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2. KapitelWorin wir das Spiel kennenlernen

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Untertauchen – wie geht das? Es hilft, einen Arzt persönlich zu kennen. Je nach Definition einen Freund oder einen guten Bekannten. Wir hatten einige gemeinsame Interessen wie französische Weine und romanische Kirchen. Er hatte mir schon oft geholfen, wenn mir die Arbeit an der Schule zum Hals raushing. Burnout ist die beste Erfindung der modernen Psychologie.

Offiziell war die Stadt ethnisch durchmischt und überall sicher, aber die schleichende Ghettobildung hatte schon vor Jahren die herbeigelobte Yuppisierung Wiens überrollt und zu vier Quartieren geführt. Begonnen hatte es mit dem Asian Quarter, nachdem Chinatown wegen der nicht chinesischen Asiaten, die dort wohnten, als politisch unkorrekt aus der Sprache verbannt worden war, und der Volksmund hatte daraus erst As-quart, dann Asgard gemacht, was sich trefflich auf die anderen drei Sektoren übertragen ließ; jeder hatte seine eigenen ungeschriebenen Regeln. Ich meldete mich krank und zog von Bobogard nach Prologard, in ein billiges Hotel im Südosten Wiens. Zwar gab es auch dort Bürgerwehren, denen man als Ortsunkundiger nicht begegnen wollte, aber es war für hellhäutige Europäer sicherer als in Moongard, dem moslemischen Sektor. In Asgard wiederum würde ich auffallen, was zu vermeiden war.

Etwas würde mein Verschwinden problemloser machen: Meine Lebensabschnittsgefährtin hatte vor kurzem rechtzeitig erkannt, dass nach zwei immer mühsamer gewordenen Jahren ein neuer Abschnitt bevorstand, was mir viel an Erklärungen und Sentimentalität ersparte. Ob es mit den Mädchen aus der Sechsten und Siebten zu tun hatte, die mir das Leben schwer machten, wusste ich nicht. Ich wollte auch nicht darüber nachdenken. Jedenfalls würde ich ihr nicht abgehen. Außer Walter hatte ich eine Handvoll Freunde, die ich ein-, zweimal im Jahr traf; auch das war kein Hindernis für ein vorübergehendes Untertauchen. Und der Kommissar? Er hatte meine Handynummer, und bei mir zu Hause würde er kaum anläuten. Ich war unverdächtig trotz meiner geringfügig verbogenen Darstellung der Geschichte. Falls die Polizei rauskriegen sollte, dass etwas auf einen externen Datenträger kopiert worden war, dann hatte das offiziell eine Stunde vor meiner Ankunft im Labor stattgefunden, sie mussten glauben, der Mörder sei es gewesen.

Ich hatte nur einen kleinen Koffer mit dem Notwendigsten und mein Notebook dabei. Und Walters Festplatte. Die enthielt bereits eine Sicherungskopie seiner Disk; ich hätte mir also das Kopieren sparen können. Und damit war klar, was Walter mir übergeben wollte. Warum der Mörder die Disk nicht gefunden hatte, blieb rätselhaft. So versteckt war sie nicht gewesen, aber vielleicht war er gestört worden. Die Files schienen jedenfalls unergiebig – fürs Erste jedenfalls. Es gab Fotos von Urlaubsreisen mit Freundin, zahlreiche Ordner mit Fachliteratur, eigenen Publikationen, Tagungsunterlagen, einen Kalender. Ich schaute natürlich zuerst dort nach. Vorlesungstermine, Vorträge, Treffen an der Fakultät, Prüfungstermine, ein Mittagessen mit dem Rektor, am Vortag seines Todes ein Eintrag „tel. H.“, das war ich, aber er hatte es sich wohl anders überlegt. Am nächsten Tag, dem Dienstag, nochmals der gleiche Eintrag, diesmal mit Rufzeichen und rot. Ja, den hatte ich erhalten. Zu spät leider. Seine Planung war akribisch. Für den Mittwoch hatte er den ganzen Tag blockiert, da stand nur „P. !!!“, Donnerstag und Freitag war „SR“ reserviert, aber quer durchgestrichen. Danach kamen wöchentliche Lehrveranstaltungen („GL“, „Sem“ und „HVR“) über das Semester, Prüfungstermine, und in den Sommerferien waren drei Kongressbesuche eingetragen.

