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Hell Fever

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Ich wich unwillkürlich zurück. Der Helm brummte, ich spürte ihn vibrieren, Infraschall, 20 Hz vielleicht. Ein zartes Kribbeln lief meine Wirbelsäule hinunter, wie bei einer guten Kopfmassage, aber das war sicher Einbildung. Ich spürte einen Lufthauch auf meinem Gesicht, ein flüchtiges Huschen am Hals, der Helm bewegte sich, es war, als ob die Sektoren des Buckmister*-Domes pulsierten; vielleicht hatte das den Lufthauch erzeugt. Dann liefen Ameisen meine Arme entlang, von der Schulter zu den Fingerspitzen. Der Helm vibrierte jetzt stärker, eine heiße Welle wie nach einem Adrenalinstoß überrollte mich, und ich hatte das Gefühl, meine Beine trügen mich wider Willen in Richtung des Tales, das da verlockend vor mir wartete. Gleichzeitig wusste ich, dass ich vor dem Computer saß und mich nicht rührte. Dann klickte es ein paarmal wie in einer MR-Röhre, ich hatte plötzlich einen metallischen Geschmack auf der Zunge, es roch wie in einer Maschinenhalle, dann war der Spuk vorbei. Unter der Höllenschrift erschien ein Text:

To enter Hell, type password.

Die VR-Brille zeigte das Keyboard, meine Finger, die ich versuchsweise über die Tasten führte, die gesamte Umgebung ganz real. Hier war die Reise zu Ende. Ich schaltete den Rechner aus, nahm die erblindete Brille, die Ohrhörer und den Helm ab, der nun wieder schlaff war, und verstaute alles im Koffer. Dabei fiel mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier auf, das ich zuerst für eine der dämlichen Gebrauchsanweisungen für USB-Kabel oder -Sticks gehalten hatte. Ich entfaltete es. Da stand Primus inter pares SR 1860 in Walters Handschrift. So hatte er sich gesehen – Walter, der Erste, und sei es unter Gleichen.

Ich war enttäuscht und verärgert. Alles war so unklar, so pseudomysteriös wie in einem B-Movie, so lächerlich kindisch. Seit Jahren hatte ich kein Computerspiel mehr angerührt, bis auf einige Versuche mit VR-Sex. Ich beschloss, erst am nächsten Tag aufs Schloss zurückzukehren und mich in der Stadt von diesem Blödsinn abzulenken. Den Koffer verwahrte ich wieder im Schließfach, dann trödelte ich in der Fußgängerzone herum, schaute mir ziellos einige Boutiquen mit teurer Markenware an, fuhr aus Langeweile mit der U-Bahn herum und fand mich plötzlich jenseits der Donau. Als ich in der Dämmerung durch die dunklen Gassen schlenderte, fühlte ich mich wohler, ohne zu wissen, warum. Der Zufall führte mich zu dem vertrauten Haustor mit dem schwarzen Klub-Logo. Ich hatte der Versuchung lange widerstanden. Zu lange.

Am nächsten Morgen fühlte ich mich viel besser, der Besuch im Velvet hatte geholfen. In meiner Hochstimmung beschloss ich, den Koffer mitzunehmen, da ich offensichtlich nicht verfolgt wurde. Nach der Ankunft in Gut Fuchshaym öffnete ich sogleich Walters Fotoalbum auf der Festplatte, scrollte den Folder mit den Kathedralen und Klöstern durch. Ein heilloses Durcheinander, viel französische Gotik von der Île de France und der Picardie, Saint Denis, Amiens, viele Klöster, die meisten waren mir unbekannt, auch Fontenay, eine Zisterzienserabtei im Burgund. Stift Lilienfeld erkannte ich gleichfalls wieder, alles aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen, Totale, Zoom auf Türme und Portale, Statuen in der starren, unerschütterlichen Haltung der Romanik. Dann etwas, das der Gurker Dom sein konnte, zumindest sah es so aus, so gut kannte ich die Basilika nicht.

Aber dann: ein imposanter Sakralbau mit ungewöhnlich langer Fassade, in dezentem Gelb gehalten, wie es in der Steiermark oft für Schlösser und Kirchen verwendet wird. Die Kirche hatte einen dunkelgrünen barocken Zwiebelturm, und auf einer Anhöhe hinter dem Bauwerk lugte ein romanischer Turm aus dichtem Wald hervor wie ein Wächter für die Ewigkeit.

