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Hell Fever

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In weichen, massierenden Bewegungen schmiegte sich das elastische Material meinem Kopf an. Ein verwischter Lufthauch im Gesicht, Klicken, und die Immersion begann. Ameisen trabten meine Arme entlang bis zu den Fingerspitzen. Der Helm vibrierte jetzt stärker, ich schwebte in die Simulation. Mehrfaches Klicken, ein metallischer Geschmack. Vor meinen Augen tauchte ein Schriftzug auf:

To enter Hell, type password

Wenn ich das Readmefile richtig deutete, gab es in Walters Nahbereich vier oder fünf Helme für das Spiel, und jeder hatte ein eigenes Passwort. Miterfinder, Freunde, Komplizen. Walter war aufgrund seiner Funktion vermutlich der GameMaster, also gab ich ein:

Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate

Access denied. You have 2 more trials To enter Hell, type password

Ich konnte der Reihe nach die anderen drei vermuteten Passwörter eingeben, aber ich hatte nur noch zwei Versuche. Keine Panik, beruhigte ich mich, irgendwie würde ich den Zähler schon zurücksetzen. Jedenfalls war der Game Master jemand anderer.

Natürlich, wie dumm von mir. Der Master musste ein hohes Tier bei RealGames sein, irgendein Executive, der von Informatik keine Ahnung, aber dafür das Sagen hatte. Dann war Walter nicht der primus inter pares, sondern die Nummer 2. Laut meiner Liste war das zweite Passwort

Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege

Der Curser blinkte, das System dachte nach … und bestätigte:

Welcome to Hell

Die VR-Brille verdunkelte sich, sekundenlang geschah nichts, dann blitzte es mehrmals auf wie in einer Automatenkabine für Passfotos. Die Szene wurde grau – und die Landschaft, die ich schon kannte, erschien wieder. Aus großer Höhe öffnete sich der Blick in das liebliche Tal. Von dort unten kam ein Objekt sehr schnell auf mich zu, torkelnd und rotierend wie ein außer Kontrolle geratener Satellit. Ich duckte mich, um die Kollision zu vermeiden, da bremste es ab und hing wartend vor meinen Augen. Es war ein altes, ledergebundenes Buch. Lies mich!, schien es zu fordern. Es wirkte so real, dass ich vorsichtig den Arm ausstreckte, um es zu betasten. Weiches Leder unter meinen Fingern, Goldrelief, abgenutzte Kanten … Ich griff danach und öffnete es.


Der Helm vibrierte, der Infraschall brachte meinen Schädelknochen zum Schwingen, ich spürte es bis in die Zähne. Das Bild zitterte, ich stürzte in das Buch, die Seiten zerrissen und stoben wie Weltraummüll auseinander. Ich verlor sekundenlang die 3D-Wahrnehmung. So stellte ich mir den Start einer Rakete vor. Aber es ging bergab, aus Wolkenhöhe schwebte ich ins Tal der Puppen, federleicht landend auf einer Wiese unweit des Dorfes. Kühe weideten auf der anderen Straßenseite, und plötzlich stand ein älterer Herr neben mir, wie aus dem Nichts erschienen. Nicht wirklich wie von Zauberhand, denn eigentlich sah ich bereits aus den Augenwinkeln etwas auf mich zukommen, und als ich den Kopf drehte, war er da.

„Seien Sie gegrüßt!“

„Hallo“, sagte ich unsicher. Salve! wäre passender gewesen, denn er trug eine Tunika, der weiße Stoff mit rotem Saum fiel in geschmeidigen Falten von den Schultern bis zu den Waden, ein Römer oder Grieche, so genau wusste ich nicht Bescheid.

„Schöner Tag heute“, sagte er.

„Ja, sieht so aus. Vermutlich ist es hier immer so, wird ja kein Problem sein, das Wetter zu machen.“

Er lachte. „Sie sind wohl Naturwissenschaftler. Das ist gut, wir brauchen solche Leute. Nun, um es kurz zu machen: Ich bin Ihr Buddy. Ich werde Ihnen die Regeln erklären, und wenn Sie Fragen haben, bin ich für Sie da.“

Er taxierte mich, als bezweifle er, ob ich verstanden hatte, was er sagte.