„Sem“ war ohne Zweifel ein Seminar. Ich suchte auf der Homepage der Uni nach seinen Vorlesungen, er las Grundlagen der immersiven virtuellen Realität und Haptic Interfaces for Virtual Reality – das waren „GL“ und „HVR“ –, jeweils fünf und drei ECTS-Äquivalenzpunkte im Bologna-Schema, und er hielt noch drei andere Lehrveranstaltungen gemeinsam mit Kollegen. Die standen nicht in seinem Kalender: das waren Praktika, die Hauptvortragenden Doktoranden, die das für ein Butterbrot erledigten. Full professors erhielten für eine Vorlesung mehr als junge angehende Professoren (tenure track candidates in politisch korrektem Neusprech, was spätestens dann paradox wurde, wenn ein full professor und ein tenure track Anwärter eine Vorlesung gemeinsam hielten. Ich kannte das Spiel, leider aus der Sicht des Doktoranden).

Was mochte „P. !!!“ bedeuten? Etwas sehr Wichtiges, das war klar. Ich ging den Kalender durch, es gab davor eine einzige Eintragung mit Rufzeichen, „VR -> H. !!“. Ich musste nicht lange überlegen, H. war ich, und die Eintragung war vor gut einer Woche gewesen, ein Dienstag, der Tag, an dem er mir den Koffer übergeben hatte. P. war noch wichtiger als H. Und jeweils dienstags, das schien sein freier Tag zu sein, an dem ihn der Unibetrieb wenig oder nicht beschäftigte. Dann war da noch „SR“, das konnte viel bedeuten. Sr war das Zeichen für das Element Strontium, ein Metall mit schlechter Reputation, dervom radioaktiven Fallout herrührte. Es fand sich aber auch in Zahngel. Darum durfte es sich jedoch mit ziemlicher Sicherheit nicht handeln. In der Physik war Sr die Strouhalzahl, in der Religion eine Abkürzung für Ordensschwester. Das polizeiliche Autokennzeichen von Steyr? Keins davon vermutlich. Ein Computerspiel vielleicht? Das würde hinkommen … Ja, es gab ShadowRun, erinnerte ich mich. Ein historisches Computerspiel aus den 80er-Jahren, auf William Gibsons legendärer Cyberpunkt-Trilogie aufbauend. Die Verbindung zu VR war offensichtlich.

Walters Fotogalerie erwies sich als umfangreich. Drei Stunden brauchte ich, um alles durchzuscrollen – Urlaube in Frankreich und Portugal, jeweils Unmengen von Architektur: Romanik im Burgund, gotische Kirchen in der Île de France und der Picardie, manuelinische Gotik in Portugal, die Loire-Schlösser, Klöster (von der Landschaft her viele in Österreich oder Deutschland), Strände, Berge, Städte, einige Fotos seiner Freundin, die ich flüchtig kannte; eine attraktivejunge Frau. Nur wenige Fotos, auf denen sie beide zu sehenwaren. Im Großen und Ganzen die übliche Einschlafpräsentation für Freunde und Verwandte.

Eine flüchtige Suche in den restlichen Ordnern ergab ebenfalls nichts Brauchbares. Aber es gab eine große Datei Finanzen ohne File-Extension. Verschlüsselt natürlich. Ich versuchte ein paar naheliegende Sachen wie Walters Geburtsdatum, seinen Namen. Die Hälfte aller User nehmen solche Passwörter. Aber es war klar, dass ein Experte wie Walter nicht zu dieser Gruppe gehörte. „SR“ war also vorläufig der einzige Anhaltspunkt. Der Kommissar hatte erwähnt, dass Walter neben seiner Lehrtätigkeit an der Uni für eine Spielefirma gearbeitet hatte. War das ShadowRun? Ich blätterte weiter in seinem Kalender, und interessanterweise kam SR fünfmal im letzten Halbjahr vor. Ich konnte kein Regelmaß erkennen, aber es handelte sich jeweils um zwei Tage. Auswärtstermine vermutlich. Also konnte SR für einen auswärtigen Kontakt stehen. Ein Treffen mit der ShadowRun-Firma in zweitägiger Klausur, das kam hin. Ist RealGames mit ShadowRun verknüpft?