Das Kloster Raggau. Spontan erinnerte ich mich an ein anderes Bild, und nun wurde mir klar, was mein Unbewusstes mir seit einiger Zeit sagen wollte: Ich war auf dem Weg zu Walter … betrat sein Labor, und da war in einer Ecke der Beamer, der ein Foto an die Studiowand projizierte. Es war genau dieses Foto, das Kloster Raggau. Und damit war auch ein anderes Rätsel gelöst: Das Kürzel in Walters Kalender hatte nichts mit ShadowRun zu tun. “SR“ meinte die Schule Raggau.

Es wurde immer merkwürdiger. Walter ein Päderast mit Kontakt zum Kloster, wo Nina das Bundesgymnasium besuchte, und ein imaginierter Pater Pius, der sich an Mädchen verging. Wie passte das zusammen? Ich klickte mich durch alle Fotos jenes Tages, vor gut einem Jahr aufgenommen. Fassade, Innenhof, die Kirche, von außen unscheinbar, aber innen imposante vierjochige Gewölbe, mit trompe l’oeil-Fresken reich verziert, leider ein hässlicher Barockaltar in der schmalen Apsis. Dann Fotos einer romanischen Kapelle mit schlichtem Turm und Walmdach, unzweifelhaft jener Turm, der von einer Anhöhe herab über das Kloster wachte. Das Gebäude war von allen Seiten aufgenommen, auch von innen. Auf dem romanischen Altarstein saß ein grässlicher barocker Tabernakel, dahinter ein schlechtes Altarbild, einige Klappstühle an den Seiten, ein sehr alter abgetretener Steinboden. Es waren mindestens dreißig Fotos dieser Kapelle. Ich fand rasch im Web, dass es sich um die Ölbergkapelle handelte und dass es ein beliebter Ort für Geocaching war. Ein Hinweis?

Meine Suche hatte lange gedauert, es war fast Mittag. Ein Lokalaugenschein schien angebracht, und ich hatte Zeit. Aber es musste spontan aussehen. Ich machte mich also fertig, ging ins Hauptgebäude und ersuchte Hassina, dem Chauffeur auszurichten, dass ich nach Graz müsste und Nina auf dem Rückweg von der Schule abholen würde.

Die Kapelle war über einen Forstweg erreichbar. Ich parkte also am Fuß der Anhöhe und nahm den steilen Weg, der durch dichten Mischwald in schmalen Serpentinen hochführte. Gelegentlich hatte ich in halber Höhe durch das Astwerk einen Blick auf die Rückseite der Abtei, dann verschwand sie wieder im Wald. Der Aufstieg dauerte etwa 15 Minuten. Die Kapelle stand auf einem Plateau, daneben ein zweiter kleiner Turm. Alles war von hohen Fichten, Lärchen und Eichen umzingelt. Die Sonne stand hoch, der Himmel war verschleiert, ab und zu berührte mich ein Lufthauch, aber es war ganz still, kein Rauschen, kein Vogelgezwitscher. Ein Ort der Besinnung. Oder des Schweigens.

Ich fand rasch den Mauerstein, der auf der Geocaching-Seite beschrieben war, und tastete in der daneben über die Jahrhunderte von Regen und Frost ausgehöhlten Nische nach dem angeblich dort versteckten Hinweis, aber dawar nichts. Natürlich, Walter würde kaum auf einen von vielen Vaganten und Abenteurern frequentierten Platz als Versteck zurückgreifen. Die vielen Fotos waren jedoch kein Zufall. Sie bedeuteten etwas, vielleicht angefertigt für den Fall, dass mein Freund keine Gelegenheit mehr hatte, der Nachwelt etwas Wichtiges mitzuteilen.

Die Tür zur Kapelle war verschlossen. Zwei vergitterte Fensterchen erlaubten den Blick auf den schlichten Innenraum, wie auf den Fotos dokumentiert. An der Hinterseite in einer Mauernische eine Marmortafel mit lateinischer Inschrift:

TRISTIS EST ANIMA MEA USQUE AD MORTEM

Betrübt ist meine Seele bis in den Tod, so weit reichte mein Latein. Ein Bibelzitat vermutlich. Interessant war das Datum, an dem die Gedenktafel angebracht worden war – in der linken unteren Ecke stand sehr klein: 1860 … Der Zettel im Koffer mit der Jahreszahl: SR 1860 … Schule Raggau 1860. War hier das Passwort versteckt?