„Wir wollen zuerst das Interface trimmen“, stellte er fest.

„Wie bitte?“

„Die Signale sollen ja an den richtigen Stellen in der Hirnrinde ankommen. Sie werden jetzt einem Fliegenschwarm ausgesetzt. Sie werden spüren, wo sich eine Fliege niederlässt. Das wird irgendwo auf Ihrer linken Körperhälfte sein. Sie können die Fliege mit Handbewegungen steuern. Tun Sie dies so lange, bis sie auf Ihrem linken Handteller sitzt.“

„Aber wie –––?“

„Das ergibt sich von selbst.“ Er schnippte mit den Fingern, und in der 3D-Brille erschien ein Schriftzug: Cortex triangulation. Follow advice.

Sie kamen surrend daher, hunderte riesige grünschillernde Fliegen wirbelten um meinen Kopf. Ich fuchtelte mit den Armen, um sie zu verscheuchen, aber sie blieben auf Distanz, abwartend, den Angriff planend, und dann schickten sie eine Kundschafterin aus, die kribbelkrabbelnd auf meiner linken Schulter landete. Ich drehte den Kopf, um sie wegzublasen, aber da war nichts zu sehen, ich spürte bloß das Gekribbel auf der Schulter.

„Locken Sie sie nach vorne, auf die Hand“, ermutigte er mich. Ich bewegte versuchsweise die Linke, und tatsächlich reagierte das Getrappel der eifrigen Beinchen wie auf die Steuerung per Joystick. Ich hatte rasch den Dreh raus; nach wenigen Sekunden spürte ich das Insekt auf dem Handteller.

„Ich hab’ sie!“

„Gut. Schließen Sie die Hand. Fest.“

Was ich tat. Es knirschte, als der Panzer barst, und vor meinen Augen erschien eine blinkende Schrift: „Left palm locked. Repeat right.“

Aus dem Gewusel löste sich wieder eine Selbstmordkandidatin und landete auf meinem rechten Unterarm. Diesmal hatte ich sie schneller zerquetscht. Die Erfolgsmeldung „Right palm locked. Repeat crotch area“ blinkte. Wieder brummte der Schwarm nervös auf, und etwas landete kitzelnd auf meinem Bauch.

„Was jetzt?“, wollte ich wissen.

„Sie müssen sie zwischen Ihre Beine locken. Dort, wo es am intensivsten kribbelt.“

Was war das für eine peinliche Prozedur? Ich folgte widerwillig der Aufforderung; meine Handbewegungen lockten das Insekt in die linke Leiste, dann mit etwas Übung in den Schritt.

„Wo ist sie denn jetzt?“

„Genau auf meinen Eiern.“

„Etwas höher bitte. Das Interface muss genau wissen, wo es zuschlägt. Das ist eine wichtige Körperpartie in unserem Spiel.“

Seine Wortwahl machte mich nervös, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit Fingerspitzengefühl lenkte ich die Fliege, wie empfohlen. Der Reiz war intensiv, Konsequenzen nicht ausgeschlossen, aber wenn ich an die grünschillernde Fleischfliege dachte, die da virtuell an meinem Genital saugte, verging mir alles.

„Ist sie am Ziel?“

„Jaa, verdammt!“

„Na dann weg mit ihr. Oder brauchen Sie eine Fliegenklatsche?“

Ich erwischte das widerliche Insekt mit der Hand, wobei ich in meiner Nervosität etwas zu heftig zuschlug.

„Cortex triangulation finished“, blinkte die Schrift ein paarmal und verschwand zugleich mit dem Schmerz vom Zuschlagen.

„Das hätten wir. Das Interface wird Sie jetzt gezielt ansteuern können. Das klappt meistens problemlos. Nur wenn das Interface schief sitzt, müssen Sie das wiederholen.“

Er meinte, wenn ich den Helm schief aufsetzte oder das Ding verrutschte.