Aber zuerst musste ich gründlich untertauchen. In meinem schlichten Hotel? Dort war ich bestenfalls schwer erreichbar, aber nicht untergetaucht. Die Meldepflicht garantierte die Identität. Jeder Beherbergungsbetrieb arbeitete seit den Anschlägen in Wien und Salzburg wie die Immigrationsbehörde auf US-amerikanischen Flughäfen – Personalausweis, Foto, Fingerabdruck und Iris-Scan. Nur das Personal gab sich freundlicher. Das Kleingedruckte auf den Meldeformularen verlangte, Auskunft über Drogenkonsum, Geisteskrankheiten und Religion zu erteilen. Falsche Angaben wurden strafrechtlich geahndet. Die Identität jeder Person überprüften sie in realtime. Kurioser Begriff. Ich konnte ja nur mit mir selbst identisch sein und nicht mit einem geheimdienstlich archivierten Dossier, das mein Kommissar Skorzil genau kannte. Da stand nicht viel Interessantes drin, außer einer besoffenen Geschichte mit Sachschaden (das im Weltschmerz an die Wand geschleuderte Meißnerporzellan und die an einer Harnsäurevergiftung verendete Topfpalme in einer schattigen Ecke des Kasinos hatte ich ersetzt). Und das Verfahren wegen Missbrauchs Schutzbefohlener Minderjähriger. Natürlich war nichts dran, ich rühre doch eine Zwölfjährige nicht an. Aber die Mädchen fühlen sich aus irgendeinem Grund zu mir hingezogen. Und da hatte sich eine von ihnen eine Geschichte gezimmert, wie es hätte sein können, wenn ich ihre Signale nicht ignoriert hätte. Offiziell und aktenkundig galt Rache für schlechte Noten als Ursache, obwohl Walter überzeugt war, es wäre Nichtbeachtetwerden gewesen. Zum Glück verwickelte sie sich in Widersprüche, und zum noch größeren Glück war der beigezogene Psychologe nicht vom Zeitgeist vergiftet, sondern ein kritischer, aufmerksamer Mensch, dem das auffiel. Bei der übersensibilisierten öffentlichen Meinung zu sexuellem Missbrauch konnte man nicht auf die Wahrheitsfindung der Gerichte vertrauen. Kein Wunder nach den schrecklichen Verbrechen in Klöstern und Pflegeheimen.

Ich hatte keine Ahnung, wie man sich eine neue Identität zulegte. Vielleicht war das gar nicht nötig, ich musste nur eine Zeitlang aus Wien verschwinden. Urlaub weit weg? Würde finanziell nicht lange reichen. Kloster? War nicht meins. Arbeitsplatz wechseln? Nicht, wenn die Sozialversicherung davon wusste. Also Nachhilfe gegen Barzahlung, das ging immer, außerhalb Wiens, je weiter, desto besser. Deutschland schied aus wegen der Passkontrollen, vielleicht auch nicht Vorarlberg, ich wollte schon in Kernösterreich bleiben.

Die nächsten Tage las ich Stellenangebote in den Zeitungen und in den einschlägigen Foren.

Es gab einige Anfragen nach stundenweiser Nachhilfe. Ich kreuzte eine an, die regelmäßig Englischnachhilfe suchte, 2 Stunden/Woche, in einer kleinen Stadt im Waldviertel. Nicht gerade weit weg, aber abgeschieden – besser als gar nichts, dachte ich und vereinbarte ein Treffen für den nächsten Tag. Abends stieß ich dann auf ein neues Inserat, das perfekt passte: Dringend Privatlehrer für zweite Allgemeinbildende Höhere Schule in Mathematik und Physik gesucht. Dauer: ab sofort, über das gesamte Schuljahr, Ferienunterstützung nach Vereinbarung. Quartier vor Ort (Nähe Graz) wird zur Verfügung gestellt. Angenehmes Ambiente, Lehraufwand ca. 2–3 Stunden/Tag. Beste Honorierung.

