wie es sein kann, dass wir in der Welt sind, obwohl die Welt in unserem Kopf ist.“

Ich nickte vage.

„Vielleicht können Sie meine Unwissenheit beseitigen?“

„Platon hat in einem berühmten Bild ein Grundproblem der menschlichen Erkenntnis behandelt. Darin befindet sich der Mensch in einer Höhle; die wirklichen Dinge spielen sich draußen ab, aber er kann sie nicht sehen. Er sieht nur die Schatten, welche die Dinge an seine Höhlenwand werfen. Aus deren Form und Bewegung schließt er dann auf das, was er nie direkt sehen kann. Die Wahrheit ist sozusagen immer hinter dem Schatten des Zweifels verborgen.“

Er nickte verstehend. „Ein antiker Sherlock Holmes.“

Ich wollte ihm schon widersprechen, aber er kam gleich auf den Punkt:

„Und das heißt in diesem Fall was?“

„Es ist nichts, wie es scheint. Die Wahrheit muss in diesem Fall aus den Schatten erschlossen werden. Der Hinweis auf den Schmerz könnte heißen, dass er jemanden verletzt hat, das aber nicht bekannt werden darf. So schwer es mir auch fällt, das zu glauben. Es gibt nur Hinweise auf diese Tat, das sind eben die Schatten an der Wand. Das Opfer kündigt Rache an, die zugleich die moralische Ordnung wiederherstellt, indem das Böse ausgemerzt wird.“

Er nickte wieder. „Was könnte das sein? Fällt Ihnen irgendetwas ein, ein besonderes, auffälliges Verhalten, Vorlieben, Abneigungen, vielleicht verbotene Sehnsüchte, von denen Herr Wunderer gesprochen hat?“

„Nun, er mochte guten Wein und hat sich für Romanik interessiert.“

Wir schwiegen ratlos.

„Es muss Komplizen gegeben haben. Die Warnung an die Freunde.“

„Eine kollektive Tat. Das kann viel sein. Einbruch, Erpressung, Vergewaltigung.“

Außer seinem Interesse für teure Autos fiel mir nichts ein, aber das war zu vage, das traf auf die halbe Männerwelt zu. Mindestens. Ich sprach den Text für mich mehrmals nach, achtete auf den Rhythmus. Es war ein fünffüßiger Trochäus, jedenfalls wenn die Zäsuren an den Interpunktionen gesetzt wurden. Ein Gedicht, eine dunkle Poesie. Ich zog meinen Stift aus der Brusttasche und schrieb das Gedicht, wie ich es intonieren würde, unter den Text.

Platons Schatten an die Wand geschlagen,

Angst und Scham gesät. Statt Wahrheit bleiben

Ew’ge Zweifel und die Fragen: Warum Schmerz?

Dunkles Geheimnis, starr und unaussprechbar,

Ehe nicht das Böse ausgemerzt.

Rastlos wandere im Zwischenreich, du

Ausgeburt der Hölle. Spät gerächt,

Sei dein Schicksal Warnung:

Todesangst begleite deine Freunde.

„Es ist ein Akrostichon“.

„Ein was?“

„Die Anfangsbuchstaben der Zeilen ergeben ein verstecktes Wort“.

Er nickte wieder, las langsam. „Verdammt clever.“ Er ließ offen, ob er das Akrostichon oder mich meinte. „O.k., das bringt uns weiter.“ Er machte eine Pause, sah mich prüfend an. Ich fühlte mich gar nicht gut.

„Gab es in Herrn Wunderers Verhalten irgendetwas, das auf Pädophilie hindeutete?“ sprach er es endlich klar aus.

„Wir haben über sexuelle Neigungen nicht gesprochen, ich kann dazu also nichts sagen. Nun ja, er hatte immer junge Freundinnen, aber das ist ja nicht verboten. Es gab jedenfalls keine Anzeichen.

Das ist ein heikles Thema, die Leute sind durch die vielen aufgedeckten Fälle sensibilisiert, da kann schon mal ein Gerücht entgleisen.“

„Wie in Ihrem Fall an der Schule?“

„Genau.“

Hell Fever

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