„Jetzt sollten Sie einen Avatar wählen“. Er hob die rechte Hand, und vor uns materialisierten sich mehrere Köpfe. Sie schwebten da wie frisch guillotiniert, hatten aber einenwachen Ausdruck. Kantige oder weiche Gesichtszüge, hier eine hohe Stirn, dort militärischer Kurzhaarschnitt, dann wieder Dreadlocks. Ich war etwas ratlos. Alle waren auf ihre Weise anziehend. Sie erinnerten mich an Schauspieler, ohne dass ich sagen konnte, wen genau sie darstellen sollten.

„Grundlage dieser Köpfe ist Ihr Porträt. Es wurde auf eine Auswahl von Schauspielern gemorpht. Das hier“ – er deutete auf eines in der Mitte, – „war einmal Robert Redford.“ Redford nickte mir zu und zeigte sein unterkühltes Lächeln. „Und das –––“

Ich unterbrach ihn. „Moment mal, wieso haben Sie mein Porträt?“

„Nun ja, wir sind in ihrem Computer, nicht wahr? Ihre persönlichen Daten sind ausreichend, Fotos und Daten von Ihnen im Web zu finden. Deshalb wissen wir auch, dass Deutsch Ihre Muttersprache ist.“

„Man schnüffelt in meinen Daten? Das ist ja nett.“

„Nur, wenn der Iris-Scan nicht übereinstimmt.“

„Welcher Iris-Scan?“

„Sie haben sicher die Blitze bemerkt. Beijedem Check-In von einer unbekannten IP-Adresse vergleichen wir das Irismuster mit registrierten Usern, die bereits einen Avatar haben. In Ihrem Fall war der Vergleich negativ. Wir haben Ihr Irismuster mit dem Passregister verglichen. Wir wissen also, wer Sie sind. Sie sind neu hier, Hagen Goldberg. Also brauchen Sie einen virtuellen Körper.“ Er nickte aufmunternd und lud mich ein, zu wählen.

Redford lag mir nicht. Ich deutete auf einen Kopf, der mich an einen anderen bekannten Schauspieler erinnerte. Der Kopf schwebte auf mich zu, eine Augenbraue kritisch hochgezogen. Ich spürte etwas wie ein Einrasten am Hals – und das war’s. Ich blickte an mir herunter. Ich trug eine Tunika wie mein virtueller Begleiter.

„Der Körper kommt von der Stange?“

„So ist es. Die Kleidung ist einheitlich, oder fast, darauf komme ich noch zu sprechen. Der Körper ist also bedeckt, bis auf einige durchaus interessante Gelegenheiten, wo man sich gewisse Merkmale wünschen könnte. Leider ist in der Betaversion Körpermorphing noch nicht implementiert. Die virtuellen Schriften sind übrigens leider alle immer noch auf Englisch, aber Sie sprechen das ja fließend.“

„Ach, das weiß man auch.“

„Lebenslauf, Zeugnisse, E-Mail, man macht sich ein Bild.“

„Geht klar.“

Ging ganz und gar nicht klar. Sie hatten Zugang zu persönlichen Daten, Kaufgewohnheiten, Vorlieben (hoffentlich nicht allen). Sie wussten über das Passwort auch, dass ich Walters Zugang verwendete. Und sie hatten in meinen Daten geschnüffelt.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Dorf. Sie sollten sich einen Claim abstecken, bevor wir weitermachen.“

„Eine Frage noch: Wenn ein Fremder an meinem Rechner mit meinem Passwort einsteigt?“

„Es steht ja nichts auf dem Spiel – abgesehen vom Spiel“, erklärte er, zufrieden mit seinem Wortspiel. „Wir setzen voraus, dass dies auf Vertrauensbasis geschieht. Es gibt keine Überprüfung. Sie können Freunden Ihren Avatar überlassen. Das Internet ist offen und freundlich.“ Damit fasste er mich am Ellbogen und wir setzten uns in Bewegung. Die Berührung war so echt, dass ich zusammenzuckte. Unwillkürlich blickte ich dorthin, seine Hand war tatsächlich da, wo ich sie fühlte. Wir gingen schweigend über die Wiese zur Straße, die ins Dorf führte. Er wartete offenbar auf Fragen. Davon hatte ich unzählige.