Ich rief sofort an. Der Vater war am Telefon. Eine dunkle Stimme, sehr entschieden, er klang nach Manager oder Politiker. Ich bezog mich auf das Inserat, stellte mich kurz vor. Ja, ich möge morgen zu einem Gespräch kommen, es wäre dringend, die Tochter Nina sei ein intelligentes Kind, die anderen Fächer machten keine Probleme, früher war auch Mathe o.k., aber seit dem Sommersemester habe sie große Schwierigkeiten. Es läge wohl am Lehrer, manche legten leider keinen Wert auf Verständnis usw. usw. Man habe bis zu den Osterferien zugewartet, aber jetzt sei es Zeit zu handeln. Das nächste Dorf sei 10 Kilometer entfernt, es stünde mir natürlich frei, dort im Gasthaus zu logieren, aber einfacher wäre es, auf dem Anwesen zu bleiben. Sie würden mir ein Zimmer im Gästehaus zur Verfügung stellen, in dem ich wohnen könne. Ich fiel fast vom Sessel, als er mir mitteilte, welches Honorar er bereit war zu zahlen. Nein, das sei nicht mit einer Erfolgsgarantie junktimiert. Falls seine Tochter durchkomme, gebe es zusätzlich ein Erfolgshonorar.

Wir vereinbarten einen Besprechungstermin für den nächsten Tag.

Gästehaus – das klang nach was Großem. Anwesen hatte er es genannt. Nähe Graz, und doch weit von der Zivilisation, das wirkte perfekt. Da gab es keine Anmeldeformalitäten, niemand außer der Familie würde wissen, wo ich steckte. Bei diesem Honorar allerdings dürfte ich nicht der einzige Kandidat sein. Ich musste mich morgen gut verkaufen.

Gut Fuchshaym lag im Wald, 10 Kilometer von Hinterholz entfernt, einem Dorf, das seinem Namen Ehre machte. „Nähe Graz“, der schönen Hauptstadt der Steiermark, war ein Euphemismus. Die nächste Stadt war Leoben, bis Graz waren es fast 50 Kilometer, großenteils über schmale, gewundene Landstraßen. Ich brauchte fast vier Stunden von Wien. Das lag auch daran, dass ich zu einer Generation gehörte, die noch einen Führerschein erwerben musste, um ein Fahrzeug zu lenken. Und da die Versicherungsprämien für autonomes Fahren damals noch empfindlich höher lagen, hatte ich die billigere Variante gewählt und stets manuell gelenkt. Jetzt war es umgekehrt, die Autonomen zahlten weniger. Aber nach zehn Jahren Fahrpraxis wollte ich mich nicht mehr an die selbstfahrenden Autos gewöhnen. Die sterilen Fahrgastzellen mit den Monitoren erinnerten an VR-Spiele und verunsicherten mich trotz eindeutiger Statistiken, dass autonomes Fahren sicherer war, weil diese Autos einfach alles konnten.

Ich hatte vor der Abreise gegoogelt: Felix Fuchshaym – auf der Homepage der steirischen Jägerschaft Felix Graf (!) Fuchshaym – 41 Jahre alt, altes Adelsgeschlecht mit britischen Wurzeln. Die Genealogie-Webpage belehrte mich, dass sich die katholischen Viscounts of Foxham der Suprematsakte Heinrichs des Achten und dem Schicksal des Thomas Morus durch Flucht entzogen hatten. Karl dem Fünften kam das in den Wirren der Reformation gelegen, unter seinem Schutz etablierten sich die Fuchshayms als germanisierte Briten. Allerdings passte der steirische Graf nicht zum Viscount, aber in Österreich, wo sie sich niedergelassen hatten, werden bekanntlich auch zu Unrecht verliehene Titel niemals zurückgegeben.

Fuchshaym besaß Unmengen Wald, dessen Ertrag wohl auch für ein schönes Landgut sorgte. Was gar nicht zu meiner Vorstellung eines gräflichen Großgrundbesitzers passte, war sein Doktorat in Informatik, Promotion an der ETH Zürich. Die Homepage verriet mir, dass er als Konsulent für diverse Softwarefirmen aktiv war.