Ich fotografierte die Tafel, schaute mich noch einmal um, fand aber nichts Bemerkenswertes außer ältere Reifenspuren auf dem Vorplatz. Da ich Zeit hatte, wollte ich die Umgebung erkunden, das Gelände jedoch war steil und unzugänglich, also stieg ich langsam ab, fuhr ein Stück und parkte vor dem Kloster auf einem der wenigen freien Plätze zwischen wartenden Müttern und Chauffeuren. Um fünf nach zwei spülte das Klostertor eine Horde Halbwüchsiger ans Tageslicht. Nina erschien am Ende, mit einer Freundin plaudernd und kichernd. Die Kinder verschwanden flugs in den Autos, nur Nina stand da und sah sich fragend um. Ich winkte ihr. Sie lief auf mich zu und sah dabei lustig aus, wie eine Mischung aus Storch und Donald Duck mit ihren großen tollpatschigen Füßen. Den Schulrucksack warf sie in den Fond und fläzte sich dann auf den Beifahrersitz.

„Limousinenservice“, sagte ich beiläufig.

„Ur hiffy“, strahlte sie.

Die Rückfahrt verlief einsilbig. In Hinterholz musste ich vor dem Greißler stehenbleiben, sie kam mit einem grellbunten Becher raus, setzte einen Verschwörerblick auf und schlürfte das grüne Zeug aus einem Trinkhalm.

„Was ist denn das?“, wollte ich wissen.

„Innocent. Vanille-Rum-Bananensmoothie.“

„Oha, die junge Frau frönt dem Alkohol?“

„Naja, da ist fast nichts drin. Woll’n Sie kosten?“

„Um Gotteswillen, nein!“

Sie nuckelte weiter, druckste herum. „Also, Mutter muss das nicht wissen. Geht das?“

„Was meinst du? Ich hab’ nichts gesehen.“

Wir fuhren schweigend weiter. Sie hatte wohl ein stillschweigendes Abkommen mit Jerome.

„Spül dir den Mund aus, bevor du jemanden küsst.“

Sie kicherte. „Das riecht harmlos!“ Sie beugte sich zu mir, ich neigte den Kopf, und sie hauchte mich an. Ein zarter Duft nach Mandeln liebkoste mich.

An diesem Nachmittag ließ ich es laufen. Ich fragte nach dem Stoff, stellte ein paar leichte Fragen. Sie war recht gut informiert und entspannt. Überhaupt lief nach ihrem infantilerotischen Ausbruch vor zwei Wochen alles zufriedenstellend. Motivation, Ehrgeiz, Auffassung, Gedächtnis – alles normal. Sie hatte ein fröhliches Naturell, das ihr über Tiefpunkte hinweghalf. Jedenfalls war sie keine Durchfallkandidatin. Eigentlich hätten die Fuchshayms mich nicht gebraucht, aber man kennt ja den Ehrgeiz der Eltern.

Über die Wochen hatte sich ein Vertrauensverhältnis zwischen uns entwickelt. Sie erzählte nun öfter aus eigenen Stücken. Belanglosigkeiten – peinliche Lehrer und schlecht gekleidete Lehrerinnen. Intrigen zwischen den Mädchen, Mikro-Aggressionen, Gemeinheiten, heimliche vermeintliche Liebschaften … Nina zögerte auch nicht, beiläufig sexuelle Konnotationen zu verwenden – Burschen aus den höheren Klassen hätten oft einen Steifen, worüber sich die Mädchen lustig machten, und würden mit der Länge ihres Dings protzen. Ich ging scherzhaft darauf ein, brachte das Beispiel der großen Autos … Es war merkwürdig, einerseits schätzte sie wohl, dass ich ihren Ausrutscher bagatellisiert hatte und nicht mehr davon sprach. Andererseits war ein erotischer Unterton nicht zu überhören. Ich musste aufpassen auf dem schmalen Grat zwischen Scherz und Eros.