„Sind Sie – ein Spieler?“ Ich wollte sagen „ein echter Mensch“, aber das war mir absurderweise peinlich.

„Nein, ich bin ein Geschöpf dieser Welt, ich bin hier sozusagen geboren.“

„Also dann sind Sie – Verzeihung, wenn das dumm klingt – ein Programm?“

„Sie würden es wohl so nennen, obwohl das natürlich auf alle Lebewesen zutrifft. Es ist also keine sinnvolle Definition.“ Das war eine kühne Behauptung, vor allem von einem Computerprogramm. Das Ding würde den Turingtest mit Bravour bestehen.

Inzwischen waren wir im Dorf angekommen. Beidseits der Straße standen notdürftig zusammengezimmerte Holzhütten, dazwischen offene Feuerstellen und Haufen von Müll und Unrat. Die Bewohner saßen teilnahmslos vor ihren Behausungen, manche kramten im Müll. Alle waren gleich gekleidet: sackähnliche beige knöchellange Gewänder mit einem Trauer-Emoticon an der Brust.

„Das sind die Ärmsten. Sie sind auf Almosen angewiesen. Sie können gerne etwas geben.“ Auf meinen fragenden Blick erklärte er mir, dass hier mit Hellcoins gezahlt wurde. Ich suchte vergeblich nach einer Hosentasche in meiner Tunika.

„Nein, das geht bargeldlos bei uns, wir sind da sehr modern.“ Er machte eine wischende Handbewegung, als würde er auf einem Notebook ein Icon von der Taskleiste holen. Am Himmel über meiner rechten Schulter erschien eine Schrift, die wie eine Buchungszeile auf einem Bankauszug aussah:

Balance: H:1000 P:0

„Wir haben eigentlich zwei Währungen”, erklärte Buddy. „Hellcoins und Parfaits.“

„Haben wir auch ––– € und Œ. Das heißt, eigentlich nur in Kerneuropa.“

Er ging nicht darauf ein.

„Sie haben ein Spielkapital von 1000 Hellcoins. Damit können Sie agieren wie in Ihrer Welt. Kaufen, verkaufen, bestechen, stehlen, spenden, was immer Sie wollen. Und dann gibt es die Parfaits. Das sind Gutpunkte. Jede gute Tat erhöht den Parfaits-Kontostand. Jede böse Tat reduziert ihn.“

Das war mir bekannt.

„O.k., ich fange also bei Null-Perfekt an.“

„Naja, nichts ist perfekt, nicht einmal hier. Die Hoffnung ist, dass sich das Gute langsam von selbst durchsetzt. Eine Welt, in der der Kant’sche Imperativ gilt. Also wenn Sie den Armen spenden wollen –––“

„Sicher. Was kriegt man für einen Hellcoin?“

„Ein Hellcoin entspricht ungefähr 10 €. Das ernährt einen Armen eine Woche lang. Das Leben ist billig bei uns.“

„Dann gebe ich sagen wir mal zehn. Was muss ich tun?“

„Oh, sehr großzügig. Nun, Sie sagen es ihm einfach.“

„Wem denn?“

„Wem Sie wollen.“

„Und der teilt es dann auf?“

„Das hängt von ihm ab.“

„Aber wenn ich einfach den Armen helfen will, allgemein gesprochen?“

„Nein, das geht nicht. Hilfe ist hier immer persönlich. Sie müssen sich einen aussuchen.“

Das war ungewöhnlich.