Ich hatte eine Villa erwartet, mit Holzknechten, Tieren im Hof (ich hatte mir Hühner und Kälber vorgestellt, keine Schweine, weiß der Teufel warum), einen Gutsherrn im Lodenjanker, die Frau Gemahlin im Dirndl. Aber die Villa war kein Landgut, sondern fast schon ein Schloss mit Nebengebäuden, mitten in den Fuchshaym’schen Wäldern. Der sogenannte Graf empfing mich in der Bibliothek. Ein kleiner Mann, sehnig, schlank, dunkles dichtes Haar, starke, fast zusammengewachsene Brauen über dunklen, prüfenden Augen. Er trug einen anthrazitgrauen Business-Anzug, graue Krawatte. Hier konnte man sich einen teuren Schneider leisten. Und seine Schuhe knarrten nach englischer Maßanfertigung.

Er begrüßte mich freundlich, aber mit keinem Wort zu viel. Ich machte beiläufig ein Kompliment über die wunderschöne Biedermeier-Täfelung, die möglicherweise aus der Werkstatt von Joseph Danhauser stammte. Er zog die Augenbrauen hoch und bestätigte meine Vermutung, ging aber nicht weiter auf mein Detailwissen ein. Ungewöhnlich kühl, der Kerl, dachte ich. Trotzdem, ein Punkt für mich. Ich hatte Lebenslauf und Uni-Abschlusszeugnis dabei. Er nahm alles dankend entgegen, ohne einen Blick darauf zuwerfen. Dann sah er mich erwartungsvoll an. Ich zögerte, ehe ich ihm einfach erzählte, dass ich nach zwei Jahren postdoktoraler Forschung in ein Gymnasium als Mathe- und Physiklehrer gewechselt war.

„Sie wissen ja: Die Erfolgsquoten für Forschungsanträge im Euroraum waren unter die fünf Prozent-Marke gefallen – ein Schleudersitz für angehende Jungwissenschaftler. Man konnte zwei Jahre als Projektassistent angestellt werden und dann auf ein neues Projekt hoffen. Nach sechs Jahren war es endgültig aus. Man musste gehen – Arbeitsrecht, Sie kennen das ja.“

Das war gut für die Fluktuation; an den Unis erzeugte sie eine Elite von jungen, dynamischen Professoren, die clever genug waren, rechtzeitig auf das Wunschpferd der Zukunft gesetzt zu haben, eine Menge Zusatzqualifikationen erworben hatten und den Jargon der Projekteinwerbung beherrschten. Ob das für die Forschung gut war, sei dahingestellt – für mich war es jedenfalls nicht gut genug. Ich hatte mich für die Lehre entschieden.

(Das war nur die halbe Wahrheit. Ich war nicht ehrgeizig genug; und meine Fähigkeit, Beziehungen zu Entscheidungsträgern zu pflegen, um mein Fortkommen in der Wissenschaft zu fördern, war ungefähr so ausgeprägt wie mein Interesse an Sport – nämlich gar nicht. Aber das sagte ich ihm nicht.)

Er blickte mich abschätzend an, während ich sprach, so wie man eine Ware – vielleicht Ochsen am Bauernmarkt, dachte ich – inspiziert, bevor man sie kauft.

„Warum wollen Sie sich verändern?“

Das hatte ich erwartet. Ich log, dass mein Vertrag an der Schule in Wien ausliefe und man mich nach Vorarlberg versetzen würde. Ich könne zwar ablehnen, sogar für eine Region optieren, aber das hieße lange Wartezeiten in Kauf zu nehmen und bis dahin als Springer in Wien zu arbeiten, was mir nun wirklich sehr ungelegen käme. Lieber würde ich mich eine Zeitlang karenzieren lassen – und deshalb sei ich extrem interessiert an seinem Angebot. Ich wollte aus ihm noch herauskitzeln, wie viele Bewerber es denn gab, um meine Chancen abschätzen zu können, wusste aber nicht, wie ich das angehen sollte, und ließ es bleiben. Er nahm eine Mappe, blätterte darin minutenlang herum, sichtlich konzentriert, legte meine Unterlagen dazu, dann klappte er die Mappe zu und schob sie zur Seite.