Ich beendete die Nachhilfe früher, setzte mich an den Rechner und startete das Entschlüsselungsprogramm. Nachdem ich begriffen hatte, dass Walters Kürzel in seinem Kalender nichts mit ShadowRun zu tun hatten, fügte sich ein kleiner Puzzlestein ins Gesamtbild. Walter war oft im Kloster Raggau gewesen, jeweils zwei Tage, mindestens einmal im Monat. Im Zusammenhang mit dem Akrostichon und der seltsamen Geschichte vom Kinderschänder Pater Pius war die Schlussfolgerung keineswegs erfreulich. Oder war Walter das Opfer einer Verschwörung geworden? Ich wollte es glauben, obwohl in meinem Hinterkopf Alarmsignale schrillten. Fast schien es, als hätte Walter posthum dafür gesorgt, dass ich einen Job bei den Fuchshayms bekommen hatte, in der Nähe von Raggau. Müßig, darüber nachzudenken, ich wusste zuwenig. Sicher war, dass alles mit Hell Fever zusammenhing, verschlüsselte Dateien, ein revolutionär innovativer Datenhelm … Also musste ich erst einmal in diese virtuelle Welt eindringen, um mehr zu erfahren. Und mit dieser – sollte ich sagen berufsmäßigen – Beziehung Walters zum Kloster Raggau waren die Fotos der Ölbergkapelle plötzlich mehr geworden als Amateurfotos eines an Romanik interessierten Dilettanten. Nach dem Hinweis auf die Jahreszahl 1860 war ich sicher, dass diese Tafelinschrift eine Nachricht enthielt. Ich versuchte mich in Walters Denken einzufühlen. Er war mathematisch geschult, mochte Zahlen. Was hatte eine lateinische Inschrift mit Zahlen zu tun?

TRISTIS EST ANIMA MEA USQUE AD MORTEM

Das war leicht: Die römischen Zahlensymbole V, L, D, M … Ich bastelte mir daraus ein mögliches Passwort.

IIIMMDMM

Das System antwortete:

Incorrect password

Natürlich. Es sollten ja Zahlen sein.

Die moderne Übersetzung lautete 1111000100050010001000.

Incorrect password

Eigentlich klar: Nur drei Symbole machten die Entschlüsselung zu einfach. Vielleicht war das Produkt gemeint? 1 × 1 × 1 … das ergab keinen Sinn.

Die Summe? 1+1+1+1000+1000+500+1000+1000= 4503. Zu kurz.

Was war auf dem Zettel gestanden? Primus inter pares – Walter, der Erste unter Gleichen. Eingebildet war er immer gewesen, mein Freund. Nun war ich der Primus … Primzahlen!

Eilig ein Programm geöffnet, die Ziffern eingetippt. Die Primzahlzerlegung ergab

string = 1111000100050010001000; FactorInteger[string]

Primes = {{2,3}, {3,1}, {5,3}, {13,1}, {28487182052564359,1}}

Das bedeutete, die Primfaktoren waren dreimal die Zwei, einmal die Drei, dreimal die Fünf und so weiter. Primzahlen waren das Werkzeug der Kryptographie. Also nahm ich versuchsweise die größte in der Liste …

Incorrect password

Das war nicht gut. Irgendetwas hatte ich übersehen. Las mir den lateinischen Text mehrmals durch, kontrollierte alle Ziffern. Und ja! – man hatte mir ein V für ein U vorgemacht, die Lateiner kannten nur das V. Mein String lautete also korrekt:

IIIMMVDMM

Das Programm lieferte als größte Primzahl diesmal 2976158853616397. Und siehe …

G:/ Entschlüsselung läuft …

Manchmal hilft humanistische Bildung.

Eine virtuelle Partition wurde erzeugt. Ich klickte mich rein, und dawaren massenhaft Folder: E-Mail, Finanz, Hell, Journal, Kontakte, Video, VR …

Walter hatte an mich geglaubt. Wir dachten ähnlich, das hatte mir den Zugang ermöglicht. Aber wo beginnen? Ich klickte VR an, und da gab es wieder Subfolder Helm, Haptik, Tuning, Skripte … und ein Textfile Readme.txt. Ich öffnete es, und da stand

Master Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate
#2 Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege
#3 Wer bist du, der auf solchen Sitz hinauf will?
#4 Et humanum genus potissime liberum optime se habet
#5

Die erste Zeile war ein Zitat aus Dantes Göttlicher Komödie, so weit reichten meine Kenntnisse der Weltliteratur. Nummer 2 vermutlich auch. Die beiden anderen sagten mir nichts. Warum war Nummer 5 leer? Das war nicht die Millionenshow, sondern der Abstieg ins Dante’sche Inferno.

Hell Fever

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