„Kann man nicht einer Organisation spenden? Care, Rotes Kreuz …?“

„O nein, das gibt es bei uns nicht. Wozu auch, die SimPs verhungern ja nicht wirklich.“

„Verzeihung, wer?“

„Hinter diesen Figuren stecken keine Spieler, das sind nur Details der PvE-Umgebung – PvE, Player versus Environment. Es sind Unterprogramme, simulated persons, SimPs einfach, im Gegensatz zu TruPs, das sind true persons, echte Spieler. Im Moment sind die Armen hier – er deutete vage auf die Wiese – alle SimPs, aber das soll nicht so bleiben. Wenn TruPs Pech haben oder falsche Entscheidungen treffen, werden sie auch hier landen. Im Augenblick jedoch sind wir noch in der Betaversion, alles ist ein wenig unvollkommen.“ Er sprach das letzte Wort mit Bedauern und Hilflosigkeit aus.

Das hieß, hinter den Armen mit dem Emoticon auf der Brust steckten zurzeit noch keine Spieler, die Figuren waren Computerscripts. Ich näherte mich dem Lager. Gleich am Wiesenrand saß eine traurige Figur vor einem Lagerfeuer, auf dem eine trübe Suppe in einem Kessel kochte.

„Hallo“, sagte ich. Die Figur hob den Kopf.

„Sei gegrüßt, Fremder.“

„Ich möchte Ihnen helfen“, sagte ich. „Ich gebe Ihnen zehn Hellcoins.“

Der Mann stand auf, seine Augen wurden groß. „Du meine Güte, das ist außerordentlich großzügig. Ich danke Ihnen tausendmal!“ Er fasste meine Hand und wollte sie küssen, was ich nicht zuließ. Ich entfernte mich im Rückwärtsgang, winkte noch mehrmals, während er sich immer wieder verbeugte. „Damit kann ich meine kranken Kinder zum Arzt bringen“, rief er uns nach, als wir schon wieder auf der Straße waren.

Bizarr. Eine Software, die ihre kranken Kinder zu einem nicht existierenden Arzt bringt, nachdem ein aus der Realität kommender Besucher virtuelles Geld transferiert hatte. Aber war nicht jedes Giralgeld virtuell? Druckten nicht die Zentralbanken auf Teufel komm raus virtuelle Banknoten? Andererseits war es ein vernünftiges Konzept, eine bedürftige Person zu unterstützen und nicht irgendwelche Organisationen, die Spendengelder für Angestellte und Werbung verwendeten, bevor der verbliebene Rest für Hilfe ausgegeben wurde, allerdings vermutlich gar nicht am Ziel ankam, sondern von korrupten Politikern in den Entwicklungsländern abgecasht wurde.

Hier war das anders. Empathie durch persönlichen Kontakt mit Hilfsbedürftigen. Bestechung und Korruption existierten zwischen den Spielern, das brachte Hellcoins oder Vorteile, aber gleichzeitig negative Parfaits. Welche Konsequenzen das hatte, war mir nicht klar.

„Wir haben hier keine Polizei“, sagte er, als hätte er mitgedacht. „Es gibt keine Gerichte, keinen Staatsanwalt, keine Rechtsanwälte. Das spart Zeit und Geld. Allerdings haben wir eine perfekte Legislative. Alle Aktionen der Spieler sind ja dem System bekannt, jede Spielerentscheidung wird nach festen Tabellen bewertet. Skrupellose Spieler werden schnell reich, aber sie sind in den roten Zahlen.“

„Und das heißt was?“

„Sie werden nie das Ziel erreichen.“

„Welches wäre das?“

„Wenn Sie hundert Parfaits erreichen, kommen Sie ins Paradies.“

„Man sitzt auf Wolke sieben und singt Halleluja. Sehr erfüllend.“

Buddy brauchte eine Weile, bevor er antwortete. Offenbar war Sarkasmus von Artificial Intelligence Programmen schwer zu erkennen.

„Naturwissenschaftler neigen zum Sarkasmus“, schmunzelte er schließlich. „Nein, es ist viel profaner und zugleich phantastischer. Im Paradies wartet der Gewinn: Wir nennen ihn den Stein der Weisen. Er verleiht nahezu unbegrenzte Macht und höchste Erfüllung.“

„Das sagen alle Gurus.“

Er schwieg eine Zeitlang, als überlege er, wie viel er preisgeben sollte.