„Es gibt fünfzehn Bewerber für den Job. Ich brauche nicht lange für Personalentscheidungen, das ist in meinem Beruf notwendig. Ich befasse mich mit Automatisierungs-Software. Demnächst werde ich eine intelligente Haussteuerung hier einbauen lassen. Egal. Ich denke, Sie sind der Richtige für meine Tochter. Wenn Sie wollen, können Sie nächste Woche beginnen.“ Damit stand er auf und erwartete das offenbar auch von mir.

Pff … Das kam überlichtschnell. Der Mann war nicht zimperlich. Ich suchte vor Überraschung nach Worten, stammelte irgendetwas von Großzügigkeit und nicht bereuen. Er bugsierte mich regelrecht aus der Bibliothek, weil ich noch etwas verdattert war.

„Übrigens, wenn Sie einverstanden sind, können wir das Finanzielle bar erledigen, das würde den Ablauf vereinfachen“, sagte er, als wir sein Arbeitszimmer verließen.

Das ersparte mir die Peinlichkeit, es selbst vorzuschlagen. „Kein Problem für mich.“

„Ich mache Sie jetzt mit meiner Tochter bekannt.“

Wir passierten einen Korridor, der mit Ahnenbildern ausstaffiert war wie in einem richtigen Schloss. Sein Gang war selbstsicher und zielstrebig, er lief stets zwei Schritte voraus, obwohl der Korridor breit genug gewesen wäre, um nebeneinander zu gehen und Konversation zu betreiben. Wir kamen in eine Art Salon. Auch hier Biedermeier, eine Sitzgruppe, Anrichte, Regale mit Büchern, ein Schachtisch mit Thonetsesseln, bestens gepflegt, Teppiche mit Jagdmotiven, ein offener Kamin. An den Wänden zwei Gemälde im Stil Kandinskis, geometrisch, farbenreich, ein wohltuender Kontrast zur Einrichtung. Kein einziges Hirschgeweih. Meine Wertschätzung stieg.

„Das ist meine Frau Charlotte“, stellte er mir eine attraktive Brünette vor, die sich bei diesen Worten vom Kanapee erhob. „Und das ist Dr. Goldberg. Er wird nächste Woche bei uns beginnen“.

Ihr Händedruck war fest und sicher. Sehr blaue Augen musterten mich. Ich schätzte sie zwischen 35 und 40. Sie trug ein dunkelgraues Kostüm über einer hellblauen Bluse, deren obere Knöpfe offenstanden. Mittellange doppelt gelegte Perlenkette, transparent lackierte Fingernägel, schwarze Pumps – Klasse.

„Und das ist Nina. Na komm schon, begrüße deinen Retter!“

Es war kein Ersuchen, sondern ein Befehl, und zwar einer, der keinen Aufschub duldete. Hier bestimmte der Feldmarschall. Nina stand langsam auf, in irgendwelche Schulhefte vertieft, so als ob sie zu beschäftigt war und gar nicht mitbekommen hatte, dass es mich gab. Hohe Stirn, kurze aufgestellte Nase, ein eher kleiner Mund mit vollen Lippen. Leicht gewelltes Blondhaar war zu einem Pferdeschwanz straff zusammengebunden. Zwei einsame Strähnen waren der Reglementierung entkommen; sie zausten kleine ungeschmückte Ohren, auf denen eine Brille mit grünem Rahmen und strassbesetzten Bügeln saß. Ein Kindergesicht in Metamorphose. Oft ahnte man bei Mädchen in diesem Alter, was daraus einmal werden würde. In diesem Fall keine Schönheit. Nina war großgewachsen für ihr Alter, fast hager, die dünnen Beine ragten unter einer dunkelblauen Internatsuniform hervor, die wohl für ihre Kleidergröße knielang geplant war, aber bei Nina darüber endete. Mit den langen knochigen Beinen und den großen Füßen sah sie irgendwie unfertig aus. Das Kind wirkte mürrisch, was ich ihm nicht übelnehmen konnte.

„Hallo Nina.“

Sie hatte die Hände am Rücken, wackelte ein wenig aus der Hüfte, als überlege sie, ob sie diese blöde Hand von diesem blöden Pauker ergreifen sollte, aber es blieb ihr ja keine Wahl. Sie grüßte mit eingelerntem Lächeln. Dabei entblößte sie eine Lücke zwischen den Schneidezähnen.