„Es ist nichts Magisches. Es ist ganz real – ein Code, der die Welt verändern wird.“

Wir gingen schweigend weiter. Im Himmel über meiner rechten Schulter nahm ich etwas Dunkles wahr wie einen Vogelschwarm. Bei genauer Betrachtung entpuppte es sich als Schriftzug:

Balance: H:990 P:0.01

Ich hatte also mit meinen 10 H einen Groschen an Parfaits erworben. Man brauchte also 100000 H, um 100 Parfaits zu erreichen und ins Paradies zu kommen. Das entsprach einer Million €, nicht so wahnsinnig viel. Andererseits war hier alles billiger, und wenn alle ins Paradies kommen wollten, war es wohl schwer, mit Bestechung oder Korruption reich zu werden, weil die Moral hoch sein dürfte. Schlauer wäre es, tugendhaft zu leben, um ja nicht in die roten Zahlen zu kommen. Es war wie die Pascal’sche Wette: Für den unendlichen Gewinn des Paradieses lohnt sich der endliche Einsatz der Tugendhaftigkeit selbst bei minimaler Wahrscheinlichkeit.

„Was ist, wenn ich jemandem Geld gebe, der nur vorgibt, bedürftig zu sein? Ich denke da an die Bettlermafia. War der arme Kerl da im Lager wirklich arm?“

„Ja, war er. Die Armen sind an der Kleidung zu erkennen, sie tragen alle das entsprechende Emoticon auf der Brust.“

Wie bei uns das Zeichen der Bekennenden, der gelbe Halbmond, dachte ich. Eigentlich widerlich.

„Aber kann ich nicht auch, um leicht an Geld zu kommen, so etwas anziehen und betteln?“

„Die Kleidung wird vom System definiert. Man weiß immer, wen man vor sich hat. Das gibt Sicherheit. Ihre Tunika zum Beispiel ist die eines Novizen. Weiß ohne Saum. Wenn Sie Parfaits sammeln, werden Sie Bürger, Rat, Senator – in dieser Reihenfolge. Sie können dann gewisse Kleidungsstücke wählen. Die Auswahl und die Qualität werden höher, wenn Sie in der Rangordnung aufsteigen. Man kann somit an der Kleidung erkennen, wen man vor sich hat. Zusätzlich bekommen Sie ein Badge an die Brust – Hellblau, Grün, Rot für Bürger, Rat, Senator.“

„Sie sind demnach ein virtueller Senator? Oder steckt hinter Ihnen doch ein Spieler?“

„Nein, wie ich schon sagte: Ich bin hier geboren. Aber es spielt keine Rolle. Senatoren sammeln Informationen von den Räten und geben Feedback ins System, im Endeffekt führt das zu neuen Patches und Releases. Mit fünfzig Parfaits werden Sie Senator.“

Ich verstand. Es war ein komplexes hierarchisches System. Die erfolgreichen Spieler gaben den Entwicklern sozusagen bottom-up-Hinweise, um die Regeln anzupassen.

„Und wenn man absteigt?“

Buddy seufzte. „Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren.“

Die Göttlicher Komödie. Ich sah ihn fragend an.

„Man kann leicht in die Höllenkreise der Unmoral absinken. Das stigmatisiert – bei uns ist der Abstieg gleichfalls an der Kleidung sichtbar. Sie wird immer dunkler. Man verliert automatisch Bonität, alles wird schwieriger. Und damit ist der weitere Abstieg vorgezeichnet. Bei minus hundert Parfaits ist das Spiel verloren.“

„Und was passiert dann?“

„Der VR-Helm funktioniert nicht mehr. Die Welt verschwindet.“

„Kein schlechter Ausstieg, wenn man in der Scheiße sitzt.“

Er lachte. „Minus hundert Parfaits heißt nicht unbedingt, dass man in der Scheiße sitzt. Man kann ganz gut und genüsslich unmoralisch leben. Die Services kosten nichts. Außer Parfaits natürlich.“

Natürlich.

„Welche Services?“

„Das, mein Freund, erzähle ich Ihnen ein andermal. Jetzt sollten Sie sich um Ihre Zukunft kümmern. Ich begleite Sie zum Rathaus!“

Ich sah mich fragend um.

„Sie können sich dorthin teleportieren.“ Er erklärte mir, wie, und ich tippte auf einem Stadtplan einfach aufs Zentrum und rief den Teleporter auf. Die Szene verblasste, ich spürte starke Beschleunigung, flog wie durch Nebel, dann stand ich am Hauptplatz.

Nicht übel. Google maps in IVR mit echtem Feeling.

Der große quadratische Platz war allseitig von Renaissancefronten gesäumt, darin eine Bank, die Handelskammer, ein Gewerkschaftshaus, Läden, Wohnhäuser. Am Rathaus flatterte eine Fahne. In der Mitte des Platzes stand ein Brunnen. Wasser plätscherte aus vier verzierten Speiern in ein Becken. Die einzelnen Tropfen fielen wie in Zeitlupe, und auf ihrer Oberfläche spiegelte sich die Umgebung verzerrt und zu einer Puppenwelt verkleinert. Diese Simulation war schöner und realistischer als es die Natur je gekonnt hätte. Die Gebäude warfen scharfe Schatten. Der Himmel war tiefblau, aber nirgends zeigte sich die Sonne. Ich machte ihn darauf aufmerksam.

„Ja, das ist ein Bug, schon registriert. Wird im nächsten Patch korrigiert“, sagte er entschuldigend.

„Ach, übrigens, wie schalte ich meinen Kontostand wieder aus?“, der immer noch über meiner rechten Schulter schwebte. Er zeigte es mir. Eine Wischbewegung. Die Schrift verschwand.

„Und was soll ich im Rathaus? Befindet sich dort ein Meldeamt?“

„Keineswegs. Niemand muss sich registrieren, es gibt keine Ausweise oder Pässe, Sie könnten ganz gut einfach so vor sich hinleben und die Freuden der verschiedenen Services genießen. Wenn Sie allerdings das Spiel gewinnen wollen, empfehle ich, einen Claim abzustecken. Um Parfaits zu sammeln, sind Hellcoins zwar nicht notwendig, aber sehr nützlich, wie Sie gerade erlebt haben. Und um Hellcoins zuverdienen, brauchen Sie ein Unternehmen, und dieses ist hier an Grundbesitz gebunden. Im Rathaus können Sie eins erwerben.“

Vor dem Rathaus stand ein silbergrauer DeLorean. Dieser Wagen war der Traum meiner Kindheit gewesen. Ursprünglich hatte ich gedacht, dass er ein Fantasiegebilde aus diesem antiquierten SF-Film mit dem verrückten Wissenschaftler war. Aber es gab ihn wirklich, wie ich später gelernt hatte.

„Was macht der denn hier?“

„Das ist unsere Zeitmaschine“, sagte Buddy, als ob es selbstverständlich wäre.

„Wir haben das aus einem alten Film genommen, damit konnte man durch die Zeit reisen, wir dachten, dies ist ein guter Aufhänger.“

„Ja, ich kenne das. Da hinten ist der Fluxkompensator.“ Das waren die jetförmigen schwarzen Aufbauten am Heck. „Und wie funktioniert das?“

„In Hell Fever ist es keine Hexerei, durch die Zeit zu reisen. Man muss nur einige Kleinigkeiten in der Simulation beachten, damit nichts passiert. Wenn Sie Interesse haben, können Sie ihn mieten.“

Wir betraten das Rathaus. Eine hohe Halle mit neugotischen Fenstern und Sternrippengewölben. Geschäftiges Treiben überall, treppauf, treppab.