„Wir werden das hinbringen, versprochen. Und es wird gar nicht wehtun“, versuchte ich mit einem kleinen Scherz ihre Verunsicherung zu entschärfen. Aber es ging total daneben. Ich spürte, wie sich ihre Hand verkrampfte, sie zog sie sofort zurück. Über ihrer Nasenwurzel entstand eine senkrechte Falte. Vorsicht! dachte ich. Das wird nicht einfach sein.

Fuchshaym war nichts aufgefallen.

„Sie werden im Gästehaus wohnen. Hassina kümmert sich darum. Hat sie das Zimmer gerichtet?“ Dies zu seiner Frau.

„Mir hat sie nichts gesagt.“

„Unzuverlässig. Wenn das so weitergeht, solltest du dir eine andere suchen“, sagte er genervt, drehte sich um und ging grußlos.

Seine Frau setzte zu einer unfreundlichen Antwort an, wie ihr scharfes Atemholen verriet. Ihr Blick streifte mich flüchtig, dann presste sie die Lippen zusammen, strich eine unsichtbare Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte sich mir lächelnd zu.

Du hast dich recht gut unter Kontrolle, dachte ich.

Nina war froh, sich wieder auf ihre Hefte konzentrieren zu können, während Charlotte Fuchshaym mich zum Gästehaus führte. Ich erfuhr, dass die Tochter in Raggau in die nahegelegene Klosterschule ging. Nähe wurde offenbar in der Wildnis anders definiert als im urbanen Bereich; etwa 40 Autominuten von hier, was mit Chauffeur kein Problem bedeutete. Wer hat, der hat.

Solarleuchten säumten den Kiesweg, der vom Schloss durch einen großzügig angelegten Park mit hohen Buchen, Rasen, Blumenbeeten und einem Brunnen zum Gästehaus führte. Die Gräfin informierte mich, dass es sechs Apartments und einen Aufenthaltsraum gebe. Sie würden selten Gäste empfangen, ich sei also gewissermaßen Alleinmieter und könne über den Aufenthaltsraum nach Belieben verfügen. Mein Apartment im Gästehaus befand sich im Obergeschoss. Im Stiegenhaus kam uns eine Bedienstete mit Besen und Putzzeug entgegen. Sie grüßte kurz.

„Das ist Hassina. Sie ist unsere Perle“, stellte die Gräfin vor. „Hassina, Dr. Goldberg wird eine Weile bei uns wohnen.“

„Ich habe gerade das Zimmer fertiggemacht“, sagte Hassina mit deutlichem Akzent. Sie stammte vermutlich aus dem Nahen Osten, war mit einer der letzten Flüchtlingswellen vor der Schließung der Grenzen gekommen. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Ihr Händedruck war kurz und fest. Sie hatte kurzes dunkles Haar, ein kantiges, doch attraktives Gesicht mit dunklen Augen unter dichten Brauen.

„Wenn Sie Sachen brauchen, nur sagen. Ich bin oft in der Küche, oder Sie rufen an, ich wohne im Ostflügel.“

Ich hatte Arbeits- und Schlafzimmer, eine Kochnische, Bad und WC. Die Einrichtung nicht ganz neu, etwas Nostalgie hing im Raum, ein Geruch nach Landhausstil und vorigem Jahrhundert. Ein großer Schreibtisch, im Schlafzimmer ein Doppelbett, Kästen. Die Fenster gingen in den Hof, man überblickte den Kiesweg und die Treppe zum Hinterausgang des Schlosses. Es war Anfang April. Primeln, gelber und blauer Krokus, Frühlingsknotenblumen leuchteten büschelweise auf den Wiesen. Auch die Bäume reckten zarte Knospen in den Frühling. In dem Brunnen in der Mitte des Hofes plätscherte ein steter Wasserstrahl über künstliche Felsen. Die Japanische Kirsche daneben war in voller Blüte. Ich war zufrieden, oder besser: sehr zufrieden.