Drinnen lotste er mich sogleich ins Grundbuch. Eine freundliche junge Frau begrüßte uns, und Buddy erklärte die Situation. Ein Novize, der Grund erwerben wolle.

„Wollen Sie ein Unternehmen gründen?“, war die erste Frage.

„Was sonst könnte ich tun?“

„Sie könnten verpachten oder bauen und vermieten. Wenn die Nachfrage nach Grund steigt, was wir alle hier in Hell Cottage hoffen, könnten Sie davon profitieren.“

Das war nicht nach meinem Geschmack.

„Ich gründe lieber ein Unternehmen. Ich kann vielleicht meine Expertise in Physik und Informatik einbringen.“

„Das wäre toll, wir haben Bedarf an kreativen Bürgern!“

„Vielleicht kann ich die Physik verbessern. Schatten ohne Sonne am helllichten Tag, das tut weh.“

Sie verzog keine Miene, aber das hätte ich von einer TruP in einem echten Amt auch nicht anders erwartet.

„O.k., so machen wir das.“ (Leichte Entscheidung, es war ja nur ein Spiel).

„Wie soll Ihr Unternehmen heißen?“

„Wie wärs mit Virtual Physics?“

Sie tippte das anachronistisch mit der Hand ein, lehnte sich zurück, schenkte mir ein reizendes Lächeln und sagte: „Erledigt, Herr Doktor Goldberg!“

„Was bin ich schuldig?“

„Bitte wiederholen Sie die Frage in anderen Worten, das System braucht mehr Information.“

„Ich meine: Was kostet das?“

„Zurzeit nichts.“

„Und sonstige Gebühren? Kammerumlage, Sozialversicherung, Steuern?“

„Es gibt sonst keine Gebühren oder Abgaben. Wir schaffen das auch so, in der Hoffnung auf die Wertschöpfung durch unsere Novizen.“

„Auch keine Bestechungsgelder?“

Die freundliche Beamtin schwieg verdächtig lange, ihre Mimik war wie eingefroren.

„Er ist ein Zyniker, unser Freund“, sagte Buddy in das sich dehnende Schweigen. Sie lächelte verständnisvoll. Ja, das war auch ein Turingtest. Das Script „Beamtin“ hatte kein Konzept für Sarkasmus. Es hatte der Intervention meines Reiseführers bedurft, um eine angemessene Reaktion auszulösen. Irgendwie beruhigte mich das.

„Jetzt können Sie eine Grundfläche claimen“, fuhr sie fort. „Darauf können Sie dann Fabriken, Labore oder Büros errichten. Wenn Sie keine Fabrik planen, wird eine Parzelle genügen. Wir hätten da einiges anzubieten.“

Sie wischte mit der Hand eine Katasterkarte in den Raum und zeigte mir das Dorf und die Umgebung. Im Süden war ein großes Areal mit einem Emoticon markiert, das ich schon kennengelernt hatte.

„Was ist das hier?“

„Das ist die Township der Ärmsten. Das Areal ist reserviert. Die roten und blauen Flächen sind übrigens nicht claimbar. Nur die grünen.“

Neben der Township war viel Grün auf der Karte. Ich deutete auf ein sehr kleines Quadrat an der Straße. „Wie viele Quadratmeter sind das?“

„2500“, sagte sie ohne Verzögerung.

„Das genügt wohl meinen Ansprüchen.“

„Ich registriere Sie im Kataster. Sie müssen dem verbal zustimmen. Ihre Äußerung wird zu Dokumentationszwecken registriert.“

„Gut, ich nehme das.“

„Sie müssen es explizit sagen, ‚das‘ ist nicht genug“, präzisierte sie. „Legen Sie den Finger auf das Grundstück auf der Karte und sagen Sie: ‚Ich nehme diese Parzelle‘.“ Auf diese Weise wurde ich Grundstücksbesitzer in Hell Cottage.

So sollte Bürokratie sein – unkompliziert, kompetent und rasch. Warum das in unserer Welt nicht ging, war klar: Wir existierten wirklich.

Hell Fever

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