Das Osterwochenende nutzte ich zum Recherchieren und Kofferpacken. Der Kalender zeigte Sonntag, den ersten April. Ich musste Kleidung, Lesestoff und Unterrichtsbücher aus meiner Wohnung holen, die ich seit Tagen nicht betreten hatte. Ich war überzeugt, dass in der Zwischenzeit bei mir eingebrochen worden war, aber das Schloß zeigte sich unversehrt, es war alles so chaotisch wie immer, nichts fehlte. Ich überlegte, Walters Koffer mitzunehmen, befand aber dann, dass er in seinem Schließfach besser aufgehoben war. Jetzt musste ich mich auf meinen neuen Job konzentrieren. Der Koffer kam später dran. Ich kaufte im Velvetklub ein Kartenhandy; dort war so etwas ohne Registrierung und biometrische Datenerfassung für einen stolzen Aufpreis zu haben. Den Galileo-Tracker im Auto deaktivierte ich, das war bei dem Methusalem noch möglich. Meinen Fitness-Tracker ließ ich in der Wohnung. Selbstverständlich schaltete ich die Haustechnik nicht ab – eine praktische App erlaubte es, Beleuchtung, Heizung, Kühlschrank und Geschirrspüler so zu programmieren, als wäre das Apartment bewohnt. Am Dienstag nach Ostern zog ich um.

Den AHS-Stoff der zweiten Schulstufe hatte ich im Kopf (Flächenberechnung, Volumen einfacher Körper, Proportionalität, Brüche, Prozente, lineare Gleichungen). Daher nützte ich den Nachmittag bis Ninas Ankunft, um die Website von RealGames zu studieren, selbstverständlich über ein anonymes Servernetz.

Meine frühere Suche nach ShadowRun hatte Interessantes ergeben. Entwickelt wurde es in den späten Achtzigerjahren von einer FASA Corporation nach der Vorlage von William Gibsons kultiger Cyberpunk-Trilogie. Es ging um Firmenspionage und Auftragsmorde in einer dystopischen Welt, die von Großkonzernen regiert und skrupellos zerstört wurde. Ein damals gängiger Topos, der die unterschwelligen Ängste vor Naturverlust abbildete und zu einer bis heute anhaltenden Technikfeindlichkeit geführt hatte. Die FASA Corporation hatte das Spiel nach zwölf Jahren verkauft, danach dümpelte es bei verschiedenen Lizenznehmern dahin, bis vor einigen Jahren ShadowRun Returns von Harebrained Schemes neu auf den Markt gebracht wurde. Und hier begann es interessant zu werden. Das neue Spiel hatte wenig mit den Vorversionen zu tun. Der Spieler bekommt eine Nachricht von einem virtuellen Freund, nachdem dieser ermordet wurde. Die Aufgabe besteht natürlich darin, den Mörder zu finden. Das war so verblüffend nahe am wirklichen Geschehen um Walter und mich, dass ich mich eines déjà-vu-Gefühls nicht erwehren konnte. War es ein Signal? Für mich gedacht, aber von wem? Gab es irgendwo da draußen einen allwissenden Game-Master, der das alles steuerte? Eine gigantische Verschwörung?

Blanker Unfug, natürlich. Meine Fantasie ging wieder einmal mit mir durch. Ich hatte vergeblich versucht, einen Bezug von Harebrained Schemes mit RealGames zu finden, aber das sagte nicht viel, denn in dieser Branche waren die Querbeziehungen verwickelt und undurchschaubar.

RealGames gab es viele. Nach kurzer Suche stieß ich auf einen Hersteller aus Korea mit einer Palette von Fantasy- und Strategiespielen. Einige Kurzvideos gaben einen Eindruck von der hohen Qualität der Animation, Kämpfe gegen Aliens mit erschreckenden Waffen, dann Mittelalterliches – ein Klon des antiquierten World of Warcraft. Sie boten auch VR-Brillen an, und ein haptic interface war abgebildet, ein waagrechtes Gestell mit einer Art Fahrradlenker und gepolsterten Stützen für Schenkel und Unterarme. Unter den Stützen konnte man Servomotoren vermuten. Der Spieler lag auf dem Ding wie in einem Drachenflieger und trug eine VR-Brille. Darunter wurden Wunderdinge versprochen. Nun ja, ein abgespeckter Flugsimulator mit Garantie auf Cybersickness. Das war nicht so sensationell neu.

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